Schreibkraft
Heiner Frost

Abwärts

Ein Kind ist gestorben. Anderswo sterben Kinder an Hunger, an Seuchen – im Krieg. Anderswo, glauben wir, ist weit entfernt. Bei uns sterben Kinder vielleicht im Straßenverkehr und manchmal – an der Überforderung ihrer Eltern mit einem Zustand, den man gemeinhin Leben nennt.


„Strafverhandlung gegen einen 30-jährigen aus Xanten wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung von Schutzbefohlenen sowie wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen und gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen und wegen Körperverletzung“ ist der Prozess vor der 4. Strafkammer des Landgerichts in Kleve überschrieben. Fünf Termine hat das Gericht angesetzt, um sich auf die Spur einer Wirklichkeit zu setzen, deren Zeuge man nicht sein möchte. Das Volk, in dessen Namen am Ende geurteilt wird, ist mit Ausnahme eines Zuschauers nicht erschienen. Vielleicht berührt, was hier verhandelt wird, eine unliebsame Wirklichkeit.

Verirrt
Das Gericht trifft auf einen Angeklagten, der auszusagen bereit ist. Gleich am ersten Tag wird die Geschichte eines Menschen erzählt, der im eigenen Leben umherirrt wie andere in einer fremden Stadt. Die Geschichte beginnt wie viele Geschichten, die schlecht enden. Ein Junge lernt seinen Vater nie kennen. Stattdessen: Ein Stiefvater, dessen Vokabular Schläge sind. (Wir geben weiter, was wir gelernt haben. Erziehung ist Fortsetzung.)
Der Vorsitzende Richter setzt den Angeklagten auf‘s Gleis. „Vielleicht erzählen Sie uns einfach mal etwas aus ihrer Kindheit.“ Dann die ersten Sätze des Angeklagten: „Ich hatte keine schöne Kindheit. Es gab viel Gewalt.“
Ein Junge beendet die Hauptschule nach der 9. Klasse, macht eine Lehre als Koch und kommt früh in Kontakt mit Drogen. Die Schule ist nicht sein Ding. Er versucht sich als Klassenclown. Die Lehrer wollen ihn nicht im Unterricht. Ein Junge geht von zuhause weg. Lebt in einer Pflegefamilie.

Ein Junge
Ein Junge findet nach seiner Lehre keine Anstellung. Er arbeitet für ein Jahr bei einem Metzger. Verarbeitet Geflügel. Ein Junge wird entlassen, weil er 2,5 Kilogramm Fleisch gestohlen hat. [Richter: „Was wollten Sie mit dem Fleisch?“ Angeklagter: „Essen.“ Richter: „Zweieinhalb Kilo Pute – das ist nicht gesund.“]
Mehr Grund zum Schmunzeln wird der Tag nicht bieten. Richter: „Deswegen sind Sie entlassen worden?“ Angeklagter: „Die hatten eine Null-Toleranz-Strategie.“ Ein Junge war in psychologischer Behandlung, weil er den Eindruck hatte, „dass in meinem Körper mehr Menschen wohnen als nur ich“. Die „anderen“, die in ihm hausen, sind seine Möglichkeit, sich gegen das Leben zu wehren. Ein Junge entwickelt Aggressionen und wenn es ihn überkommt, „habe ich Zimmer demoliert oder Löcher in die Wand geschlagen“.
Aus dem Jungen wird ein junger Mann – körperlich zumindest. Er lernt eine Frau kennen. Die Frau ist verheiratet. Sie hat vier Kinder. Sie trennt sich von ihrem Mann. Zusammen plant das neue Paar ein Leben. Das Leben findet in einer Eineinhalbzimmerwohnung statt. Die vier Kinder: Beim „Ex“ der Frau. Wenn sie an Wochenenden die Mutter besuchen, wird es eng. Im Kopf. In der Wohnung. Im Leben.
Der junge Mann spricht nicht darüber. Er will die Beziehung nicht gefährden. Vielleicht beginnt er zu ahnen, dass Kinder anders sind als ein Computer, den man nach dem Spiel ausschaltet. Vielleicht beginnt er zu ahnen, dass Kinder das Leben bremsen. Als die Ahnung sich ansiedelt, ist die Freundin längst schwanger.

