Schreibkraft
Heiner Frost

„Lass mal Kinder ausnutzen.”

Da sitzt er: Irgendwie ein Klotz. Massig. Bullig. Intelligenzquotient 68. Was tut das zur Sache? Ist schon das Erwähnen diskriminieren? Vielleicht. Herr A. lebt in einem LVR-Wohnverbund. Er ist 2001 geboren und im Lauf des Verhandlungsvormittags wähnt man sich zusehends in eine paralelle Galaxis verpflanzt.

Wollenwünschen

Die Anklage gegen Herrn A.: Sexuelle Belästigung sowie sexueller Missbrauch in zwei Fällen, in einem davon tateinheitlich mit Körperverletzung, sowie Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. Herr A. scheint sein Wollenwünschen und seine Lust nicht recht kontrollieren zu können. Wie sonst soll man erklären, dass da einer einem Mitbewohner ans Glied fasst – immerhin außerhalb der Kleidung? Eigentlich ist es nicht nur ein Mitbewohner. Zwei Mitbewohner haben A. angezeigt.

Fingerspitzengefühl

Herr A. und seine beiden mutmaßlichen Opfer sind eigentlich Schutzbedürftige – sie sind Menschen, die mit dem Leben nicht wirklich allein zurechtkommen könnten. Schon die Befragung der jungen Männer setzt Fingerspitzengefühl voraus, denn – so sehr sie der Hilfe bedürfen – können sie nicht nach dem Motto befragt werden wie andere Zeugen. Man muss erst durchdringen zu ihnen. Für den Vorsitzenden Richter und die anderen Prozessbeteiligten ist die Sache nicht einfach.

Gedankenverloren

Herr A. sittzt neben seinem Verteidiger und scheint manchmal abzuschweifen, gähnt gedankenverloren. Sein Leben – was soll man schreiben? Man kann nicht ahnen, wie er es empfindet. Förderschule, keine Ausbildung. Die Arbeit in einer Werkstatt der Lebenshilfe: „Zu anstrengend.” „Was machen Sie so tagsüber?”, fragt der Vorsitzende. „Fernsehen, aufräumen, Musik hören.” „Treiben Sie Sport?” „Nein.” „Haben Sie einen Computer?” „Nein.”

„Ist vielleicht besser für mich.”

A. hatte ein Handy. Man hat es eingezogen. Er möchte es nicht zurück. „Ist vielleicht besser für mich.” „Haben Sie Pläne für die Zukunft?” „Dass nicht wieder so eine Scheiße passiert.” „Wenn Sie fernsehen – was schauen Sie sich an?” „Horror-Filme.” Man weiß, wie sich A.s Leben von außen anfühlt, aber es gibt keine Innenansicht. „Ja, das mit dem Telefon stimmt”, sagt A. dem Vorsitzenden. „Ich habe einer Person ein Bild geschickt.” A. hat das Bild eines Jungen – unbekleidet – verschickt. Das Bild: eine Art Tauschobjekt. „Ich dachte, der schickt mir dann auch was.” A. fühlt sich, sagt er, zu Männern, Frauen und Kindern hingezogen. „Vielleicht würde ich gern mit Kindern Sex haben.” „Darf man das?” „Nein.” „Würden Sie es denn trotzdem machen?” „Jetzt nicht mehr. Ich will keinen Ärger haben.”

„Ja. Ein bisschen. Sehr.”

Dass A. die Mitbewohner „unten angefasst” haben soll, leugnet er und „weiß nicht, warum die das sagen. Keine Ahnung, wie die darauf kommen.” Es hat – vor den hier in Rede stehenden Taten – bereits andere Vorfälle gegeben. „Wissen Sie, was am Ende dieses Prozesses passieren könnte?” „Ich muss dann in die Forensik.” „Haben Sie Angst davor?” „Ja. Ein bisschen. Sehr.”
Es ist der Punkt erreicht, an dem der Vorsitzende mit dem Verlesen von Chats beginnt – allesamt von A.s Handy. A. wird in den Chats zu „Maren 100”. „In den Chats bin ich ein Mädchen.” Es beginnt eine Lesung der besonderen Art. Der Vorsitzende markiert Rollen:

