Schreibkraft
Heiner Frost

Das Herz des Sammlers

Korkenzieher

Von Kranenburg nach Nimwegen sind es zehn Minuten. Mit dem Auto.Keine Entfernung. Sollte man meinen. Aber es ist ein weiter Weg ins Herz eines Sammlers. Wenn du über einen Künstler schreibst, schreibst du über seine Kunst. Wenn du über einen Sammler schreibst, beschreibst du nicht unbedingt eine Sammlung. Du wirst zum Korkenzieher. Es gibt ein Ziel: Das Herz des Sammlers.

Motivsuche, Spurensuche: Wie wird einer zum Sammler? Ein Reporter fragte einst John Ford: Wie kamen sie zum Film? Fords Antwort: Ich nahm den Zug. Eine erste Frage: Wird einer Sammler oder ist er es? Fängt man beim Huhn an oder beim Ei? Sind es die Gene, oder muss das Schicksal einspringen? Ein erster Antwortversuch: Egal, ob Huhn oder Ei. Es geht nicht um den Start. Es ist das Ziel. Jos hat mit Büchern angefangen. Jos kam vom Lande. Nichts deutete auf Kunst. Die Familie: Einfache Menschen. Fokussiert auf das Überleben – die Natur. Der erste Kontakt zur Kunst: Ein Schwarzweißfernseher. Ein Film über Picasso. Es muss Ende der 50er gewesen sein. Jos‘ Nachbar sah Picassos Bilder. Dann das Urteil: Das kann meine Tochter auch. In Jos stieg die Ahnung auf, dass etwas nicht stimmen konnte mit einem solchen Satz. Jos Auseinandersetzung mit dem Sehen hatte angefangen.

Gazelle

Das Leben ist Sehen. Du siehst, was du weißt. Weißt du mehr, siehst du mehr. Trotzdem ist Sehen mehr als Hingucken. Jos‘ Hinsehen ist längst ein Hin-Empfinden. Jos studierte Biologie. Er ging nach Nimwegen. Nimwegen war die Stadt. Huhn und Ei in Überschneidung. Die Sechziger traten den Endspurt an. Für Jos begann ein anderes Leben. Ein neues Leben mit neuen Themen. Die Dinge entwickelten sich. Durch die Eierschale der Jos’schen Weltsicht pickte sich ein Herr mit Bart. Ein bisschen sah er aus wie Marx aus. Aber nicht jeder Herr mit Bart heißt Marx. Ein anderer Bartträger hieß Darwin. Charles Darwin. Das ist einer meiner Helden, sagt Jos. Er zeigt auf die Büste in seiner Dachkammer. Darwin passt. Auch Marx würde passen. Ein Stück weiter: Ein Affe. In der Hand hält er einen Menschenschädel. „Eritis sicut deus“, steht auf dem Sockel. Geschaffen nach Gottes Abbild. Jos ist einer, der von Neugier getrieben wird. Wenn die Neugier dein Motor ist, gibt es zwei Ziele: Wissenschaft und Kunst. Aus dem Biologen Jos wurde der Bibliothekar Jos. Alles Sammeln begann mit den Büchern. Bücher sind Neugierbefriedigungsapparate. Bilder sind das auch. Du siehst, was du weißt. Manchmal weißt du, was du siehst. Jos ist  kontrollierter Chaot. Er mag sich nicht festlegen. Das Herz eines Sammlers ist eine Gazelle. Gazellen altern nicht. Immer zum Sprung bereit oder untauglich für die Savanne.

Kitt

Der Weg ins Herz des Sammlers führt durch die Augen. Bilder haben einen Richtungswillen. Es zieht sie zum Sammler. Eins kommt zum anderen. Wo die einen in den dritten Jahresurlaub abbiegen, finden für Jos die Ferien am Bild statt. Im Bild zu sein ist der Anfangs-, Wunsch- und Endzustand. Es geht nicht um das Vordergründige. Es geht um die Kunst. Gute Kunst zeigt ihre Botschaft nicht am Haupteingang. Für Jos sind Bilder Teil des Zusammenlebens. Handlungsanweisungen für eine lebenswertere Welt. Man sieht sich morgens – gleich nach dem Aufstehen und abends vor dem Zubettgehen. Dazwischen lernt man sich kennen. Man lernt: Sich zu kennen.
Im Angesicht einer Sammlung entsteht Geschichte. Sammeln ist die Herstellung von Gleichgewicht mit anderen Mitteln. Mittel kommt von Mitte. Jos‘ Mitte sind die Bilder. Jos‘  Mitte ist die Kunst. Jos‘ Existenz ist an die Bilder geheftet. An die Sammlung. Sie fließt als Blut in den Adern. Die Sammlung ist der Blutdruck. Im Herz des Sammlers ist die Kunst der Kitt, der Scheibe und Rahmen verbindet. Geschützter Durchblick. Herzschlag. Jos behauptet, ein Chaot zu sein. Er ist ein Chaot von eben jener Liebenswürdigkeit, die vom Kindsein beherrscht wird – von der Unersättlichkeit. Da sitzt einer im Nest, den Schnabel weit geöffnet.