Im Rausch
Schon vor der Schwangerschaft nehmen beide Drogen: „Speed und Pep.“ Tagelang „kommen sie nicht runter“. Das eigene Leben verwischt unmerklich zu einer Spur, die sich nicht verfolgen lässt. Anfangs sind die Drogenmengen klein – später wird es mehr: Konsum als Normalzustand. Bestellt wird per Telefon, Handy, Facebook. Drogen kosten Geld. Die beiden leben von Hartz IV. Aber da ist ja noch das Kindergeld …

Die gemeinsame Tochter: Unterernährt. Im Krankenhaus rät man zu Obst und Gemüse. „Das haben wir auch eine Zeitlang gemacht, aber das hat auch nichts geändert.“ Das Kind wird wieder auf Honigschleim gesetzt. Das junge Paar sucht, nachdem die Schwangerschaft feststeht, eine größere Wohnung. Zwei anscheinend erwachsene Menschen, die mit Speed durch ein Leben rauschen, in dem die Frau kurz nach der Entbindung wieder schwanger ist: Diesmal werden es Zwillinge. Das Paar wohnt mit der kleinen Tochter, den Zwillingen und einem der vier Kinder aus der ersten Beziehung der Frau zusammen in der neuen, größeren Wohnung.
Man möchte sich die Zustände nicht vorstellen. Man möchte nicht wissen, was passiert, wenn im Stress die Sicherungen glühen. Einer Frau vom Jugendamt fällt irgendwann auf, dass eines der Kinder ein blaues Auge hat. Sie macht ein Foto. Nach der Ursache gefragt, sagt der junge Mann, das Kind habe die Verletzung vielleicht beim Schlafen auf Bauklötzen erlitten. Einmal im Laufe eines fast fünfstündigen Verhandlungstages wird der Vorsitzende Richter laut. Einer solchen Erklärung will er nicht folgen müssen.

Ein Beinbruch
Längst hat man im Verlauf der Befragung den Überblick verloren, welches Kind wann welche Verletzungen davontrug. Die gemeinsame Tochter des Paares erleidet einen Beinbruch. Die Erklärung: Eines der anderen Kinder ist auf das Bein gefallen. Der all das erzählt ist ruhig, gefasst – aussagewillig. Und doch ist man nicht bereit, den teils hanebüchen wirkenden Ausweichmanövern, mit denen eine nicht ergründbare Wahrheit umfahren werden soll, Glauben zu schenken. Vor Gericht geht es ohnehin nicht um Geschenke – es geht um Rekonstruktionen. Später wird der Gerichtsmediziner sagen, dass ein Beinbruch wie dieser nur durch massive Gewalteinwirkung geschehen kann.
Er wird von den Verletzungen eines toten Säuglings erzählen, die allesamt in eine Richtung weisen: Schütteltrauma. Der Kopf eines Säuglings: Schutzlos auf einen anfangs zu schwachen Hals gepflanzt. Schüttelt man Säuglinge, schlägt das in Flüssigkeit gelagerte Gehirn leicht verzögert an den Schädelinnenkanten an. Arterien reißen. Es kommt zu Einblutungen ins Gehirn – in die Augen. Oft wird ein Kind schon während des Schüttelns bewusstlos, schlaff.

