Harald Kunde war 27 und Forschungsstudent in Leipzig, als das Unfassbarerwartbare passierte. Es war der 9. November 1989. Die Mauer fiel und Kunde war …. im Kino.
Die Geschichte, die du dazu erzählt hast, fand ich extrem spannend und interessant und ich würde sie gern noch einmal hören.
Kunde: Na ja – so spannend ist diese Geschichte vielleicht gar nicht. Sie ist jedenfalls, sagen wir es mal so, nicht so ungewöhnlich wie es scheint – zumindest in Anbetracht dessen, was da passierte, ist die Geschichte fast schon banal. Es konnte ja niemand genau wissen, wann und wie das [der Mauerfall] passiert, aber es herrschte natürlich die ganze Zeit schon eine sehr aufgeheizte Stimmung
Kurzer Rückblick in die Geschichte.
Kunde: Schon seit dem Sommer des Jahres ‚89 waren viele Leute über Ungarn in den Westen ‚gegangen‘ und es war – sozusagen innerhalb der verbliebenen DDR – schon spürbar, dass da eine Zäsur anstand; dass da etwas implodieren würde.
Aber es gab, wenn ich das richtig sehe, keine exakten Prophezeiungen.
Kunde: Richtig. Alle ahnten etwas, aber was und wie genau – das wusste niemand.
Bei Leipzig fallen mir natürlich sofort die Demos ein.
Kunde: Richtig. Es ging dann los mit den entscheidenden Demonstrationen um den Ring in Leipzig. Da habe ich damals gelebt. Für mich war der 9. Oktober eigentlich der entscheidende Termin. Der 7. Oktober war der letzte Jahrestag der DDR – es war der 40., um genau zu sein. Damals sagte Gorbatschow zu Honecker die entscheidenden Worte: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‘ Danach war allen klar: Da wird ein Kapitel endgültig abgeschlossen. Natürlich hätte es auch anders kommen können. Niemand von uns Leuten, die damals um den Ring gingen – zu diesem frühen Zeitpunkt des 9. Oktober – niemand von uns wusste, ob es klappen würde, oder ob die militärischen Kräfte nicht doch eingreifen und schießen würden.
Ihr hattet Peking im Kopf?
Kunde: Natürlich. Jeder dachte an Peking und die grauenhaften Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens. In Leipzig ging es ja dann von Montag zu Montag in Riesenschritten voran. Irgendwann trat Honecker zurück und spätestens dann war klar: Da ist ein Sog, den niemand mehr aufhalten kann.
Also doch erwartbar, was dann passierte?
Kunde: Ich würde sagen, es war trotzdem überraschend, dass in der Nacht vom 9. zum 10. November tatsächlich die Mauer auf ging. Das war ja sogar für die Verantwortlichen mehr als überraschend.
Schabowski?
Kunde: Genau. Wir erinnern uns an diese denkwürdige Pressekonferenz und das Kuddelmuddel mit Herrn Schabowski. Es ging um „die souveräne Entscheidung des Bürgers zu reisen, wohin er will. Wir haben heute eine Entscheidung getroffen, die es jedem Büger der DDR ermöglicht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen“.
Und dann kam die Frage der Fragen: „Wann tritt denn das neue Reisegesetz in Kraft? Gilt das ab sofort?“
Kunde: Und dann der Satz der Sätze: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen […] beantragt werden. […] Das tritt … nach meiner Kenntnis ist das sofort. Unverzüglich.“ Da gingen natürlich bei den Grenzern gleich die Alarmglocken, aber es war der Punkt der Weltgeschichte erreicht, an dem es kein Halten und kein Zurück mehr gab.
Und wo warst du?
Kunde: Ich selber aber war damals eben nicht in Berlin sondern in Leipzig und verrückterweise fand dort gerade die Premiere eines Films über den damals wichtigen DDR-Künstler Werner Tübke statt. Der hatte in Bad Frankenhausen in Thüringen ein gigantisches Monumentalgemälde angefertigt. Dabei ging es um die frühbürgerliche Revolution, wie es im DDR-Deutsch hieß. Es ging also um den Bauernkrieg, Müntzer und all diese Konstellationen und die Achse Luther-Müntzer. Es ging auch um Rebellion. Das war damals ein gigantischer Staatsauftrag, an dem Tübke zehn Jahre gearbeitet hat. Tübke war ein sehr intelligenter Künstler, der in seinem Bild viele, viele Subtexte untergebracht hat, die von den Funktionären entweder gar nicht begriffen wurden oder erst im Verlauf der Geschichte entschlüsselt werden konnten. Insofern war das auch für uns, die wir ansonsten mit Staatskunst längst nichts mehr am Hut hatten, interessant, diesen Film zu sehen. Das also war meine unmittelbare Realität dieses Donnerstagabends damals in Leipzig. Es gab kein Internet und gar nichts. Wir hatten natürlich trotzdem immer Westfernsehen geguckt. Hans Joachim Friedrichs war quasi unser großer Begleiter des Umbruchs, aber an diesem Abend für uns eben nicht: Wir waren ja beim Film und anschließend wurde noch gefeiert und geredet.
