Schreibkraft
Heiner Frost

Zwei Wölfe

Vorspann

15. 08. 2012, Landgericht Kleve, Sehr geehrter Herr X., in der Stravollstreckungssache X., geb. am .. .. …. wird Ihnen der Antrag der Staatsanwaltschaft vom 24. 07. 2012 zur evt. Stellungnahme binnen 1 Woche übersandt. Die Staatsanwaltschaft beantragt, dass aufgrund geänderter Rechtsprechung die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kleve (anstelle des Gnadenbeauftragten) die Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafen trifft und hat eine positive Entscheidung beantragt. Da es sich um einen Grundsatzbeschluss handelt, weil er Auswirkungen auch auf andere Fälle hat, wird die Kammer umfänglich prüfen und beraten, wann der Härtefall i.S.d. Bundverfassungsgerichts vorliegt und ob dies in Ihrem Fall gegeben ist. Mit freundlichen Grüßen, X., Richterin am Landgericht.

 

Gnade

Natürlich kann man auf Kafka verweisen, wenn das Gesetz erklärt werden soll. Das wäre dann die geduckte Perspektive des Pessimisten. Das Gesetz ist weise. Es soll strafen, schützen, Gnade gewähren. Das Gesetz ist ein großes Räderwerk: Eins greift ins andere, aber manchmal – ganz manchmal nur – greift ein Zähnchen ins Leere und findet nicht zu seinem Gegenstück. Dann strauchelt das Räderwerk. Kein Problem für das Große. Da fällt’s nicht auf. Aber es kann passieren, dass das Kleine strauchelt – dass plötzlich nichts mehr passt. Für den einen ist es nur ein ‚Nein’ – vom Schreibtisch aus gesprochen – dem anderen entgleist das Leben. Volkers Leben hat nicht gut angefangen. Drogen. Sucht. Verbrechen. Verurteilung – kürzer lässt sich die Laufbahn kaum skizzieren. Volker, das sei gleich gesagt, ist kein Held. Niemand will ihn dazu machen. Nichts aus seinem früheren Leben soll klein geschrieben werden. Sie haben ihn öfters erwischt. Es gibt nicht nur ein Urteil, dass seinen Namen enthält. Volker fuhr ein. Drogenbeschaffungskriminalität. Das Gesetz ist weise. Es sagt: Wenn es eine Chance auf Behandlung gibt, steht Therapie über dem Vollzug. Es geht immer um einen Weg zurück in das, was die Mehrheit ein normales Leben nennt. So einfach lässt sich ein Sachverhalt für Juristen nur schwer formulieren, aber für den Endverbraucher der Justiz fühlt es sich so an. Es fühlt sich gut an, wenn gesagt wird: Es gibt eine Chance. Sie hat einen Namen. Eine Zahl. Paragraf 64. Ein Täter bekommt die Möglichkeit, im Maßregelvollzug den Kampf mit seiner Krankheit aufzunehmen. Zuckerschlecken ist das nicht. Viele brechen ab und gehen lieber zurück in den Knast. Ein Tag im Knast kostet rund 110 Euro. Ein Tag in der Therapie rund 270 Euro. Das nur am Rande. Die einen verstehen übers Herz, andere über das Portemonnaie. Ein Staat muss den Spagat zwischen angemessener Strafe, Resozialisierung und wirtschaftlich vernünftigen Gleichgewichten schaffen.

Hochachtungsvoll

16. 06. 2013, Staatsanwaltschaft Kleve, Aktenzeichen 305 Js 463/02 V (bei Antwort bitte angeben). Strafvollstreckungssache gegen Sie – Ihr Gesuch auf Gewährung von Strafaufschub. Sehr geehrter Herr X., gemäß § 456 der Strafprozessorndung gewähre ich den beantragten Strafaufschub bis zum 10. 07.2013 einschließlich. Nach Ablauf dieser Frist haben Sie sich ohne weitere Aufforderung gemäß der bereits ergangen Ladung zum Strafantritt zu stellen. Andernfalls müssten Zwangsmaßnahmen eingeleitet werden. Hochachtungsvoll, X., Rechtspflegerin.

