Schreibkraft
Heiner Frost

Allrad gegen Vorderlader

Waterloo

Immer wieder sonntags

Waterloo. Es ist 9.10 Uhr morgens. Die Anreise zur Schlacht erfolgt per Bus oder PKW, zu Fuß oder mit dem Rad, und der Krieg findet immer sonntags statt. Da haben alle Zeit. Auch die Pferde werden in die Schlacht gefahren. So ändern sich die Zeiten. Fünf Kilometer jenseits des Grüns liegt Waterloo, und hier  — abseits der Stadt — sammeln sich seit Tagen die Heerscharen. Heuer steht die kleine Schlacht auf dem Programm. Nur alle fünf Jahre gibt es das Grande Spectacle. Jetzt sind rund 1.200 Akteure angereist. (Bei der großen Schlacht sollen es um die 10.000 sein.)

Die Männer in den Uniformen spielen allesamt Hauptrollen, und wenn der Tag vorbei ist, werden sie Millionen mal fotografiert worden sein. Die Jäger sind mit digitaler Ausrüstung angereist. Das Waffenarsenal der Berichterstatter reicht von der Baumarktkamera (zweifacher Digitalzoom) bis zum tausender Tele auf dem Einbeinstativ. Fernsehen zählt extra. Die TV-Menschen sind die Größten, Wichtigsten, Allmächtigsten. Sie sind die wahren Rowdies auf dem Nebenkriegsschauplatz. Der Fußweg zum Schlachtfeld: Rund zehn Minuten. Die Zuschauer haben Campingstühle dabei und Verpflegung für den Tag. Die Schlacht ist ein Familien-Event.

Ab zehn ist Krieg

Der Stundenplan: Ab zehn ist Krieg. Alle wissen, wie er ausgeht. Kaum eine Schlacht wurde so minutiös dokumentiert wie die von Waterloo. Sie ist im Stundenrhythmus vermessen. Was hier gespielt wird, ist ausnahmslos belegt.
Nur Napoleon passt nicht ins historisch exakte Bild, denn der kommt aus Amerika. Das Ticket haben sie ihm gesponsert. Gage gibt es nicht. Napoleon heißt Marc Schneider und ist Mitte dreißig. Marc ist längst auch außerhalb der Staaten bekannt. Er ist Napoleon. Er sieht ihm ähnlich. Einst sprach ein Freund zu Schneider: „Du siehst aus wie Napoleon.“ Was dann begann, war ein Aufstieg ins Reich der Look-Alikes. Schneider macht halt nicht in Elvis — er ist Bonaparte. Drei Tage lang hört alles auf sein Kommando. Nun ja Fast alles, denn: Das sind ja noch die Truppen der anderen. Und trotzdem: Bestünde dieWahl, sich mit Napoleon oder Wellington fürs Familienalbum ablichten zu lassen: Die meisten würden sich wohl für den Korsen entscheiden. Auch die Engländer. Napoleon ist ein Mythos — Wellington nur ein Filet. Die Soldaten sind aus ganz Europa angereist und opfern der Schlacht (längst nicht nur) ein Wochenende. Sie kommen aus England, Schottland, Italien, Frankreich, Holland oder Deutschland. Napoleons Hauptquartier war international. Seine Gegner waren es auch. Die Soldaten auf dem Event-Schlachtfeld: Eine Mischung aus lebender Geschichte, Kriegsspezialisten und Event-Narren. Sie kennen sich aus in ihrem Metier und hantieren mit Schwarzpulver wie andere mit dem MP3 Player. Zehn Euro Munitionsbeihilfe bekommt jeder von ihnen. Der Rest geht auf eigene Rechnung. Viele haben die Familie dabei. Ein Hobby wie dieses wäre daheim ansonsten schwer kommunizierbar. („Papa ist dann mal im Krieg.“) Die gute Nachricht bei Kriegen wie diesem: Sie kommen alle heim. Tote wird es nicht geben. Einer allerdings wird heute vom Pferd fallen und sich beide Beine brechen. Sie werden ihn mit Blaulicht vom Schlachtfeld holen. Der Ambulanzwagen inmitten des historischen Getümmels ist bildgewordener Zeitsprung: Allrad gegen Vorderlader.