Vielleicht
Der vom Angeklagten geschüttelte Säugling fällt in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Der junge Mann schildert, er habe den Säugling gefüttert, sich dann dem Zwillingsbruder zugewandt. Später sieht er, dass der zuerst Gefütterte blau angelaufen ist. Er hebt ihn hoch, pustet ihm ins Gesicht („das macht auch die Mutter immer, wenn die Atmung aussetzt“ – Erziehung ist Fortsetzung) und schüttelt das Kind. Er hält es unter einen Kran. Nichts passiert. Er schüttelt wieder. Gerät ihn Panik. Schreit. Schüttelt. Ruft den Notarzt. Ja. Vielleicht. Vielleicht die Panik. Vielleicht das Schreien. Vielleicht. Der Gutachter aber hält es für unwahrscheinlich, dass der Säugling sich verschluckt hat und blau anlief. „Vielleicht war es ja so, dass sie einfach genervt waren“, fragt der Richter den Angeklagten. „Nein.“
Das Gericht fragt nach den Drogen. Davon war vorher nie die Rede. Richter: „Warum erzählen Sie das erst jetzt?“ Angeklagter: „Ich wollte die Mutter schützen.“ Jetzt aber will er alles klar machen. Jetzt hat er etwas bgriffen vom Chaos dieses anderen Lebens, das sie geführt haben. Die Mutter: Nebenklägerin. Die Beziehung: Gescheitert. Am Leben.
Längst ist man dabei, an der Küste der eigenen Sprachlosigkeit zu stranden. Man möchte nicht über so etwas schreiben. Aber es muss geschrieben werden. Manchmal tut schon das Schreiben weh. Längst denkt man sich: Wer sich einen Hund anschafft, muss einen Eignungsnachweis liefern. Wird das eigene Denken zur Stammtischdiskussion?
Warum, fragt man sich, ist das Volk nicht erschienen? Vielleicht setzt sich die Einsamkeit dieses Paares hier fort. Vielleicht findet Ausblendung statt. Vielleicht liest sich all das gut, aber es erlebt sich schwer.

Biegsam
Im Zentrum des zweiten Verhandlungstages: Eine Frau im Alter von 27 Jahren. Mit 16 wurde sie erstmals Mutter und hat seitdem sieben Kinder auf die Welt gebracht, von denen eines nicht mehr am Leben ist. Die gemeinsame Tochter mit dem Angeklagten: Ein Wunschkind. Die anderen: „Unfälle.“ Die Wahrheit, ahnt man nach dem zweiten Tag, ist biegsamer als der Oberschenkelknochen eines Kindes.
Die junge Frau malt ein anderes Bild als der Angeklagte am Vortag. Nein, Drogen hat sie nie genommen und der, mit dem sie zunächst in einer Eineinhalbzimmerwohnung ihr Leben teilte, der, mit dem zusammen sie drei Kinder hat – der, von dem sie ihrer besten Freundin sagt, er sei die Liebe ihres Lebens („War er immer – wird er immer sein“) – er ist ein Unbekannter: Sie weiß nicht, ob er Drogen genommen hat. Eine Aussage zwischen Auferstehung und Untergang – mal ganz unten, dann wieder oben auf. Tränengestützte Antworten hier, scharfkantiger Ton da. Selbst in der Erschütterung wirkt dieses Auftreten irgendwie inszeniert.
Dass die Kinder oft verletzt waren – dafür hat sie kaum Erklärungen und wenn es Erklärungen gibt, erzählt sie, was ihr erzählt worden ist. Dass ein Kind ein faustgroßes blaues Auge hat, liegt, hat der Stefan gesagt, daran, dass es in der Nacht auf Bauklötzen geschlafen hat. Andere blaue Flecken rühren daher, dass das Kind gefallen und dabei unglücklich aufgeschlagen ist. „Der Stefan ist immer gut zu den Kindern gewesen.“ Vor allem, als man noch in der winzigen Wohnung lebte, war alles gut. Ein liebevoller Vater.
Dass nach dem Abtransport des später gestorbenen Zwillings ins Krankenhaus auch der andere Zwilling blaue Flecken hatte, will die junge Frau nicht bemerkt haben. Der Richter wird eindringlich: „So etwas muss man bemerken. Das lässt sich nicht übersehen.“

Ausgeblendet
Gibt es zwei Wahrheiten? Zumindest gibt es zwei Wahrnehmungen. Menschen sind in der Lage, Dinge auszublenden. Auf dem Zeugenstuhl sitzt eine Frau, die einerseits taff ist und das Leben im Griff zu haben scheint und andererseits noch immer an der Liebe ihres Lebens hängt. („War er immer – wird er immer sein.“)

