Schreibkraft
Heiner Frost

Zwei Fragen

Foto: Rüdiger Dehnen (m)

Urteil des Landgerichts Aachen im Namen des Volkes. Im Strafverfahren gegen den Schweißer […] geboren am 15. 06. 1966 in […], verheiratet, deutscher Staatsangehöriger, zurzeit in […] Untersuchungshaft in der JVA […] wegen des Verdachts des Mordes hat die 1. Schwurgerichtskammer in dem Strafgerichtsverfahren des Landgerichts […] in der Sitzung am 03. 05. 2012 für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen Mordes und versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe […] verurteilt.”

Mein Herz, ich weiß nicht, wo du im Moment bist und was du machst. Ich meine, dass ich nicht weiß, ob du immer noch in der Türkei oder wieder nach Deutschland zurückgekehrt bist. Meine Gedanken sind ständig bei euch, ich habe euch in einem sehr schlechten Zustand zurückgelassen. Wenn ich jedes Mal, wenn ihr mir in den Sinn kommt, einen Brief geschrieben hätte, so wäre inzwischen ein dickes Buch daraus geworden. Folgendes solltest du nie vergessen: Ich habe nichts gemacht, wofür ihr euch schämen müsst (wörtlich: was euer Haupt nach vorne senken würde, d. Übers.). [Brief von Ali Codur an seine Frau, geschrieben aus der Haft.]

Nach dem  Gesetz

Ali Codur ist ein verurteilter Mörder. 12 Jahre nach dem Urteil – Codur ist seit dreizehneinhalb Jahren in Haft – befindet er sich im offenen Vollzug. Wenn alles gut läuft, wird er in zwei bis drei Jahren in die Freiheit entlassen. Was macht einer dann? Den Resetknopf drücken? In ein „neues Leben” starten? Codur wird dann 60 sein oder älter. Man denkt: Da wird einer die wiedergewonnene Freiheit zu genießen versuchen. Codur wird bei seiner Entlassung nicht zu denen gehören, auf die draußen keiner wartet. Das ist häufig der Fall. Da steht dann einer vor dem Tor einer Justizvollzugsanstalt – mit ein paar Habseligkeiten, dem Entlassungsgeld und einem Nichts im Adressbuch. Codur hat eine Familie. Es ist eine Familie, die immer zu ihm gestanden hat. Vier Kinder, eine Ex-Frau. Sie haben ihm all die Jahre geglaubt, dass er es nicht war.

Neustart?

Alles ist bereit für einen Neustart. Und dann ist da einer, der nichts am Sinn hat als den Beweis seiner Unschuld. Da ist einer, der sagt: „Da steckt etwas in meinem Hals. Es geht nicht rauf und es geht nicht runter”. Codur meint den Kloß, der aus verlorenen Jahren besteht und aus einem Unrecht. Codur sieht es so und wer soll wissen, was dran ist an seiner Aussage „Ich bin es nicht gewesen”? Wer soll wissen, wie es sich anfühlt, all die Jahre unschuldig gesessen zu haben?

Eine Erzählung

Alis Geschichte: komplex. Eigentlich muss man jeden Winkel in dieser Geschichte kennen. Über 1.000 Seiten Akten. Die Urteilsbegründung: 112 Seiten. Eine Erzählung. Die Akte: Auch eine Erzählung. Verschiedenste Perspektiven. Zeugenaussagen. Nachforschungen. Kontenbewegungen. Bewegungsprofile. Am Ende steht man als Leser vor einem „kannseinkannauchnichtsein” und ist – wie so oft froh, nicht auf der Richterbank gesessen zu haben. Was hätte man denn getan? Man hätte freigesprochen. Vielleicht nicht aus Überzeugung, aber mindestens hätten Zweifel das Denken regiert. Lieber zehn Schuldige laufen lassen als einen Unschuldigen einsperren. Ein Gedanke, der den Hinterbliebenen des Opfers nicht helfen wird. Wie man einen Fall sieht, hängt von der Position ab, aus der man ihn betrachtet.

Das fünfte Auge

Ich schlage Ali ein Interview vor. „Können wir machen”, sagt er. „Wenn wir reden, müssen wir allein sein. Unter vier Augen.” Das fünfte Auge: eigentlich ein Ohr. Das Mikrofon. „Gibt es etwas, das ich besser nicht frage?” „Frag, was du willst. Ich habe nichts zu verstecken.”