Sagen Sie, sagt er …

„Sagen Sie: Lass uns mal Kinder ausnutzen. Sagt der andere: Ja. Sagen Sie: Sei mein Sklave.” Immer wieder die Frage: „Hast du ’nen Bruder?” Man rutscht in eine entgleiste Welt. Es ist eine Welt ohne Bremse – eine Welt, in der Maren andere auffordert, Sex zu haben, Bilder zu schicken – eine Welt, in der ein Satz wie „Lass mal Kinder missbrauchen” schreckgespenstartig unauslöschbar wird. Und A. stitzt da, hört all das und wirkt irgendwie teilnahmslos.
Die Chats: eine Litanei, die sich tagelang im eigenen Kopf einnistet: „Sagt der, sagen Sie, fragt der andere, antworten Sie …”
Da legt, scheint es, einer die Fesseln ab und wird zum Sklave seines Wollens. Da ist einer, von dem man nicht weiß, ob man ihn fürchten soll. Vielleicht nicht ihn, denkt man – vielleicht ist es dieses Potenzial, das er beherbergt, ohne selbst Kontrolle darüber zu haben. In letzter Zeit, erfährt man, hat A. auch Leute in der Einrichtung angegangen. Man hat ihn für eine Woche „eingewiesen” (Psych-KG).

[Die Psychisch-Kranken-Gesetze bezeichnen die deutschen Landesgesetze, die die freiheitsentziehende Unterbringung psychisch kranker Menschen im Falle akuter Selbst- oder Fremdgefährdung in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus regeln. In vielen Bundesländern werden sie als PsychKG abgekürzt.]

… gegen Dinge und Personen

Jetzt sitzt er da und sagt: „Ich will das Handy nicht zurück.” Er wird wissen, warum er das sagt. Ist es „dasbisschensehr” Angst vor der Forensik? Ist da ein Maß an Selbsteinschätzung, das irgendwie im Widerspruch zu A.s Taten zu stehen scheint? A.s Betreuer erwähnt „Gewaltausbrüche gegen Dinge und Personen”, „Bedrohung von Mitarbeitern”, „Androhung von Gewalt”. Ob er eine geeignete Einrichtung für jemanden wie A. kenne, möchte der Vorsitzende wissen. Der Betreuer schüttelt den Kopf. Langsam aber sicher wird klar, dass all das hier sich in einer Lücke von Zuständigkeiten abspielt.
Da ist einer, der Hilfe braucht, Unterstützung und Wegweiser in seiner  Schrankenlosigkeit. A., erfährt man, hat eine Freundin. Sie ist eher Objekt – nicht etwa für Anzüglichkeiten – sie ist, beginnt man zu ahnen, eine Art Mobilar in A.s Leben. Es zieht ihn anderswohin (Hast du ’nen Bruder? Wie alt?)
Eines von A.s Opfern sagt aus – im Beisein seiner Betreuerin. O. hat, am Tag nachdem A. ihn angefasst hat, sein Zimmer zerlegt. Das Zerlegen: ein Ventil. Hilferuf aus einer angekratzten Welt. O. hat, sagt der dem Vorsitzenden, Angst vor A. Der hatte ihn nicht nur angefasst – „der hat mich auch gekniffen.” „Hat das weh getan?” „Ja.” „Wo?” „Zuhause.”

Ein Irrgarten

Alles hier ist ein Irrgarten. Wer weiß denn, was bei wem ankommt? Da sind die Menschen aus dem Maschinenraum der Justiz und da sind A. und seine beiden Opfer. Niemand weiß wirklich, wie sie die Welt sehen. A. weiß, dass er nichts mit Kindern anstellen darf. Aber wenn die Zeit kommt, gerät der Tanker des Gesetzes außer Sichtweite. „Sagen Sie, sagt der andere …” „Sollen wir Kinder ausnutzen?” Ist A.s Radar funktionstüchtig? Was ist mit dem Kompass für Ja und Nein? Welches Werkzeug wird hier gebraucht? Welcher Maßstab muss angelegt werden?
Ein Heilerziehungspfleger sagt aus. Er ist Wunschzeuge: einer, der vor jeder seiner Antworten überlegt – immer die richtigen Worte findet; einer, der sich der Tragweiten bewusst ist; einer, dessen Instrumente der Wahrnehmung präzise geeicht sind; einer, dem man die Erfahrung anmerkt; einer, der nichts verharmlost und nichts verdammt; einer, dem man abnimmt, dass er zum Wohle derer unterwegs ist, mit denen er umgeht. Und doch ist auch er ratlos. Wohin mit A.? Eine Einszueinsbetreuung ist bewilligt. „Und was bedeutet das jetzt genau?”, fragt die Oberstaatsanwältin, „sitzt dann ständig jemand neben dem?” Das wäre der Extremfall, „aber natürlich kann der Klient auch sagen, dass er das jetzt nicht möchte.” Letzte Intimitäten.