Bei der Besichtigung des Tages, an dem der später verstorbene Säugling ins Krankenhaus gebracht wurde, bricht es an einer Stelle aus der jungen Frau heraus: „Warum bist du nicht mitgefahren?“, schreit sie in Richtung ihrer großen Liebe und schreit noch hinterher: „Sie mich an, wenn ich mit dir rede!“ Bevor der Richter eingreifen kann, ist der Ausbruch beendet. Die Zeugin kehrt in die Beherrschung zurück. Einordnen lässt sich dieser Ausbruch nur schwer. Schnell merkt man, dass die all die Verletzungen der Kinder Wunden sind, die vom Wegschauen und Wegdenken geschlagen wurden und man fragt sich, wie oft Menschen täglich wegschauen, um ihre Liebe nicht der Wirklichkeit opfern zu müssen. Blaues Auge hier, Blauäugigkeit dort. Jetzt wirken die beiden, als hätten sie sich gegenseitig an ein untergehendes Schiff gekettet.

Umstände
Auch der dritte Tag ist ein Zeugentag. Es geht darum, die Umstände zu klären, unter denen der Angeklagte, seine damalige Lebensgefährtin und vier Kinder (eines von vier Kindern der Mutter aus deren erster Ehe sowie drei gemeinsame Kinder des Paares) lebten.
Immer wieder befragt der Vorsitzende Richter die Zeugen unter anderem danach, ob bei ihnen der Eindruck entstanden sei, dass der Angeklagte und/oder seine Lebensgefährtin Drogen genommen hätten. (Während der Befragung des Angeklagten am ersten Verhandlungstag hatte dieser erstmals eingeräumt, sowohl er als auch seine Lebensgefährtin hätten regelmäßig Speed eingenommen.) Keiner der zahlreichen Zeugen des dritten Verhandlungstages liefert eine Bestätigung.

Struktur
Neben zahlreichen Kripobeamten sagen auch mehrere Sozialpädagoginnen aus, die sich im Auftrag des Jugendamtes um die Familie gekümmert hatten. Es sei darum gegangen, darauf zu achten, dass die Familie eine Tagesstruktur bekomme und auch zu überprüfen, ob die Wohnung in Bezug auf die Kinder ausreichend sicher sei.
In Erinnerung bleibt vor allem die Aussage der Tagesmutter der beiden älteren Kinder. Man habe ihr seitens des Jugendamtes im Vorfeld zu keinem Zeitpunkt erzählt, dass der Verdacht im Raum stünde, die Kinder könnten misshandelt worden sein. Dass als Erklärung für ein blaues Auge seitens der Eltern die Tatsache angeführt worden sei, das Kind habe auf Bauklötzen geschlafen, habe sie zu keinem Zeitpunkt geglaubt. „Ich hatte den Eindruck, der Leon hatte Angst. Das konnte man merken“, sagt die Tagesmutter in Bezug auf das Verhältnis des Angeklagten zu dem jüngsten Sohn seiner Lebensgefährtin aus deren erster Ehe. Der Junge habe nicht nur ein blaues Auge gehabt, auch Nase und Zunge seien verletzt gewesen. „Ich habe dann gedacht: Das muss du jetzt irgendwie dokumentieren und habe ein Foto gemacht.“ Blaue Flecken am Rücken eines Kindes, die an die Form von Fingern erinnerten, seien auch mit wüstem Spielen nicht zu erklären. „Ich mache mir Vorwürfe“, sagt die Frau und wird vom Vorsitzenden Richter beruhigt: „Sie haben schon viel mehr gemacht als viele andere.“
Mehrere Zeugen schildern in Bezug auf den Angeklagten und seine Lebensgefährtin, dass sie den Eindruck hatten, „denen ging es in erster Linie um ihr eigenes Wohl – dann erst kamen die Kinder“. Eine Beamtin der „Mordkommission Nils“: „Als ich die Mutter vernommen habe, kam die mir seltsam gefasst und abgeklärt vor.“ Sie spricht von einer Frau, der man keine Empathie haben anmerken können. „Das habe ich bei entsprechenden Vernehmungen sonst so noch nicht erlebt.“
Die verschiedenen Sozialarbeiterinnen beschreiben den Angeklagten überwiegend als einen ruhigen Menschen. Ein Kripobeamter spricht davon, der Angeklagte sei während seiner Vernehmung „einige Male aufbrausend“ gewesen.
Am Ende des dritten Verhandlungstages bleibt vor allem das Ende der Vernehmung der Tagesmutter im Gedächtnis und der Satz des Richters: „Sie haben schon viel mehr gemacht als viele andere.“