Lange Nacht also.
Kunde: In meiner Erinnerung war ich kurz nach Mitternacht zuhause und habe mich – quasi ahnungslos – schlafen gelegt. Meine damalige Freundin war Kunsterzieherin und die musste am anderen Morgen früh aufstehen. In meiner Erinnerung war es so gegen halb sieben. Das war dann der Punkt, an dem ich wachgerüttelt wurde mit den Worten: „Die Mauer ist auf. Die Mauer ist auf.“ Ab da war das dann also Realität. In Wahrheit ist es ja auch erst kurz vor Mitternacht dazu gekommen. Wer damals in Berlin war, ist natürlich dort gewesen. Das war ich eben nicht. Aber es war klar, dass wir so schnell wie möglich nach Berlin wollten.
Musste man irgendwas tun, um nach Berlin zu können?
Kunde: Während meine Freundin in der Schule war, bin ich zum Einwohnermeldeamt gegangen: riesige Schlange – denn man brauchte trotz alledem noch einen Stempel im DDR-Ausweis, der quasi die Erlaubnis zum Rauskommen darstellte. Diejenigen, die in der Nacht los sind, die hatten natürlich keinen Stempel. Es kam aber dann gleich die Anordnung: Wer am morgen kommt, braucht einen Stempel …
… du meinst, um nach Berlin zu kommen ?
Kunde: Ja genau – um nach Berlin fahren zu können. Und den Stempel hatten wir dann. Wir waren insgesamt vier Personen – meine Freundin, ich und ein befreundetes Pärchen. Am Samstagvormittag sind wir im Trabi unserer Bekannten von Leipzig aus Richtung Berlin aufgebrochen. Die Autobahn war – zumindest bis kurz vor Berlin – relativ frei. Dann kam der Dauerstau: Alles Ossis auf der großen Piste. Irgendwann waren wir dann endlich in der Stadt und hatten dort auch für eine Nacht Unterkunft bei Freunden dieses anderen Pärchens. Diese Leute, bei denen wir unterkamen, waren ungefähr vier Wochen vorher noch mit allen dazugehörigen Repressionen ausgereist.
Was müssen die gedacht haben?
Kunde: Die haben uns jedenfalls relativ kühl empfangen, weil sie das Gefühl hatten: „Das kann doch nicht wahr sein. Wir sind unter solchen Schwierigkeiten raus gekommen und jetzt kommen die alle nach und jeder kann einfach rüber. Das ist doch unfassbar.“ Immerhin haben sie uns diese eine Nacht beherbergt, so dass wir an diesem Abend die Kneipenszene von Westberlin erkunden konnten. Am Sonntag – und das für mich ein ganz tiefes Erlebnis – fanden zwei Dinge statt: Einmal gab es ein Konzert in der Berliner Philharmonie unter Daniel Barenboim. Das war sozusagen ein Willkommenskonzert für die Ossis – für uns also: Da kam man mit dem blauen DDR-Ausweis umsonst rein und es wurde Beethoven gespielt. Das war ein unglaublicher Moment, in dem sich das Gefühl einstellte: Jetzt ist alles möglich. Jetzt steht uns die Welt offen.
Haben die die 9. gespielt?
Kunde: Nein, ich glaube, es war ein Klavierkonzert. Die 9. war es nicht. Die mussten das ja wahnsinnig schnell auf die Beine stellen. Ich saß dort – in Tränen gebadet. Ich war überglücklich. Das kann man sich nicht vorstellen.
Du sprachst von zwei Ereignissen.
Kunde: Am Nachmittag sind wir dann nach Dahlem gefahren: Das war damals noch der Standort der „Alten Meister“ der Berliner Nationalgalerie und da habe ich dann endlich viele, viele dieser Bilder gesehen, die ich nur aus Vorlesungen kannte oder aus Büchern kannte. Die im Original zu sehen, das war einfach unglaublich. Überwältigend. Ich bin dann tief beglückt abends mit meiner Freundin wieder zurück mit dem Zug nach Leipzig gefahren. Das äußere Leben ging ja weiter. Trotzdem war ab da grundsätzlich alles anders. Es war klar: Das ist nicht mehr zurückzudrehen. Jetzt ist es offen.
