Museen sind wie Wasserbecken: Man springt hinein, taucht ab und sieht die Welt aus anderer Perspektive. Museen sind manchmal auch Zeitmaschinen – sie bieten Gelegenheit, Verbindung zum Vergangenen aufzunehmen, auch wenn gute Kunst immer das Vergangene ins Gegenwärtige holt. „Alice Springs. Retrospektive“ heißt eine neue Ausstellung im Museum Schloss Moyland – zu sehen bis zum 2. Februar 2025.
Gruß von Deneuve
Fährt man derzeit durchs Niederrheinland, grüßen von Großplakaten zwei Porträts der Catherine Deneuve: lasziv das eine und irgendwieunschuldiginteressierthintergründig das andere.
Die Falle
Ja – es geht um Fotografie. Fotografie kann beim Sehen leicht zur Falle werden, weil man allzu schnell glaubt, das vermeintlich Reale erfasst zu haben. Alice Springs – geboren als June Brown, nach ihrer Heirat June Newton – begann als Schauspielerin und wurde später bekannt als Fotografin Alice Springs. Vor allem ihre Porträts gehören zu den Bildern, die man – einmal gesehen – nur schwer vergisst.
Die Zeit eingefangen
Da hat eine die Zeit eingefangen und mit ihr die Menschen eben dieser Zeit. Da kennt sich eine auf beiden Seiten der Menschenleinwand aus: Da ist die äußere Leinwand des Schauspiels und da ist die innere Leinwand hinter der Fassade. Ganz selten nur sind die Blickwinkel synchron. Ganz selten findet sich auf beiden Seiten dieselbe Geschichte.
Erinnerung
Dass Alice Springs aus ihrer Zeit als Schauspielerin die Erinnerung an das Gefühl des Präsentierens in ihr späteres Leben als Fotografin übertragen konnte, meint man in vielen ihrer Porträts zu spüren.
Balance halten
Springs hatte die Großen ihrer Zeit vor der Kamera und was sie an Porträts geliefert hat, zeigt die große Kunst des Sicheinfühlenkönnens. Beim Porträt geht es immer darum, nicht einfach dem Gegenüber zu erliegen, sondern die magische Balance zwischen Fordern und Befreiung zu finden.
Helmut Newton
Muss man über Helmut Newton sprechen? Einen Augenblick vielleicht. Es liegt an dieser Geschichte, denn da ist der Punkt, an dem June Newton einen Foto-Auftrag für ihren erkrankten Mann ausführte: Der Beginn eines zweiten Lebens. Man möchte Alice Springs nicht über ihren Mann definieren und man muss es auch nicht, denn da sind zwei ebenbürtige Künstlerpersönlichkeiten, die ihre Eigenständigkeit aus der Vertrautheit mit dem Sehen des jeweils anderen schöpfen.
Us and them
Alice fotografiert Helmut – Helmut fotografiert Alice … und dann fotografieren beide die anderen. Us and them. Da entstehen wunderbarunwiderstehliche Momentaufnahmen – nein: Es sind keine Momentaufnahmen. Da sind Bilder für die Ewigkeit entstanden. Da trifft man im Museumsschwimmbecken auf all die großen Schauspieler, Designer, Modeschöpfer, Regisseure und unternimmt – ohne sich als Voyeur zu fühlen – einen Tauchgang in deren Seelen.
Leben statt präsentieren
Leben statt Präsentieren. Man atmet Zeit ein. Mit jedem in der Ausstellung zurückgelegten Meter steigt der Großartigkeitsfaktor. Überwältigt schreitet man am Wunderbaren vorbei.
Kein Wettbewerb
Alice Springs hat nicht nur Porträts fotografiert – es finden sich Werbefotos, Aktaufnahmen – und immer wieder auch Bilder von Helmut Newton. Das Gute ist: Die Ausstellung wirkt nicht wie ein Wettbewerb. Es entsteht der Eindruck, dass da zwei Bilderwelten im Dialog stehen – dass die eine ohne die andere einsamer wäre … dass sie sich doch nicht brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten.
Jetset
Natürlich: Da hat der Jetset ins Bild gefunden, aber – denkt man – es könnten auch Porträts von Unbekannten hier hängen – von Menschen, die man nie sah. Im gleichen Augenblick steht man vor einem der Porträts und begreift: Auch hier ist jemand zu sehen, den man nur zu kennen glaubte. Wiedersehen mit Unbekannten …
Bilder ohne Lärm
Es tauchen unbekannte Dimensionen eines Innenlebens auf, ohne sich anzubiedern. Es gibt lärmende Bilder. Nicht hier. Alice Springs hat eine ruhige Bildwelt inszeniert – eine, die vom Innen des Fotografierten lautlos ins Innen des Betrachters wechselt, ohne mit dem Finger auf etwas zu zeigen.
„Alice Springs. Retrospektive“ ist eine wunderbare Ausstellung, denn hinter dem Gesehenen steht eine Einstellung – eine Haltung. Man vergisst die Zeit. Unbedingt hingehen, viel Zeit mitbringen und in Ruhe eintauchen.