Zwei Fragen – Gespräch mit einem verurteilen Täter

Erklärungen: Wenn sich in Textpassagen drei Punkte (…) finden, bedeutet das nicht, dass etwas ausgelassen wurde, sondern dass eine kurze Pause stattgefunden hat oder ein Satz nicht zu Ende geführt wurde. Sämtliche Texte aus Quellen sind kursiv und rechtsbündig gedruckt.

Der Angeklagte ist ein umgänglicher Mensch.” (Gutachterin)

[Die psychiatrische Sachverständige […] ist mit der Erstattung eines Schuldfähigkeitsgutachtens … beauftragt worden. Nachdem der Angeschuldigte hat erklären lassen, dass er eine Begutachtung ablehne, soll im Rahmen der Hauptverhandlung eine mündliche Gutachtererstattung durch die Sachverständige erfolgen. Aufgrund der komplexen Tat – insbesondere der Planung im Vorfeld […] – kann eine Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB jedenfalls sicher ausgeschlossen werden. (Aus der Ermittlungsakte.)

Mord in … : Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. Nach dem gewaltsamen Tod einer älteren Frau in … hat die Staatsanwaltschaft Aachen jetzt Anklage erhoben gegen einen 45 Jahre alten Schweißer aus …  Ihm werden Mord, versuchte schwere räuberische Erpressung und versuchte gefährliche Körperverletzung zur Last gelegt.” (Aachener Zeitung, 21. Juni 2011)

Bin überzeugt, dass der Mann unschuldig ist.” (Schlagzeile aus der Aachener Zeitung vom 6. Januar 2014)

Urteil im Mordfall Haaren. Aachen: Der gewaltsame Tod einer 72 Jahre alten Frau in Aachen Haaren – im April 2011 – war Mord. Und ihr Mörder muss lebenslang ins Gefängnis. […] Wie versteinert nahm der Mann das Urteil entgegen. Zuvor hatte er noch im Schlusswort seine Unschuld beteuert

[…]. Doch für die Richter ist zweifelsfrei erwiesen, dass im April 2011 der Mann die Geschäftsfrau erdrosselt hat, vermutlich im Streit um die Rückzahlung eines Darlehens. Die Verteidigung spricht von einem krassen Fehlurteil und will in Revision gehen.” (Aachener Zeitung vom 3. Mai 2021)

Das Gespräch mit Ali Codur fand am Samstag, 21. September 2024 statt, dauerte 65 Minuten und wurde mit Erlaubnis aufgezeichnet.

Das erste Interview

Wir fangen also ganz vorn an. Wie heißt du? Wie alt bist du?

Codur: Mein Familienname ist Codur. Mein Vorname ist Ali. Ich bin 1966 geboren – eigentlich 1967 –, aber in der Türkei bin ich mit dem Geburtsjahr 1966 eingetragen worden. Ich lebe seit 1982 in Deutschland …

… und seit wann im Knast?

Codur: Seit 2011.

Warum?

Codur: Ich bin wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Momentan bist du im offenen Vollzug …

Codur: … seit dem 19. Dezember 2023 bin ich in der JVA Euskirchen im offenen Vollzug.

Kannst du kurz den Fall erklären? Falsche Frage. Kurz ist wahrscheinlich gar nicht möglich.

Codur: Sagen wir so: Kurz ist eine Frage der Definition. Ich versuch’s. Das Opfer, Frau S., war unsere Vermieterin.

Was heißt „unsere”?

Codur: „Uns” bedeutet: Mein Schwager, mein Neffe und ich. Wir hatten zusammen eine kleine Firma. Dabei ging es um Stahl- und Rohrleitungsbau. Das ging circa acht Monate gut – danach mussten wir wegen Auftragsmangel in Insolvenz gehen beziehungsweise den Laden schließen. Frau S. war die Vermieterin der Räumlichkeiten für unsere Firma. So entstand der Kontakt zu Frau S., dem späteren Opfer.

Kanntest du sie persönlich?

Codur: Ich kannte sie persönlich, aber das war eher eine flüchtige Bekanntschaft. Sie kam ein paar Mal in die Firma. Sie wollte sehen, wie es läuft.

Was ist passiert?

