Schreibkraft
Heiner Frost

Freischwimmer oder: Elvis weint

Vielleicht müsste man ein Organigramm zeichnen … nein, vielleicht doch nicht: Es würde auch nichts helfen in diesem Durcheinander …

Im Pool

In einem kleinen Dorf am Niederrhein – nennen wir es Frasselt – wird im Februar eine Cannabis-Plantage entdeckt: 1.131 Pflanzen – circa 12 Zentimeter hoch jede einzelne – wachsen im ehemaligen Kellerschwimmbecken einer Waldpension dem Erntedankfest entgegen. Die Staatsanwältin hat hochrechnen lassen: Im jetzt nicht mehr eintretenden Erntefall ginge um 45,2 Kilogramm Marihuana. Eine ansehnliche Menge …

Die Anklage

Klartext: „Strafverhandlung gegen zwei Niederländer (53 und 28 Jahre) sowie zwei Serben (27 und 22 Jahre). Laut Staatsanwaltschaft sollen die Angeklagten mit unterschiedlicher Aufgabenverteilung bis zum 21. Februar eine professionelle Cannabisplantage betrieben haben. Im Rahmen einer Durchsuchung vom 21. Februar wurde diese laut Anklage entdeckt und – es konnten neben weiterem Plantagenequipment – insgesamt 1.131 Marihuanapflanzen entdeckt und sichergestellt werden.“

Das große Besteck

Vier Angeklagte haben sich also zu verantworten: Sechs Verteidiger sind eingerückt. Justiz mit großem Besteck. Zwei Dolmetscher sehen einem anstrengenden Tag entgegen. Im Gerichtssaal klingt es ein bisschen wie in einer Kapelle, in der gebetet wird. Kaum ein Wort, das nicht mit doppelten Echo widerhallt. Der Rhythmus der Übersetzer: nicht synchronisierbar. Der Klangteppich: gelinde gesagt verwirrend. Die Sachlage allerdings übersteigt die akustische Herausforderung. Schon nach 40 Minuten ist man irgendwie orientierungslos.

Faktenregen und Elvis

Es regnet Fakten und man hat keinen Schirm dabei. Erster Versuch: Der erste Angeklagte, nennen wir ihn Elvis, könnte – ließe er sich die Haare schwarz färben – als Double des King of Rock auftreten. Er müsste allerdings singen können. Momentan wäre es der Jailhouse Rock. Elvis sitzt, wie die drei anderen auch, in Untersuchungshaft. Sein Song des Tages: Er hat von nichts gewusst. Er hat nur in dem Haus gewohnt. Ließe sich, fragt man sich, Nichtwissen beweisen? Wie sollte das gehen? Elvis‘ Freundin jedenfalls, nennen wir sie Michaela, ist … wir müssen jetzt ein wenig ausholen …

Familienbande

Das Haus, in dem sich die Plantage befand: Eigentum einer alten Dame. Sie ist über 90 und hat sich, erfährt man, mit ihren Kindern überworfen. Auch mit einer Tochter, die sich von einem Mann – nennen wir ihn X. – scheiden ließ. Der Mann heiratete eine andere und … verstarb. Die alte Dame – nennen wir sie Adelheid – adoptierte daraufhin die Witwe ihres Ex-Schwiegersohnes und Elvis – jetzt schließt sich der Kreis – ist der Freund der Adoptivtochter der Adelheid.

Haus und Hof und Pool

Im Auftrag der alten Dame hat Elvis sich um Haus und Hof gekümmert. Die Miete wurde ihm erlassen. Es gab einiges zu tun. Zimmer im zweiten OG des Hauses waren zu vermieten: Elvis kümmerte sich. Im Februar wurde dann – die Umstände werden noch beschrieben – im Keller des Objektes, in einem ehemaligen Schwimmbad, die Plantage entdeckt, von der Elvis nicht gewusst zu haben vorgibt. Wie doof hätte er denn sein müssen? Wohnt doch im Haus auch eine Dame, die gefühlt jeden dritten Tag wegen Dingen, die nicht näher definiert werden, die Polizei gerufen hat. Da müsste einer doch schwer verwirrt sein, in einem solchen Objekt eine Plantage einzurichten.

Echt jetzt?