Ohrfeigen
Ein Kind ist gestorben. In einem intakten Leben werden Babys in den Schlaf gewiegt. Manchmal werden sie in den Tod geschüttelt. Und manchmal geht dem Tod ein qualvolles Sterben voran.
Im Zentrum des vorletzten Tages steht das eindringliche Plädoyer eines Staatsanwalts: Stefan Müller. Der vorletzte Tag ist zudem ein Tag der „Ohrfeigen“. Der psychologische Gutachter Norbert Leygraf braucht kaum 20 Minuten, um der Kammer unter Vorsitz von Ulrich Knickrehm klarzumachen: „Der Angeklagte ist voll schuldfähig. Er wusste, was er tut.“ Ein hastiges Leben – von Drogen diktiert und nicht von der Sorge um die Kinder angetrieben.
Er habe, so Leygraf, einen gesprächsbereiten jungen Mann erlebt, der bemüht locker – im Kern aber enorm angespannt gewesen sei. Der Angeklagte habe von einer schweren Kindheit gesprochen – von Missbrauch seitens seiner Mutter, von Schlägen seitens des Stiefvaters. Es habe allerdings in den Schilderungen zahlreiche Widersprüche gegeben. Insbesondere habe der vom Angeklagten im Prozess eingeräumte Drogenmissbrauch „in unseren Gesprächen“ nie Erwähnung gefunden. „Der Angeklagte hat hier im Prozess ausgesagt, er habe seine Lebensgefährtin schützen wollen. Das sah bei unseren Gesprächen anders aus. Da hat er die Mutter seiner Kinder, die er übrigens immer ‚Frau U.‘ nannte, schlecht aussehen lassen.“
Nach seinen Gefühlen für Frau U. befragt, habe der Angeklagte von „massiven Gefühlen“ gesprochen, diese auf Nachfrage aber nicht weiter beschreiben können. Es gebe keinerlei Hinweise auf hirnorganische Schäden beim Angeklagten. Multiple Persönlichkeit? Nein. „Da ist einer, der versucht hat, sich besonders interessant zu machen.“ Es gebe weder Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung noch auf eine intellektuelle Beeinträchtigung. Eine schwere seelische Abartigkeit liege nicht vor. Leygraf sieht den Angeklagten als „wenig leistungsbereit“, „sehr egozentrisch“, „emotional unreif“ und als einen Menschen, der „über wenig Selbstwertgefühl verfügt“ und „dessen Persönlichkeit narzisstische Anteile zeigt“. Er sehe keinerlei Hinweise auf eine schwere Persönlichkeitsstörung durch Drogenmissbrauch. Hinweise auf eine verminderte Schuldfähigkeit? Nein.

