Schreibkraft
Heiner Frost

Colossus

Foto: Ursula Kaufmann

Die Tänzer sind schon da, als man 15 Minuten vor Vorstellungsbeginn den Saal betritt. Im Kreis liegen sie am Boden: regunglos. Wie niedergestreckt. Das Publikum: abgehärtet. Man unterhält sich. „Gestern haben wir tapeziert“, oder: „Letzte Woche waren wir bei Lars Eidinger“, oder: „Wir haben uns erst noch ein Würstchen geholt.“ Man übersieht geflissentlich, dass die Vorstellung längst begonnen hat – dass die Bühne längst ein ritueller Ort geworden ist; dass sich dort ein Energiekonzentrat gebildet hat, das Stille gebietet. Der Menschenkreis auf der Bühne kämpft stumm liegend gegen alle, für die ein Stück erst beginnt, wenn sich jemand bewegt. Ihr Kampf geht verloren. Manche im Publikum müssen noch schnell ein Handyfoto machen. Es ist zu dunkel. Also mal das Hilfslicht anschalten. „Also der Eidinger, das war eine einzige … und dann der Kleister … fünf Euro für das Würstchen …“

Etüde des Ensembleseins

Ein Lichtwechsel erzählt vom nahenden Anfang und was man dann erlebt, ist atemraubend: eine Etüde des Ensembleseins. Aus dem Kreis wird ein lebendiges Wesen, ein Atem, ein Synchronereignis. Man kann sich nicht entziehen. Man erlebt, wie aus dem Liegekreis ein stehendes Ensemble wächst. Es wächst auf die Bühne und auf der Bühne – ist mal Pflanze und mal Maschine; mal liebenswert, mal angsteinflößend.  Man erlebt, wie alles eins wird …  ist … bleibt. Die Choreographie: unglaublich. Wie man so dasitzt und sich von der Synchronität aufsaugen lässt, taucht erstmals der Gedanke auf, dass die Einheit nicht nur Einigkeit sein kann sondern auch das Diktat des Immergleichen, das angetreten ist, den (tanzenden) Menschen zum Teil einer Maschine werden zu lassen.
„Colossus“ heißt das Stück, das die Stephanie Lake Company in Kooperation mit dem Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste entwickelt hat. Im Programmheft liest man, das Stück demonstriere die Macht der Vielen. Ja – das wäre eine mögliche Lesart, aber das Stück zeigt immer wieder auch die Macht der Wenigen, die sich aus der Menge lösen und zu Dirigenten der anderen aufschwingen. So werden soziale Zustände ausgeleuchtet, analysiert, entlarvt, enttarnt, entzaubert.
Colossus ist ein Stück, das keine Ruhe gibt und zur sozialen Etüde wird. Mögliche Zustände des Instrumentariums Tanz werden durchdekliniert: Da sind Tänzer Statisten in einem Großenganzen – sie werden zu Instrumenten: zu Klangkörpern. Manchmal marschieren sie, dann bewegen sie sich zu den Befehlen einer Stimme, die von außen kommt: „Kopf hoch, Mund auf, Schultern hoch.“ Fast bekommt man Angst vor der Ästhetik der wunderbaren Gleichförmigkeiten: Synchronität – das beginnt man körperlich zu empfinden – ist Stark- und Schwachsein gleichermaßen. Die auf der Bühne sind allesamt Solomarionetten. Sie tanzen Einheit, Zwietracht – sie werden zur schreienden Masse, zu Getriebenen. Mal ist der Klang von außen der Motor, mal ist es eine von innen herauswachsende Dynamik, die alles anzutreiben scheint. Man beginnt zu ahnen wie stark die Macht des Manipulativen ist.