Codur: Was ist passiert? Ich hatte ein persönliches Problem mit meinem Schwager und um das zu lösen, habe ich Kontakt zu Frau S. aufgenommen. Es gab Mietschulden – ein paar Monatsmieten waren nicht gezahlt worden – dazu kam dann noch einen Schaden, den der Hund meines Schwagers verursacht hat. Frau S. ist zu unserem Insolvenzberater gegangen und während dieser Zeit bin ich zu ihr gegangen. Ich hatte vor, ihr die Außenstände monatlich abzuzahlen. Ich wollte das lieber an sie zahlen als an meinen Neffen. Damit wollte ich den ärgern. Da ging es um ein paar persönliche Dinge zwischen ihm und mir.

Du hast dir also bei Frau S. Geld geliehen?

Codur: Nein. Zweieinhalb Jahre nach Schließung unserer Firma bin ich zu ihr gegangen und habe gesagt: „Ich würde gerne das, was Sie von unserer Firma noch zu kriegen haben, zurückzahlen.” Es war klar, dass sie vom Insolvenzberater viel weniger bekommen würde. Ich habe also angeboten, monatlich 200 bis 300 Euro zurückzuzahlen, damit sie finanziell auf ihre Kosten kommt. Ich würde dadurch sozusagen mental auf meine Kosten kommen. So ist der Kontakt entstanden. … Dann hatte ich private Probleme: Ich wurde erpresst. Das war der Moment, in dem ich Frau S. angerufen habe. Sie war dann so nett und hat mir geholfen.

Was heißt „geholfen”?

Codur: Sie hat mir 1.000 Euro geliehen. Ich sollte dann, sobald ich den Lohnabschlag von der Firma, bei der ich arbeitete, bekommen würde, das Geld zurückzahlen.

Wer hat dich erpresst?

Codur: Gute Frage. Das weiß ich bis heute nicht.

Anders gefragt: Wie bist du erpresst worden?

Codur: Ich hatte eine kleine Beziehung mit einer Frau, die in einer Spielothek arbeitete. Und als ich mit ihr Schluss machen wollte, wollte sie das erstmal nicht verstehen. Da habe ich ihr dann vorgegaukelt, dass ich in einer finanziellen Krise stecke. Sie solle mich in Ruhe lassen, weil ich mit den Problemen schon genug zu tun hätte. Ich sagte ihr, sie solle einen anderen Mann finden. „Ich bin nicht gut für dich” – so etwas Ähnliches habe ich ihr gesagt. Das war der Moment, in dem sie mir die Kasse der Spielothek in die Hand drückte und ich … war … eine Sekunde lang schockiert, habe dann – leider – das Geld angenommen und hatte dann Probleme, es wieder loszuwerden. Ich habe dann versucht, es quasi in der Spielothek zu waschen. Ich habe Geld von meinem Konto abgehoben und habe dann so getan, als hätte ich beim Spielen Geld gewonnen. Da waren Münzen und Scheine. Wir reden von circa 2.000 Euro. Das hat dann hat die Tochter der Frau herausbekommen. Sie kam zu mir und sagte: „Lass meine Mutter in Ruhe. Ich schicke dir sonst die Hells Angels auf den Hals.” Ich habe gesagt: „Okay, okay. Kein Problem. Alles gut.” Das alles passierte in dieser kurzen Zeit.

Du warst damals verheiratet?

Codur: Ich war verheiratet und ich war damals ein nicht besonders netter Mann für meine Frau.

Du warst nicht sehr treu?

Codur: Ja. Das stimmt leider.

Warst da das, was man einen Weiberheld nennt?

Codur: Ich kam bei Frauen gut an. Und während ich auf Montage war und mich allein fühlte, habe ich mir Gesellschaft gesucht.

Was ich noch nicht verstanden habe: Wieso hat die Frau aus der Spielothek dir die Kasse gegeben?

Codur: Ich hatte ja, um mich von ihr zu trennen, den Grund genannt, ich würde in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Sie wollte mir helfen. Sie war naiv …

Wir müssen zurück zum Hauptschauplatz – zurück also zu Frau S.

Codur: Ja – aber die Frau aus der Spielothek gehört dazu, denn ich habe sie nach einer Waffe gefragt, weil ich ja – das hatte ich vorhin schon gesagt, erpresst wurde.

Richtig. Ich erinnere mich. Du wurdest erpresst, wusstest aber nicht, von wem. Und dann hast du die Frau aus der Spielothek nach einer Waffe gefragt?

Codur: Richtig. Sie heiß übrigens Monika. Ich hatte bis dahin niemals eine Waffe getragen – kein Messer oder sonst irgendwas.