Eingebrannt

Worum es geht? Schwer zu sagen. Jedenfalls nicht um Schönheit. Bilder sprechen nicht, sagt Jos. Wenn du Stimmen möchtest, häng dir ein Tonband an die Wand, sagt er. Und irrt. Natürlich erzählen die Bilder Geschichten. Aber die Geschichten sind eine Zugabe am Ende der Besessenheit vom Sehen. Auch Bücher sprechen nicht. Sie finden erst im Leser zur Stimme. Bilder sind eine geheime Botschaft für die Seele des Sammlers. Manche Bilder erweisen sich als Lebensgefährten. Andere schwindeln. Jos sagt nicht, dass die Bilder schwindeln. Jos formuliert es richtiger. Als Sammler machst du Fehler, sagt er. Du musst lernen, sagt er. Alle Unschuld den Bildern. Dreh einem Bild den Rücken zu – weg ist es. Schaust du nicht hin, gibt es kein Bild. Doch. Ein gutes Bild brennt sich ein. Es lebt fortan mit. Vervollständigt das Leben. Da liegt das Motiv. Leben ohne die Bilder ist kein Leben. Jos‘ Leben: Die Bilder. Seine Frau. Rangfolgen werden nicht ermittelt. Es gibt kein Ranking. Im Herz des Sammlers entsteht die wunderbare Gleichzeitigkeit des Seins. Wer sammelt, biegt vor der Oberflächlichkeit ab und findet den Weg in die Leidenschaft. Die Seele sucht nach Entsprechungen.  Jos füllt sich mit Leben. Wenn er von den Bildern erzählt, spielt sich Leben ab: Lachen, Tränen, Verzweiflung und schieres Glück hausen nebeneinander. Kein Eines ohne das Andere.

Wanderer

Der Gedanke an die Bilder ist abgekoppelt vom Gedanken an das eigene Ende. Wenn das Leben endet, endet das Bewusstsein für den Besitz. Papperlapapp: Es geht nicht um den Besitz. Würden sie Jos die Bilder nur leihen – es machte keinen Unterschied. Sowieso: Kunst wandert. Sie überlebt und kann folglich nur ausgeliehen sein. Sie macht den Menschen am anderen Ende der Sammlung zum Lebensabschnittgefährten. Jetzt wird ein Schuh draus: Die Bilder suchen ein Zuhause. Finden es. Ziehen,  wenn nötig, weiter. Jos hat das verstanden. Oder ahnt er es nur? Bilder sind Dialoge auf Reisen. Das musst du verstehen. Es geht nicht um Analyse. Bilder suchen den Weg in die Seele. Nicht, dass sie sich am Hirn vorbeimogeln möchten. Sie finden andere Wege. Der Weg der Liebe ist nicht der Weg des Kopfes. Und doch geht es um Wissen.
Du siehst, was du weißt. Nicht immer weißt du, was du siehst. Einer wie Jos sammelt nicht für den Tresor. Nicht für die Dividende. Ein Bild im Schrank ist ein Bild am falschen Ort. Es ist wie ein zugemauertes Kino. Die Mechanik des Sammelns erfindet eigene physikalische Zusammenhänge. Da entsteht ein in sich geschlossenes Bezugssystem. Jos sagt, dass er nicht sammelt um zu zeigen. Er und die Bilder stellen einen Kosmos dar, der keine Angst vor der Welt haben muss. Im Reich der Bilder herrscht eine Geborgenheit besonderer Prägung. Im Angesicht der Sammlung findet Erweiterung des inneren Friedens statt: Anbindung durch Abkopplung.

Zukunft

Jos stellt einen Zug zusammen, in dem er durch das Leben reist. Jedes Bild ein Fenster. Eine Erklärung. Ein Argument. Da sitzen sie einander gegenüber wie ein in gegenseitiger Erkenntnis ergrautes Paar, das längst schon nicht mehr vom schnellen Sex der frühen Tage lebt, sondern von der beruhigten Erkenntnis, Entsprechung im Leben gegenüber gefunden zu haben. Kann man von blindem Verständnis sprechen? Vielleicht besser nicht. Man mag dem Sammler vieles wünschen. Blindheit gehört nicht dazu. Ein Jos, der morgen erblindet,  würde nichts vermissen. Er kennt seine Bilder. Seine Bilder kennen ihn. Und doch wäre da Verlust: Das Herz des Sammlers ist unersättlich.

Zuhause

Sammeln ist nicht Rückschau. Sammeln ist der ewig jung bleibende Wunsch nach der nächsten Bekanntschaft. Sammeln ist die Vorbereitung der Zukunft mittels Gegenwart. Jos ist ein Robinson, der seine Insel mit Bildern bestückt, die gegen das Wegsacken im Durchschnittlichen helfen. Das Wunderbare: Niemand muss Platz schaffen. Kein Bild raubt einem anderen den Platz. Wir sprechen vom Seelenplatz. Sammeln lässt jenen scheinparadoxen Zustand entstehen, in dem alles Neue den Platz für das Nächste wachsen lässt – in dem ein Film den nächsten generiert, aus dem er sich aber nachträglich erfindet. Die Zeitachsen sind verschoben. Aufgehoben. Das Sammleruniversum: Ein Magen, der alles verdaut ohne sich selbst anzugreifen. Jos ist nichts und niemandem verpflichtet. Seine Bilder haben ein Zuhause. Wenn er geht, suchen sie sich ein Neues. Oben, unterm Dach: Darwin. Alles entwickelt sich.