Zustände und Zuständigkeiten

Das Ensemble wird seziert – Zustände und Zuständigkeiten treten gegeneiander an. Es geht um Verschwinden und Auftauchen. Was das Ensemble an Aggregatszuständen darstellt, ist von einer ungeheuer magnetischen Kraft und während sie auf der Bühne Variationen über das Zusammensein entwickeln, beginnt man sich zu fragen, wohin Colossus am Ende steuern wird. 50 Minuten dauert das Stück und hat nach 40 Minuten die Möglichkeiten ausgelotet.
Im eigenen Kopf entsteht der Wunsch, das Stück möge im Anfang enden. Man wünscht sich, dass am Ende alle wieder regungslos im Kreis liegen – dass nichts mehr passiert: dass man sich die Hände wund klatscht vor Begeisterung und von vorn keine Reaktion mehr kommt, weil sie dort längst das Ende deklariert haben – ein Ende, das das Publikum zu ignorieren imstande ist; man wünscht, dass man allein gelassen wird und gegen die Innenseite des eigenen Schädels prallt: dass man sich hilflos nach draußen schleppt um erst draußen zu entscheiden, ob man zu den vielen gehört oder sich allein fühlt.

Poesie der Bewegung

Colossus geht einen anderen Weg – setzt auf das Furiose: am Ende wird aus dem Vielen das Wenige – ein Weniges allerdings, das auf die Verdichtung setzt, bevor das Stück in Stille und Dunkelheit taucht.  Vielleicht muss ein Stück so zu Ende gehen. Vielleicht ist die Versuchung zu groß, sich dem Publikum zu zeigen. Mit dem Nichts lässt sich kein Staat machen.

Der Beifall der Vielen am Ende: berauschend. Tosend. Weltergreifend. Man hat ganz großes Tanztheater gesehen. Da ist der Denkraum für den Tanz erweitert worden. Was stört da schon der Wermutstropfen, dass es diese paar Minuten zu viel waren. Aber: Wer will entscheiden, ob es wirklich zu viel war? Man würde, wäre es möglich, gleich für die nächste Vorstellung anstehen. Man würde dem einlaufenden Publikum den Mund verbieten. Das Fotografieren. Die Ignoranz. Die Schamlosigkeit. Man würde die Bewegungslosigkeit des Anfangs in tiefen Zügen einatmen. Man würde sich ein zweites Mal auf diese Irrfahrt durch das Zusammensein begeben, jede Sekunde eines großen Tanzes genießen und am Ende nicht wissen, ob das Glück im Kollektiv zu finden ist oder in der Isolation. Colossus stellt große, grundsätzliche Fragen und gibt gottseidank keine Antworten mit auf den Weg. Dafür hat man Bilder im Gedankengepäck: großartige Bilder von der Magie der Bewegung; vom Einswerden und von der zersetzenden Kraft der Einigkeit: von der Geborgenheit im Aufgehobensein der Vielfalt hier und dem Anderssein in der Isolation dort. Colossum ist die große Poesie der Gegensätze: Räume der Freiheit hier und Räume der Angst und des Verdautwerdens vom Sog der Masse dort.

Foto: Ursula Kaufmann

Projektleitung: Prof. Stefan Brinkmann
Musik: Robin Fox
Licht: Bosco Shaw
Kostüme: Harriet Oxley
Produktionsleitung: Emily O’Brien
Produzentin: Beth Raywood Cross
Technische Leitung: Robert Larsen
Probenleitung: Kaitlin Malone & Nikky Muscat

Choreographie: Stephanie Lake

Tänzer: Alegria van Poppel Lubeigt, Arianna Fabiani, Benjamin Dinnebier, Birte Lüderitz, Chiara Ferrandu, Daniel Lapko, Djamila Polo, Enora Gemin, Eugenia Labuhn, Ezra van Gijsel, Fiametta Ruggiero, Florian Entenfellner, Gabriel Gaudray Donnio, Gloria Carobini, Isis Stamatakos, Jennifer Boultbee, Jihee Kim, Julia Turnage, Maja Kowalik, Marta Pisano, Mateusz Bogdanowicz, Merel Bastiaans, Minseo Kwon, Mokeo Okuda, Narumi Saso, Nicol Memoli, Patric Neves Lindström, Pier Paolo Lara, Pierfrancesco Vicinzana, Sanne Vree, Shauna Fisher, Sihyun Kim, Sofia Scarpellini, Steve Alexandre Pedrosa Cardoso, Tabea Jung, Thor Galileo-Axé, Yasin Sönmez, Yi-An Chen.