Enjoy the battle

Schon vor zehn wird das Schlachtfeld zur Klanginstallation. Die Trommeln und Flöten der aufmarschierenden Truppen sind weithin zu hören und erzeugen die Kakophonie der herannahenden Schlacht. Die Truppen sind gut gelaunt. Das Wetter ist schön. (Damals, am 18. Juni 1815, sank man in knietiefen Morast. Sagen sie.) Überhaupt: Alle sprechen über diese Schlacht, als seien sie dabei gewesen. Hier ist der Krieg zur Devotionalie geworden. Schon im Jahr nach der Schlacht, so wird erzählt, traf man sich zum Nachspiel. Seit 1985 wird die Schlacht jetzt als Event betrieben. Immer sonntags. Immer an dem Sonntag, der dem historischen Datum  am nächsten ist. Napoleon geht sonntags unter. Ein Organisationsteam von zwölf Männern organisiert die Schlacht. Für Anreisende werden nicht Schwerter zu Pflugscharen sondern Straßen zu Parkplätzen. Die Zuschauer sind „embedded“ — zwischen ihnen und der kriegerischen Wirklichkeit: Flatterband und Absperrgitter. Auf einer kleinen Empore können die Medien zum Schuss kommen. Sie kommen reichlich und aus aller Herren Länder. Japanisches TV ist genau so interessiert wie Al Jazeera. Während sie auf dem Schlachtfeld Geschichte reproduzieren, läuft auf der Pressetribüne der wirkliche Krieg, denn es geht um die besten Bilder. Nur wer vorne steht, gewinnt. Kurz vor zehn: Der Kommentator begrüßt sein Publikum. Dreisprachig. Kommentiert wird in Französisch, Englisch und Niederländisch. Die Ausgangssituation wird exakt  beschrieben. Es ist angerichtet. „Enjoy the battle.“ Zu Befehl. Was jetzt kommt: Lärm und schlechte Sicht. Wenn eine Hundertschaft aus ihren Vorderladern feuert, sind Teile des Geländes in Pulverdampf gehüllt. Die Kanonen sind infernalisch laut und schicken Druckwellen ins Land und ins Trommelfell. Die Pferde auf dem Schlachtfeld scheinen lärmresistent.

Bitte recht freundlich

Die Schlacht wird zwei Stunden dauern. Auch die Teilnehmer haben nicht nur Waffen dabei. Zwischen Zündfeuer und Pulverdampf zucken auch auf Seiten der Soldateska immer wieder Blitzlichtgewitter, und der eine oder andere posiert fürs Familienalbum. (Bitte recht freundlich.) Der Kommentator schaltet sich mit Hintergrundinformationen ins Geschehen ein, während sich auf dem Schlachtfeld die Angriffsformationen immer wieder neu sortieren. Das Schlachtenballett folgt der Choreographie der geschichtlichen Wirklichkeit von 1815. So machen sie es seit Jahren. Und doch geht immer wieder der Scherz um: „Heute lassen wir die Franzosen gewinnen.“ Aber am Ende halten sich wieder alle an den Plan. Waterloo ist die Geschichte eines Verlierers. Ausnahmsweise wird wenig über den Sieger gesprochen. Napoleon Marc Schneider hat keinen Gegenpart — keinen zumindest, um den man  Aufhebens machen würde. Um zwölf endet die Schlacht mit einem Vorbeimarsch aller Truppen an den Rängen. Waterloo ist beendet. Wer Glück hat, lässt sich mit Napoleon Schneider fotografieren. Der Verlierer gibt Interviews. Dann geht es zurück in die Zeltlager. Essen fassen. Abreise. Viele haben einen weiten Weg. Im nächsten Jahr werden sie wieder anrücken. Wieder die Schlacht schlagen und wieder die Franzosen verlieren lassen. Living History. Immer sonntags.