Schreibkraft
Heiner Frost

Das Leben der anderen

Es gibt gute Nachrichten. Die Zahl der Toten auf deutschen Straßen ist stark rückläufig. Im August wurden laut Mitteilung des statistischen Bundesamtes den sechsten Monat in Folge weniger Getötete und Verletzte als im Vorjahr gezählt. Statistik. Die Statistik ist relativ. Im Kreis Kleve sehen die Zahlen anders aus. Bereits im August waren mehr Verkehrstote zu beklagen als im gesamten Vorjahr. Jetzt, Ende Oktober, sind es bereits 29  Menschenleben: Ausgelöscht. Verschwunden von der Landkarte des Greifbaren.29 Menschen, die nicht zurückkommen. Nie mehr.

Zu Staub zerfallen

„Tod hat immer etwas mit Warten zu tun“, sagt Karl Meurs. Er ist einer der Polizisten, die im Rahmen des Opferschutzes Nachrichten von schweren oder tödlichen Unfällen überbringen. Er und seine Kollegen sind  Zeugen, wenn Leben auseinanderbrechen, wenn sich Fassungs- und Ratlosigkeit ausbreiten,wenn Lebensentwürfe, Träume und manchmal auch ganze Existenzen zu Staub zerfallen. „Es fängt fast immer damit an, dass jemand wartet“, sagt
Meurs. Es gibt Verluste, deren Dimension weder fassbar noch erträglich ist.

Gedankenexperiment

Wenn Meurs über Verkehrstote spricht und Dimensionen verdeutlichen möchte, spricht er über das Warten – über die Zurückbleibenden. „Viele von ihnen warten ein Leben lang.“ Das meurs’sche Gedankenexperiment beginnt mit der Vorstellung: „Da kommt jemand nicht nach Hause, mit dem man morgens noch zusammen am Frühstückstisch gesessen hat.“ Kaum jemand will das zu Ende denken.

Das Leben der Anderen

Der Straßenverkehr von heute ist ein äußerst komplexes System – komplex, was die technischen Komponenten angeht. Noch komplexer, wenn es um Emotionen geht. Wer sich auf die Straße begibt,begibt sich in die Obhut der
anderen. Wer heil ankommen möchte – es mag banal klingen – muss dafür sorgen, dass die anderen heil ankommen. „Wenn ich möchte, dass die anderen sicher ankommen, bin ich selbst einer von ihnen.Wenn ich nur möchte, dass ich heil ankomme, schließe ich damit die anderen aus“, sagt Karl Meurs.

Vorgedacht

Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung ist die nach den Regeln der Vernunft bestmögliche Beschreibung eines optimalen Zustandes: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird.“ „Da ist doch eigentlich alles gesagt“, ist Karl Meurs sicher. Sicher ist auch, dass niemals alle denkbaren Unfälle vermieden werden können. „Aber mit Rücksichtnahme wäre schon der beste Anfang gemacht.“ Natürlich gibt es Gesetze, Regeln, Vorschriften. Aber was nützt ein Regelwerk, wenn es an Einsicht fehlt? Die Einsicht: Wer heil ankommen möchte, muss dafür sorgen, dass die
anderen heil ankommen. Die Schicksale der Toten sind die Schicksale der Überlebenden: Angehörige, Freunde, Bekannte bleiben zurück. Ohne Gelegenheit zum Abschied – konfrontiert mit dem Unfassbaren.

Im anderen Raum

„Die Beschreibung eines Unfalls (seine Rekonstruktion und Herleitung) öffnet die unterschiedlichsten Räume“, erklärt Karl Meurs. Häufig stellt sich heraus, dass im Zusammenhang mit dem Tod jeder nach dem Raum sucht,
in dem er selbst sich nicht befindet. „Mir wäre das nicht passiert“, heißt es dann, oder: „Ich fahre doch nicht so. Man stellt sich das vor, als wäre man weit weg von allem – würde das Geschehen aus der Luft betrachten. Kaum einer hält die Nähe – das Konkrete einer solchen Vorstellung aus.“

Sensibel für die Schwachen

Entscheidend ist für einen wie Karl Meurs, dass die Menschen sensibilisiert werden. „Straßenverkehr ist kein Ausleseverfahren, bei dem sich die Starken durchsetzen – es muss darum gehen, sensibel für die Schwachen zu
sein.“ Straßenverkehr ist ein trotz allen Regeln „chaotisches“ Zusammenspiel von vielen Beteiligten. Wieder das Gedankenexperiment: Der Mensch, mit dem man morgens noch zusammen am Frühstückstisch gesessen hat, kommt abends nicht mehr zurück – kommt nie mehr zurück. Für die Angehörigen hilft  es durch den Schmerz, sich nicht sagen zu müssen: Da ist jemand tot, weil ein anderer es eilig hatte. Trotzdem bleibt immer eine Restgefahr: Man kann alles richtig machen und sich trotzdem in einer Tragödie wiederfinden.

Das Glas

Viele der Geschichten, die Karl Meurs erzählen kann, handeln von Menschen, die doch eigentlich alles richtig gemacht haben. „Das ist wie mit einem Glas, das in der Mitte eines kleinen Tisches steht. Neben dem Glas ein Schild mit der Aufschrift: Bitte nicht verrücken. Dann kommt der Erste und verschiebt das Glas – ein paar Zentimeter nur. Es ist ja genügend Platz, und eigentlich ist es doch Unsinn, das Glas in der Mitte zu lassen. Die
Vernunft sagt: Es kann nichts passieren. So wandert das Glas immer weiter – der Tischkante entgegen. Jeder schiebt ein Stück. Wird schon gut gehen. Der Tisch ist doch groß genug. Irgendwann fällt es dann doch herunter, weil jemand den einen Millimeter Bewegung gebracht hat, der zum Umkippen führte. Da greift es zu kurz, dem letzten die alleinige Schuld zuzuweisen“, sagt Meurs.

Paragraph 1

Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist für eine Beurteilung nicht immer das beste Koordinatensystem. Es geht um die Annäherung an einen vorgedachten Idealfall. „Am Ende lande ich immer wieder beim Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung. Ich lande da ohne Zeigefinger, ohne Moralin. Es geht um einen bestmöglichen Zustand.
Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Nur das kann der Maßstab
sein.“