Ich muss noch mal nach dieser Erpressung fragen. Ist jemand gekommen und wollte Geld von dir oder wie muss ich mir das vorstellen?

Codur: Ja. Der wollte 2.000 Euro von mir haben. Ich habe gesagt: „Das geht nicht.” Das Verblüffende war: Er hat genau gewusst, wo ich gewohnt habe, in welchen Kindergarten meine Kinder gingen und wo sie zur Schule gingen. Ich habe vier Kinder. Damals gingen zwei von ihnen in den Kindergarten und die anderen beiden zur Schule. Ich konnte – ehrlich gesagt – nicht verstehen, von wo das kam. Steckte Monikas Tochter dahinter? Ich habe gezielt Monika gefragt. Vielleicht wusste sie was – vielleicht war sie in die Sache verwickelt … keine Ahnung … ich wollte es herausfinden. Monika sagte, sie hätte zwar keine Waffe, aber sie gab mir ein Pfefferspray. Sie sagt, sie hätte das immer dabei, wenn sie mit ihrem Hund spazieren geht. Sie sagte, sie hätte das, falls sie von größeren Hunden angegriffen würde. Ich habe – ehrlich gesagt – die Funktion gar nicht verstanden. Monika hat mir auch die Bedienungsanleitung gegeben. Ich dachte nur: Was soll mir das bringen, wenn mir mit einem Messer an den Hals will? Was soll mir dieses Pfefferspray bringen? Als ich Monika das Pfefferspray zurückgeben wollte … ich hatte neben dem Geschäft geparkt … kaum wollte ich aussteigen, da stieg der Typ in mein Auto und … also … ich hab den Mann tausend Euro gegeben – das, was ich von Frau S. geliehen hatte und … lass mich nicht lügen … eine Woche, zehn Tage später tauchte er auf, als ich Monika das Pfefferspray zurückgeben wollte … Ich habe damals einen kleinen BMW gefahren und hatte – neben meiner Zigarettenschachtel diesen Apparat gehabt … und ich hab mich ausgeschnallt und Zündschloss ausgemacht und dann kam er wieder rein. Er war ein etwas kleiner und kräftiger Typ … er hat mir einen Namen genannt … diesen Namen hatte ich noch nie gehört gehabt … in der JVA Aachen habe ich festgestellt, dass das ein albanischer oder marokkanischer Name sein soll: Salvet – jetzt fällt es mir ein: Salvet hat er gesagt. [Salvet ist ein Nachname.] Der Typ hat mich also nochmals bedroht, hat meine Zigarettenschachtel genommen und gefragt: „Was ist das hier?” Und ich habe gesagt: „Das ist ein Garagentorschlüssel.” Den hat er einfach mitgenommen. Ich war perplex. Irritiert. Richtig irritiert. Woher kam das? Wie kam das? Zwischendurch bekam ich dann meinen Abschlag, aber ich konnte Frau S. nicht erreichen, weil sie – das habe ich erst im Nachhinein erfahren – im Krankenhaus lag. Zwischendurch hat mit Monika immer wieder auf meinem privaten Handy angerufen. Es gab ja auch noch andere Frauengeschichten. Die wollte ich vergessen. Ich wollte neu anfangen. Ich habe daher meine Handynummer gewechselt. Ich wechsle meine Nummer, Frau S. kommt ins Krankenhaus, sie kommt raus … also ich konnte sie nicht erreichen … man kann ja anhand der Handydaten feststellen, dass ich Frau S. angerufen habe … sie konnte mich also nicht erreichen und ich konnte sie nicht erreichen. Dann hat Frau S. meinen Neffen angerufen und wollte wissen, wo ich bliebe. Dann hat mein Neffe mich angerufen und ich habe Frau S. zurückgerufen. Ich sagte: „Frau S., ich habe mehrfach versucht, Sie zu erreichen … Wie machen wir das jetzt?” Sie sagte dann: „Tut mir leid, ich war im Krankenhaus und hatte mein Handy nicht immer eingeschaltet.” „Okay, Frau S., wie können wir das jetzt machen?” Es war gerade Ende des Monats. Ich habe meinen Lohn immer am 15. bekommen, aber den Abschlag gab es immer am 1. Ich bekam also alle 15 Tage einen Teil vom Lohn. Ich sage: „Wie machen wir das?”, und sie sagt: „Sie können das Geld in meinen Briefkasten werfen. Außer mir kommt da niemand ran.” Also ich habe das so verstanden, dass auch die Familienangehörigen da nicht ran konnten. Nur Frau S. hatte einen Schlüssel für den Briefkasten. Ich habe das auch getan. Am nächsten Tag war ich mit meiner Familie in Holland. Wir wollten einkaufen, denn meine Frau wollte zwei, drei Tage später in die Türkei fliegen. Damals ging es ihrer Mama nicht besonders. Wir waren also kurz was einkaufen und auf dem Weg zurück hat Frau S. mich angerufen. Sie sagte wortwörtlich: „Herr Schodur – sie hat meinen Namen nicht richtig aussprechen können – Herr Schodur, danke, dass sie mich nicht enttäuscht haben.” Ich war beruhigt und dachte: Die Sache ist erledigt. Ich hatte die andere Sache im Kopf. Was war geschehen? Warum wurde ich erpresst? Kam das von Monikas Tochter oder hatte die überhaupt nichts damit zu tun? … Ja, dann kam ein Gespräch, nachdem sich Frau S. bei mir bedankt hatte: „Frau S., wann kann ich zu Ihnen kommen, um die Papiere zu holen?” Es ging um die Papiere, die S. vom Insolvenzberater bekommen hatte … nein – es ging um Außenstände, die Frau S. aufgelistet hatte. Sie sagte: „Sie könne heute Abend zu mir kommen. Ich habe nichts zu tun.” Ich sagte: „Wir müssen noch einkaufen – es könnte also ein bisschen spät werden.” Sie sagte: „Kein Problem, Herr Schodur. Sie können kommen.” Und als ich dann da war, lag sie schon am Boden. Das ist auch eine lange Geschichte. Ich kann’s erzählen, aber …