Bedingungen
Auf dem Weg zu einem Urteil tritt immer irgendwann der Punkt ein, an dem die „conditio sine qua non“ Bedeutung bekommt – es ist die Bedingung, die alles Folgende plausibel macht. Bricht sie zusammen, bröckelt das Fundament. Es gilt, eine Position einzunehmen – Fragen zu beantworten. Will man einem Angeklagten in die Not des Lebens folgen? Will man seine Unfähigkeit zu lieben als Ausweg gelten lassen – will man annehmen, dass da ein Vater sein Kind im Sterben glaubte und es zurück in ein Leben schütteln wollte, in dem Gewalt und Lieblosigkeit den Takt vorgaben? Gibt es da etwas, das die Erklärungen des Angeklagten plausibel erscheinen lässt? Oder ist die Geschichte getränkt und durchtränkt von ihrer Vorgeschichte? Muss nicht einer, der Gewalt erfahren hat, vor ihr zurückweichen? Aber ist nicht Erziehung auch Anwendung des Gelernten? Muss einer nicht wissen, dass sein Tun (er schüttelt ein Kind) den fast geraden Weg ins Verderben dieses kleinen Lebens vorgibt?
Stefan Müller macht von Beginn an deutlich: Es war nicht so wie vom Angeklagten geschildert. Kein Säugling, der – blau angelaufen – im Bettchen lag und vom treusorgenden Vater ins Leben zurückgeschüttelt werden sollte. Müller spricht von roher Misshandlung und – bezogen auf den Beinbruch der kleinen Tochter des Angeklagten – brutaler Gewalt. Es handele sich nicht um „einen Moment des Versagens“, sondern die „Lieblosigkeit ist hier ein pathologischer Befund“. Der Angeklagte hat die von ihm geschilderten Vorgänge erlebt, aber er hat sie in anderer Reihenfolge erlebt.“ Man könne sich, was die Staatsanwaltschaft ermittelt habe, nicht am Schreibtisch ausdenken. All das sei zu schrecklich, als dass irgendjemand dazu in der Lage sei.

Blaue Flecken
Müller verzichtet nicht darauf, die Begleitumstände zu schildern. „Hier wurde von vielen Zeugen immer wieder von blauen Flecken gesprochen. Das waren keine blauen Flecken, das waren schwere Hämatome.“ So etwas als ‚blaue Flecken‘ abzutun, „ist eine Form der verbalen Misshandlung“. Es sei erschreckend, mit welch haarsträubenden Erklärungen der Angeklagte immer wieder „durchgekommen“ sei. Es sei beängstigend zu sehen, „was da alles immer wieder abgenickt wurde“.
Müller: „Es ist nicht vorstellbar, dass niemand all das mitbekommt und die einzige, die etwas unternommen hat, eine Tagesmutter war, die im Vorfeld nichts von Misshandlungen wusste.“ Dass einer der beiden Zwillinge das Martyrium überlebt habe, sei mehr als Glück. Es sei unglaublich, dass da einer Kinder „zu Tode gerettet“ habe. (Am Beginn des Tages hatte eine Pädagogin und Psychologin ausgesagt, der jüngste Sohn der Lebensgefährtin des Angeklagten aus deren erster Ehe habe geschrien, wenn er vom leiblichen Vater zurück zum Angeklagten und seiner Lebensgefährtin gebracht werden sollte.) Müllers Erschütterung ist deutlich zu spüren. „Da liegt kein einmaliges Versagen vor. Wir sprechen hier von einem alltäglichen Wahnsinn und davon, dass Kinder mit Gewalt erzogen wurden.“ Am Schluss eines eindrucksvollen Plädoyers kommt Müller zu einem Gesamtstrafmaß von zehn Jahren. Die Vertreterin der Nebenklage schließt sich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft an und stellt – ebenso wie anschließend die Verteidigung – das Strafmaß ins Ermessen des Gerichtes.
Der Extrakt des vierten Verhandlungstages: Kein von Drogenmissbrauch angefachtes Versagen. Stattdessen: Lieblosigkeit. Gewalt. Schwerste Misshandlungen und aberwitzige Erklärungen, denen immer wieder Glauben geschenkt wurde. Das letzte Wort des Angeklagten: „Ich habe definitiv eine Strafe verdient. Ich habe definitiv eingesehen, dass das alles falsch war. Es tut mir unendlich leid. Ich habe nicht gewollt, dass das passiert.“ Während des Plädoyers des Staatsanwaltes: Ein teils kreidebleicher Angeklagter. Das Plädoyer von Stefan Müller hinterlässt ein flaues Gefühl im Magen, denn es stellt die Frage nach den Umständen, unter denen Taten wie diese möglich sind. Natürlich bleibt am Ende ein Täter, aber es bleibt auch die Frage nach einem Weg und nach den Mechanismen der Ermöglichung. Es ist leicht, mit dem Zeigefinger anzurücken. Es ist schwer, vor dem Spiegel damit zu beginnen. Lieblosigkeit wird schnell zu Leblosigkeit. Alles Elend beginnt mit dem Wegsehen. Auch der Leuchter an der Saaldecke übt sich in Verdunkelung: Vier Glühbirnen haben ihr Leben ausgehaucht. Eine Leuchte auf Halbmast. Noch ein Tag bis zum Urteil.