Schnell fällt auf, dass Elvis „ein bisschen vergesslich“ ist. „Sind Sie schon einmal bestraft worden?“, fragt der Vorsitzende und Elvis ist sicher: „Nein. Da war nichts.“ Auszug aus dem Bundeszentralregister: Acht Eintragungen stehen zu Buche. „Echt?“, fragt Elvis und der Vorsitzende erteilt Nachhilfe in Vergangenheit. Diebstahl zum Beispiel. Elvis – auch das sei gesagt – ist ledig, hat keine Kinder, trinkt – lange schon – keinen Alkohol mehr und hat – sagt er – mit Drogen nichts am Hut.

Keine Märchen

Der zweite Angeklagte – Wout – neigt zur Ehrlichkeit. „Ich will hier keine Märchen erzählen. Ich sage meinen Kindern immer, dass sie ehrlich sein sollten und genau das will ich auch sein: ehrlich.“ Und – ganz ehrlich: der Elvis wusste nicht nur von der Plantage – „er hat mir den Auftrag erteilt, nach einem Plantagenbetreiber Ausschau zu halten.“ Wout fand jemanden, brachte ihn mit Elvis zusammen und hat fortan nur noch Hand- und Spanndienste verrichtet. Nach dem Betreiber gefragt, wird Wout vorsichtig. Er hat Familie. „Ich möchte dazu nichts sagen“. Gefahr. Für sich. Für die Familie.

Handlanger

Es bleiben zwei weitere Angeklagte. Die sind – hat man den Eindruck – nur handlangerisch tätig. Ein Plantage aufzubauen: Handarbeit. Wout und die zwei Serben: anscheinend niedere Dienstgrade im Plantagenbatallion. Oder doch nur scheinbar? Wie ist die Plantage eigentlich aufgeflogen?

Herr E. und das falsche Kabel

Zeit, Herrn E. ins Handlungsgerüst einzubauen. Herr E. ist Elektriker. Meister. Selbstständig. Ein furchtloser Zeitgenosse. Seit Jahr und Tag kümmert er sich um Adelheids Waldpension, wann immer man ihn ruft – sei es per Telefon oder per Whatsapp. Das Anwesen, so E., sei stark renovierungsbedürftig. Immerhin habe die Adoptivtochter schon einiges in die Wege geleitet. Im Februar dann, wird E. wieder einmal beauftragt, rückt ein und stellt ein verdächtiges Kabel am Hausanschluss fest. Das Kabel: von falscher Farbe und nicht wirklich fachgerecht angebracht. „Da wird man stutzig.“ E. macht Fotos. Sowas muss dokumentiert werden. E. fragt Elvis, ob er wisse, was es mit dem Kabel auf sich habe. Der aber weiß von nichts. E.s Sohn hat eine Vermutung: „Da steckt doch bestimm `ne Plantage hinter.“ Der Rat: „Ruf die Zollfahndung an.“

 

Herrenbesuch

Am Abend des Entdeckungstages, schellt es an E.s Haustür. Drei Herren stehen da – einer von ihnen: Elvis Eine Schreierei: „Du hast kein Kabel gesehen!“ „Doch. Habe ich.“ „Hast du nicht!“ „Doch!“ „Wenn du das meldest, wirst du ein blaues Wunder erleben!“ „ Ich lasse mir nicht drohen!“, brüllt E. noch und schickt das A-Wort hinterher.
Als die Herren weg sind, setzt E. die Geschehnisse in Gang, zur Festnahme von Elvis, Wout und den beiden Serben führen. Am nächsten Tag morgens um 6 Uhr rückt die Polizei in Frasselt ein. Im Keller der Waldpension: Tatsächlich eine Plantage. Beiname: professionell. Alle Beteiligten sind sich einig: Elvis hat‘s gewusst. Laut Wout hat der die Sache auch geplant.

Illegale

Herr E. übrigens hat seine Fotos und ein Video vom Besuch der drei Herren auch an Menschen durchgeleitet, die es interessieren könnte. Es handelt sich, versteht man richtig, um Menschen, denen ihr Erbteil „abhanden gekommen“ ist. Adelheids Adoptivtochter, attestiert Herr E., ist eine, „die sich was erschlichen hat“. Herr E. hat noch weitere Beobachtungen gemacht: „In der Pension hausen Illegale.“ Schwarze hat E. gesehen und Inder.
Es folgt eine Phalanx von Polizeibeamten. Es folgt: das Verlesen verschiedener Schriftstücke. Der Tag: ein Kaugummi. Das Verlesen: Es gehört zum juristischen Pflichtprogramm, aber: Kennt man die Inhalte nicht, versteht man ohnehin aufgrund von Tempoüberschreitung und Betonungswegfall beim Lesen: nichts. Und die, die‘s schon kennen, würden‘s auch nicht brauchen. Aber: Es muss sein. Der letzte Zeuge des Tages – er hat geduldig auf dem Gerichtsflur ausgeharrt, wird auf den zweiten Tag verlegt. Mehr als acht Stunden sind vergangen, als der Gerichtstag endet.