… auf jeden Fall.

Codur: Ich kam vor ihrem Haus an, da sah ich einen Bulli mit zwei Typen. Ich musste aber erst mal zur nächsten Kreuzung fahren – ich musste wenden, um dann vor dem Haus von Frau S. zu parken. Ich fahr also zurück, parke da ein, ihr Garagentor war offen, ihr Auto war da … ich denke: Okay, sie ist definitiv zuhause. Und ich hab mir gedacht, vielleicht hat sie irgendwelche Waschmaschine … irgendwelche Geräte zu transportieren. Ich dachte: Deswegen ist die Garage auf. Deswegen sind die Männer da. Ich ging zu ihrer Haustür … die Tür war Spalt offen … hab bei ihr erst mal geklingelt. Ich habe mehrfach geklingelt. Niemand kam, aber ich hörte Gespräche … also ich hörte Stimmen und dachte: Sie muss also zuhause sein. Dann habe ich angefangen, an die Tür zu klopfen und ich habe auch gerufen: „Frau S., Frau S..” Es passierte nichts. Ich hörte nur die Unterhaltung. Ich sage mir: Das kann doch nicht sein. Also: Sie ist zuhause. Die Tür ist offen. Wieso hört sie das Klingeln nicht? Ich bin dann zwei Schritte in die Wohnung gegangen. Da sah ich direkt ein paar rötlich-orange Tropfen auf dem Boden. Das das sah aus wie Tabasco. Da habe ich gemerkt … ich hab zwar ein gute … also ich kann zehn Prozent riechen … ich wurde zweimal an der Nase operiert – mein Geruchssinn hat darunter gelitten … das war ein Chemieunfall … So – ich roch zwar nichts, aber meine Augen tränen. Ich habe weiter nach Frau S. gerufen und noch ein paar Schritte in die Wohnung gemacht und dann habe ich gesehen: Auf der rechten Seite lag ein Aufnehmer … das hat mich gewundert, denn Frau S. war eine sehr ordentliche Frau. Sie wohnte ja in eine Villa und jetzt liegt da einfach ein Aufnehmer rumliegen … Ich ging noch ein paar Schritte weiter. Dann habe ich gesehen, dass rechts eine Treppe in den Keller geht. Als mich dann ein bisschen annäherte, habe ich Frau S. am Ende der Treppe unten liegen sehen. Ich ging runter … sie hat keine Regung gezeigt … ich habe ihre Hände genommen, habe sie wachrütteln wollen … „Frau S., Frau S. …” Nichts. Um ihren Hals war ein Handtuch gewickelt. Ich dachte, sie hätte sich vielleicht erkältet oder so … Später stellte sich raus, dass das Handtuch angeblich die Tatwaffe war. Es kam nichts. Ich habe versucht, an ihrem Handgelenk den Puls zu messen. War auch nichts. Dann habe ich versucht, an ihrem Hals … ich kam nicht drunter, aber oberhalb des Handtuchs wollte ich ihren Puls messen. Ja, das ging auch nicht. Ich habe auch versucht, das Handtuch zu lösen … da habe ich festgestellt: Sie war einfach leblos … gewisse Kälte an ihren Händen, aber bei älteren Menschen sind ja häufig die Hände kalt. Sie war tatsächlich regungslos.