DAS URTEIL
Am Urteilstag sind die Glühbirnen ausgewechselt. Draußen fällt Schnee. Im Zuschauerraum: Frau U. mit Anhang. Das Urteil der vierten Strafkammer: Zehn Jahre Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen. Jeder Prozess endet mit einer letzten Besichtigung. Die Kammer erzählt ein letztes Mal die traurige Geschichte von Eltern, denen es an Empathie gemangelt hat und die das Wohl der Kinder an zweiter Stelle einordneten – nachrangig also. Die Kammer sieht einen Angeklagten,der sich überfordert zeigte und darauf mit Aggressionen und massiver Gewalt reagierte. Die Kinder, so der Vorsitzende Richter, habe der Angeklagte als Belastung empfunden. Sie seien nicht abstellbar wie Maschinen. „Wenn er mit den Kindern allein war, endlud sich das Gefühl der Überforderung in roher Gewalt.“ So habe der Angeklagte auf seine Tochter eingeschlagen – sie sei im ganzen Gesicht grün und blau gewesen. „Das waren sehr, sehr schwere Verletzungen.“ Auch seinen Stiefsohn habe der Angeklagte misshandelt. „Wir haben blutunterlaufene Augen gesehen.“ Man habe es der Tagesmutter und ihrer „eigentlich natürlichen Sorge“ zu verdanken, dass diese Verletzungen dokumentiert worden seien. Kinder und Säuglinge seien schutzlos ausgeliefert gewesen. „Diese Fälle beschreiben einen Zustand.“ Nach außen hätten sich die Eltern bemüht, den Anschein zu erwecken, alles sei in Ordnung. Die Eltern seien trotzdem erschreckend selbstbezogen gewesen, und die Kinder hätten immer nur an zweiter Stelle gestanden. „Diese Familie war völlig untauglich für die Erziehung von Kindern“, so der Richter. Zwei geprügelte Kinder, schwere Verletzungen, ein gebrochener Oberschenkel und am Ende ein zu Tode geschüttelter Säugling und sein Zwillingsbruder, der vielleicht nur durch einen glücklichen Umstand überlebt hat, markieren ein soziales Schlachtfeld, das nicht als Fassungslosigkeit hinterlässt. Am Ende bleiben Fragen, deren Beantwortung ein Urteil nicht leisten kann. Dass sich die vom Richter attestierte „Untauglichkeit einer Familie zur Erziehung von Kindern“ erst nach dem Tod eines Säuglings öffentlich dokumentiert, bleibt als innerer Schock des Beobachtens zurück. Ein Kind ist gestorben …

Der Täter hat ein Facebook-Profil: Sebastian R. / Hat bei Restaurant Schwanenstuben gearbeitet / Ist zur Schule „St. Nikolaus Hauptschule Kalkar“ gegangen / aus Krefeld / 19 Freunde.
Am 16. Juli 2014 hat er eingetragen: Wer meint ich kann nicht mehr und habe aufgegeben der soll aufpassen Ich komm immer zurück und dann stärker als vorher!!!!!!!!
Am 24. Juli 2014 hat er eingetragen: Meine neue Anschrift ist die JVA Duisburg.
11 Mai 2013: Ich danke allen für die Glückwünsche … Ohhh man bin ich glücklich und stolz ganz besonders auf meine Dich Mein schatz … Ich liebe euch.
Am 11. Mai hat seine damalige Lebensgefährtin an die Chronik geschrieben: ich liebe dich auch.