Ein Unwissender, drei Wissende

Man rekapituliert: Vier Angeklagte – einer gibt vor, nichts gewusst zu haben. Die drei anderen räumen einiges ein und widersprechen der Darstellung von Elvis. Er, sagen sie, hat von allem gewusst. Was noch: Man hat einen Moment gebraucht, um die familiären Verhältnisse zu verstehen. Herr E. arbeitet nicht mehr für Adelheid und ihre Stieftochter. Adelheid, denkt man, wird tatsächlich von den Vorgängen im Keller nichts gewusst haben. Man beneidet die Dolmetscher nicht: Sie sind leergesprochen am Ende eines langen Tages. Der nächste Verhandlungstag – so der Plan – soll ein Urteil bringen. Vorher wird es weitere Zeugenaussagen geben, ein Plädoyer der Staatsanwaltschaft, sechs Verteidgerplädoyers, ein Urteil, eine Urteilsbegründung. Es könnte länger dauern.

Finale

Der zweite Tag bringt zwei letzte Zeugen. Ihre Aussagen fördern keine neuen Einsichten zutage. Es gibt keine neue Informationen. Elvis‘ Verteidigung hat Beweisanträge zu stellen. Letzte Rettungsanker sollen zeigen, dass Elvis von nichts gewusst hat. Die Anträge werden allesamt abgelehnt. Die Kammer schlägt mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft vor, die Zahl der Pflanzen in der Plantage auf 853 zu reduzieren und demnach die Setzlinge aus der Pflanzenzählung zu streichen. Ende der Beweisaufnahme.

Rundflüge

Plädoyers sind – mehr oder weniger – faktengestützte Rundflüge durch eine Tat. Die Staatsanwaltschaft sieht die Vorwürfe als erwiesen. Sie sieht auch eine Hierarchie innerhalb des Quartetts. Elvis steht auf der obersten Stufe – hinter ihm Wout. Zuletzt die beiden Serben: Sie sind nichts als Handlanger. Elvis‘ Einlassung, er habe nichts gewusst: nicht mehr als eine Schutzbehauptung. Zwei Jahre, acht Monate. „Sie waren der Initiator.“ Schon während des Plädoyers der Staatsanwältin wird Elvis unruhig. Man spürt Betroffenheit. Später dann: Tränen. Elvis weint. Für Wout fordert die Staatsanwältin zwei Jahre – auszusetzen zur Bewährung. Die beiden Serben: Handlanger. Teilgeständige Einlassungen. Einer der beiden war an dem „Herrenbesuch“ bei Herrn E. beteiligt: Ein Jahr, acht Monate – auszusetzen zur Bewährung. Der zweite der beiden Serben: auch er nur ein Handlanger. Ein Jahr, sechs Monate – auszusetzen zur Bewährung. Für Wout und die beiden Serben können die Haftbefehle außer Vollzug gesetzt werden. Für Elvis wird die Fortdauer der Haft beantragt. Stückweise trifft Erkenntnis bei ihm ein. Es zerrt an ihm. Das ist deutlich zu merken.

Wie verrückt muss Mann sein?

Elvis‘ Verteidiger holt weit aus – braucht fast eine Stunde, um den beantragten Freispruch zu begründen. Klar haben die anderen drei den Elvis hingehängt. Die Vorlage: geliefert durch die Anklage. „Was soll ich denn, bitte schön, verteidigen?“ – eine Frage wird zum Orgelpunkt – geknüpft an eine ebenfalls wiederkehrende Feststellung: Niemand kann so verrückt sein, unter den gegebenen Umständen eine Plantage einzurichten! Täglich hätte Elvis mit Entdeckung rechnen müssen. Wie kann einer angenommene 30.000 Euro oder vielleicht sogar mehr in ein Unternehmen investieren, das jeden Tag hätte auffliegen können? Der „Herrenbesuch“: Elvis war nicht der Wortführer. Nie-mals! „Du wirst ein blaues Wunder erleben“, soll Elvis gesagt haben. Das sei doch wohl komplett außerhalb des Sprachhorizonts seines niederländischen Mandanten. Nein, nein, nein: Niemand kann so verrückt sein, sich auf so etwas einzulassen. Freispruch. Und wenn nicht das, dann eine Strafe zu Bewährung. Elvis weint. Versteht da einer die Welt nicht mehr? War er’s denn nicht? Oder ist er ein Schauspieltalent?