Strafverhandlung gegen einen 22-Jährigen  wegen sexueller Belästigung, sexuellem Missbrauchs in zwei Fällen, in einem davon tateinheitlich mit Körperverletzung, sowie des Besitzes und der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. Laut Staatsanwaltschaft sollen sich die Taten zwischen Januar und August 2023 in einem LVR-Wohnverbund in Rees ereignet haben. Zum Hauptverhandlungstermin sind dreizehn Zeugen und ein Sachverständiger geladen.

Ansonsten verneinend

Der zweite Verhandlungstag gehört den Gutachtern. Viel Neues ist nicht zu erfahren. Herr A.: leicht intelligenzgemildert. Zahlen werden genannt. Die Quotienten dessen, was man Intelligenz nennt: leicht abweichend. „Das liegt an der Tagesform”, erfährt man. A. hat mit dem Gutachter nicht über Sexuelles gesprochen. Kann denn Herr A. Recht von Unrecht unterscheiden? „Kann. Muss aber nicht.” Das zweite Gutachten. Herr A.: wenig sprachbereit. Ansonsten verneinend. Das hatte man so auch noch nicht gehört. Man merkt es sich: Ansonsten verneinend. A.s Einstellung: „Du kannst alles machen. Du darfst dich nur nicht erwischen lassen.” Keine gute Voraussetzung. In letzter Zeit kommt es fast täglich zu Ausfällen: verbal – manchmal auch physisch. Er hinterlässt in der Einrichtung nichts als verbrannte Erde – nicht mehr zu kittende Verhältnisse. Man erfährt, dass es eine kristalline und eine fluide Intelligenz gibt. Erstere besteht aus Faktenwissen, Bildung, Wortschatz und sozialen Kompetenzen. Fluide ist die Form von Intelligenz, die nötig ist, um kreativ zu sein oder die Orientierung zu behalten.

Rückfallgefahr

Herr A. braucht Behandlung. Es ist davon auszugehen, dass sich die „Qualität der Übergiffe” steigern wird. Für Herrn A. ist es unmöglich, Bedürfnisse aufzuschieben. Was gewollt wird, wird unmittelbar gehandelt. Die Grundvoraussetzung für die Unterbringung in der Forensik sind gegeben. Ein Kanzlerinnenwort kehrt zurück: alternativlos. Herr A.  möchte nicht untergebracht werden. Er würde gern bleiben, wo er ist. Aber da rauscht der nächste Begriff heran: Rückfallgefahr. Der Gutachter hält weitere sexuelle Übergriffe für nicht ausgeschlossen. Steigerungen: denkbar. Herr A. verfügt nur über ein eingeschränktes Handlungsrepertoire. Daraus resultiert: Gefährlichkeit. Die Gefährlichkeit bekommt ein Adjektiv beigeordnet: innere. Die jetzige Unterbringung: nicht ausreichend.
Am Ende fordert die Staatsanwältin zwei Jahre und sechs Monate; außerdem die Unterbringung nach Paragraf 63. Die Schuldfähigkeit: vermindert. Herr A.: Eine Gefahr für Dritte.
Der Verteidiger sieht Versäumnisse. Bis zu diesem Zeitpunkt habe man sich nicht wirklich um A. gekümmert. Es soll eine Bewährungsstrafe werden. Es besteht keine aktuelle Gefährlichkeit.

Das Gericht kommt nach einstündiger Beratung zu dem Schluss: Zwei Jahre, drei Monate und sofortige Unterbringung. Herr A. wird also nicht zurück in die vorige Einrichtung gehen. Er wird unmittelbar untergebracht.

Paragraf 63: Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine […] erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Wann Herr A. aus dem psychiatrischen Krankenhaus zurück in die Freiheit kommen wird, ist nicht klar.