Gab es erste Pläne?
Kunde: Klar. Die ersten Pläne waren Reisepläne. Die Frage: Wo kann man denn hin? Ich hatte zwar relativ freizügige Arbeitszeiten, weil ich Forschungsstudent an der Uni war, aber Geld hatte ich logischerweise nicht. Aber man hat das gar nicht als so bedrückend empfunden. Es gab so viele Möglichkeiten – also zum Beispiel war die nächste Stadt dann München. Die Tickets dahin konnte man natürlich noch mit Ostgeld bezahlen. In München konnten DDR-Bürger in großen Schlafsälen unterkommen – nicht, um dort zu bleiben, sondern einfach, um ein oder zwei Nächte München zu entdecken. Das haben wir also gemacht. In der ersten Nacht waren wir ganz diszipliniert und pünktlich in der Unterkunft: Man musste, glaube ich, um 23 Uhr dort sein. Das war uns dann in der zweiten Nacht nicht mehr möglich. Diese Nacht mussten wir uns, weil wir zu spät waren, irgendwie um die Ohren schlagen. Ein Zimmer konnten wir uns mit Ostmark natürlich nicht leisten. Das war schlicht undenkbar. Wir mussten dann nur den Rückzug erreichen – dafür hatte man ja wieder das Ticket und im Zug konnte man dann genug schlafen. Das war also sozusagen der unmittelbare Bereich des Mauerfalls.
Und dann?
Kunde: Danach hat sich ja auch einiges sehr schnell entschieden. Es gab viele, die versucht haben, sich politisch zu engagieren und in diesem Umwälzungsprozess eine Rolle zu spielen. Stichwort: Neues Forum. Ich habe zwar auch als Mitglied meine Unterschrift unter das Neue Forum gesetzt – das war so um den 17. Oktober herum, als noch gesagt wurde: Wer da mit Adresse unterschreibt, den wird die Stasi verfolgen. Da ist natürlich nie mehr was passiert, aber man wusste es ja nicht so genau. Ich habe dann für mich selber gemerkt, dass ein Engagement im politischen Bereich nicht meins ist. Ich habe zwar versucht, in meinem Bereich etwas zu gestalten, aber ich hab mir gedacht: Diese Chance der Offenheit ist ja genau das, wovon du immer geträumt hast. Es war dann quasi ein Fulltime-Job, entsprechende Netzwerke aufzubauen und aus dem engen Dunstkreis dieser komischen DDR herauszukommen. Dieser Dunstkreis war zwar vorher schon geistig, aber eben nicht im physischen Sinn überwindbar.
Wie alt warst du?
Kunde: Ich war damals 27. Es hätte von mir aus auch gern zehn Jahre früher passieren können, aber: War eben nicht so. Andererseits habe ich dann auch bei vielen Freunden und Kollegen gemerkt: Wer damals beim Mauerfall gerade 20 war, für den war das natürlich total toll, aber viele sind in eine ungekannte Freiheit entlassen worden und hatten längere Zeit Probleme mit eben dieser plötzlichen Freiheit. Kaum vorstellbar, aber so war es. Man musste sich ja neu sortieren und das Wichtige vom Unwichtigen trennen. Ich will nicht sagen, dass mir das immer gelungen ist, aber ich hatte ja das normale Studium bereits hinter mir und verschiedene Systeme im Kopf – also auch, was die Kunst- und Literaturgeschichte angeht und war dadurch vielleicht ein bisschen geschützt, um nicht gleich in der Überfülle zu ertrinken und mit den Worten „Waaahnsinn!“ irgendwie unterzugehen.
Gab es aus deiner Sicht eine Art Abziehbild vom Ossi?
Kunde: Ich war nie empfänglich für Schnee-Jeans und Bananen. Ich esse immer noch gern Bananen, aber … das war ja sprichwörtlich: Der Ossi auf der Suche nach Bananen. Ich weiß gar nicht, warum …
Was sind Schnee-Jeans?
Kunde: Das sind so ausgewaschene Jeans. Die hießen im Osten eben Schnee-Jeans. Die gab‘s natürlich auch im Westen, aber vielleicht hatten die da einen anderen Namen.
Ich höre das gerade zum ersten Mal.
Kunde: Das war damals der Inbegriff des Ossis. Schneejeans, VoKuHiLa und auf der Suche nach Bananen.