Vorlage

Für die anderen Verteidiger dient der Antrag der Staatsanwältin als Vorlage. Ja genau: Bewährungsstrafen. Für Wout und für den beiden der Serben, der als „Bewässerer“ der Pflanzen für 1.500 Euro eingeflogen und überdies geständig war. Beim zweiten Serben holt der Verteidiger etwas aus. Im Keller der Waldpension war nicht eine Plantage: Es waren zwei. Eine war fertig. Mit der hatte sein Mandant nichts zu tun. Die andere: erst in Vorbereitung. Zu reden wäre vom straflosen Versuch einer Vorbereitungshandlung. Und der Besuch bei Herrn E.? Also bitte … Ein Mann, der kein Wort Deutsch spricht und glaubt, da solle jemandem Geld für sein Schweigen angeboten werden – „ist das strafbar?“ Aber gar nicht. Freispruch. „Der denkt doch, als er mitfährt, nicht wie wir Juristen.“ Wohl wahr. Und wenn es denn doch zu einer Verurteilung kommen sollte: Ein Jahr. Bewährung. Natürlich. Die Kammer wird in 90 Minuten ihre Entscheidung bekanntgeben.

Ein Ahungsloser?

Man rekapituliert? Elvis, ein Ahnungsloser? Das Resttrio: Die Männer haben ihr Heil im Gestehen gesucht: Flucht nach vorn. Was gestanden wird, muss nicht notwendig die Wahrheit sein. Wie stünde Elvis denn da, wenn er gesagt hätte „Ich habe mitbekommen, dass da im Keller eine Plantage war, aber – ganz ehrlich: Ich wollte das nicht melden. Ich hatte Angst“? Und was, wenn Elvis wirklich nichts wusste? Wäre Wout dann der Strippenzieher? Wieder einmal darf man froh sein, nicht vorn am Tisch der Kammer zu sitzen. Noch ein Gedanke: Wenn’s der Elvis nicht war – stünde er trotzdem besser da, wenn er gestanden hätte, was nicht stimmte? Wenn er also ein Wissen zugegeben und mit seiner Angst argumentiert hätte? Niedrigere Strafe für eine als Wahrheit gestrichene Lüge? Eine interessante Variation …

Urteile

Elvis – da ist die Kammer sicher – Elvis war der Master Mind. „Man kann Ihnen nicht glauben“, sagt der Vorsitzende. Der Angesprochene: sichtbar fassungslos. Die Kammer geht über den Antrag der Staatsanwältin. Nicht zwei Jahre und acht Monate: Drei Jahre. Gewerbliches Handeltreiben, Bedrohung, versuchte Nötigung. „Da gab es eine klare Aufgabenteilung und Sie waren der Regisseur.“

Wout wird wegen Beihilfe zum Drogenhandel verurteilt. Dazu kommt – wie bei Elvis – als Resultat des „Herrenbesuchs“ bei Herrn E. eine Verurteilung wegen Bedrohung und versuchter Nötigung. Zwei Jahre – auszusetzen zur Bewährung. Bewährungszeit: vier Jahre.
Aus dem Freispruch, den der  Verteidiger des ersten Serben gefordert hatte, wird nichts. Immerhin: Er wird „nur“ wegen des „Herrenbesuchs“ verurteilt. Beihilfe zum Handeltreiben? Nicht nachweisbar. Sechs Monate – auszusetzen zur Bewährung. Bewährungszeit: vier Jahre.
Der „Bewässerer“ wird wegen Beihilfe verurteilt. Er gehörte ja nicht zum Besuchskomitee. Ein Jahr, drei Monate. Bewährungszeit: vier Jahre.
Drei Beteiligte, die nicht zurück in Haft müssen. Elvis: konsterniert. Fassungslos. Unschuldig? Es wird, darf man vorhersagen, eine Revision geben. Die Frage beißt sich fest: „Kann einer so verrückt sein?“