undwennsienichtgestorbensind

Zurück zu Volker: Er wurde verurteilt. Kam in den Knast. Bei Volker – war man sich einig – könnte Therapie anschlagen. Volker bekam seine Chance. Er nutzte sie und drehte sein Leben. Er kam raus, fand einen Job und verlor ihn nicht. Er lernte eine Frau kennen. Die beiden heirateten. So, möchte man glauben, funktioniert Resozialisierung. Wenn die Geschichte nun zu Ende wäre, käme das „undwennsienichtgestorbensind“ als Symbol für ein glückähnliches Ende. Das Gesetz ist weise. Es sagt: Wenn einer die Kurve bekommt, wenn er sein Leben dreht und die Kraft hat, sich gegen die Sucht durchzusetzen, soll er nicht nach der Therapie wieder in der Knast. Er bekommt – sollte er noch eine Rechnung offen haben mit seinem Staat und mit dem Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird – den Rest seiner Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Er wird den Beweis antreten, dass Resozialisierung möglich ist. Volker bekam seine Chance. Er nutzte sie. Gehe nicht über Los Dann allerdings fiel auf, dass er – noch aus der Zeit vor seiner Therapie – Strafen offen hatte. Niemals angetreten. Jetzt griff das Gesetz nach ihm. „Da ist noch etwas offen.“ Volker soll zurück in den Knast. Eine Bewährung kann es nicht geben, denn die Strafen, um die es geht, hatte Volker noch nicht angetreten. Was nicht angetreten ist, kann, sagt das Gesetz (so erklären es die Beteiligten) nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Manchmal greift ein Rädchen ins Leere … Da halten sie einem das Wurstende hin und sagen, dass er sich bemühen soll. Er bemüht sich und hat das Ende schon in der Hand, da ertönt ein Gong und man fühlt sich in die Schlagerhölle katapultiert. Das Gesetz singt: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Gehe ins Gefängnis. Begib dich sofort dort hin. Gehe nicht über Los. Natürlich hat Volker noch eine Rechnung offen mit dem Gesetz, mit dem Staat, mit dem Volk, aber wenn sie ihn wieder einsperren, wird er selbst zur Rechnung. Er, der einen Job hat und niemandem zur Last fällt, wird wieder zum Kostenfaktor. Das Gesetz muss nicht die Kosten abwägen. Das Gesetz ist der Versuch von Gerechtigkeit. Das Gesetz ist, vielleicht irgendwo ganz tief auf dem Grund, auch der Versuch, etwas Besseres zu erreichen. Das Gesetz sagte zu Volker: Streng dich an. Er hat sich angestrengt. Jetzt möchte das Gesetz die Rechnung begleichen. Volker hat um Gnade gebeten. Das Gesetz sagt: Volkers Fall ist kein Härtefall. Die Folge: Keine Härte, keine Gnade.

Wölfe

Manchmal möchte man ins Getriebe greifen und Fragen stellen. Es gibt Tage, da erklärt man das Gesetz mit Kafka. Wahrscheinlich hat bei dem, was das Gesetz mit Volker macht, alles seine Richtigkeit. Aber: Es fühlt sich falsch an. Deinem Kind könntest du’s schon nicht mehr erklären. Man muss an diese Geschichte vom Großvater denken, der seinem Enkel erzählt: „In mir wohnen zwei Wölfe. Ein guter und ein böser.“ „Und welcher von beiden gewinnt?“, fragt der Enkel. Der Großvater denkt nach und sagt: „Immer der, den ich füttere.“ Zyniker sagen: Eine Gutmenschengeschichte.

Wer Wind sät …

Vielleicht ist, was das Gesetz mit Volker macht, formal richtig, aber es fühlt sich falsch an. Eine Geschichte wie diese will nicht einfach die Kehle herabgleiten. Sie sperrt sich und erzeugt Reibung. Man wünscht sich einen, der an geeigneter Stelle den richtigen Wolf füttert und damit den Glauben daran, dass das Gesetz etwas ist, das unser aller Gutes will. Natürlich soll es uns schützen, aber Volker ist keiner, vor dem wir noch beschützt werden müssten. Vieleicht sollten sie ihn an einem Wochenende einknasten. Für drei Tage.

Jeder Tag für eine der noch offenen Strafen. Danach: Bewährung. Und wenn er’s vergeigt, dann, bitte schön, soll die ganze Härte des Gesetzes ihn treffen.