Hast du gedacht, dass sie tot ist?

Codur: Definitiv. Definitiv.

Was hast du dann gemacht?

Codur: Mir blieb nicht allzu viel Zeit übrig, da hörte ich ein automatisches Geräusch. Ich würde … später hatte ich das festgestellt .., das war das Garagentor. Als das losging … das war im Keller gewesen … im Keller des Hauses … hinter mir sind zwei Türen … die eine war eine Art Feuerschutztür … das war wahrscheinlich die Ausgangstür zur Garage für ihr Auto … ja, da habe ich erst mal Angst bekommen. Was passiert jetzt? Ich war richtig schockiert, warum sie auf einmal da lag, Ich hab doch Unterhaltung gehört. Da kann sie doch nicht so schnell in dieser Lage sein … Wie gesagt: Als ich dieses Geräusch hörte, bin ich aufgestanden und die Treppe hoch gelaufen … zum Auto. Als ich die Autotür öffnete, waren die zwei Typen immer noch da. Die haben sich umgedreht … ich weiß nicht, ob sie das zwangsläufig so gemacht haben oder ob sie sich … ich weiß es nicht. Ich konnte es mir nicht erklären. Da hab ich gesehen, das war ein weißer Volkswagenbulli und hinten die Heckklappe war hochgeklappt. Ich dachte also, dass die wohl irgendwas transportieren wollen. Das Problem war: Ich konnte wegen der hochgeklappten Heckklappe das Kennzeichen nicht sehen. Ich hab mich angeschnallt und bin dann extra langsam losgefahren und die waren dicht vor dem Bulli an einem Auto der Nachbarschaft gewesen. Die waren auch dicht an diesem Auto. Ich konnte also auch beim Vorbeifahren das Nummernschild nicht lesen. Dann dachte ich mir … das war wie ein Film … ich dachte: Die haben jetzt mein Kennzeichen gesehen – AC AC 1966 – … um herauszufinden, wo ich wohne, können die bei der Polizei anrufen und sagen „Wir haben jemanden angefahren … Kennzeichen so … „ – dachte ich mir: Die können ganz leicht meine Adresse herausfinden. Das Zweite war: Ich habe gerade mal 300 Meter weiter gewohnt. Ich muss ja nach Hause. Ich hab ja dort keine Tiefgarage. Ich hatte Angst um meine Kinder.

Aus der Vernehmung, vom 24. 04. 2011, Beginn 10.26 Uhr, Ende 20.40Uhr 

Ich bin da nach Hause gefahren. Ich bin dann in die Wohung hochgegangen. Ich war froh, dass meine Frau und die Kinder da waren. […]Ich war nur fünf MInuten zuhause. Ich wollte gucken, ob alles in Ordnung ist. Ich habe echt Paranoia gehabt. Ich bin raus, habe mich wieder geärgert, dass ich die Leute jetzt eventuell zu meiner Familie geführt habe.

Ich muss mal unterbrechen. Ich stelle mir gerade vor: Mir passiert das. Ich komme in ein Haus und finde eine Leiche und unternehme nichts? In jedem schlechten Krimi passiert das und anschließend sagen die Leute dann: „Ich hatte Angst, dass man mich verdächtigt.” Und denke noch immer: Das Erste, was ich tun würde, wäre: 110 wähle und sagen: „Hier liegt eine Tote. Bitte kommen Sie schnell.” Warum mach man das nicht?

Codur: Wäre sie am Leben gewesen – ich hätte sie auf den Arm genommen und ich hätte sie selbst zum Arzt gefahren oder ins Krankenhaus. Sie hätte auch bestätigen können, dass ich mit der Sache nichts zu tun habe. Es war nicht das erste Mal, dass Ausländer mit Sachen verdächtigt werden und später stellt sich heraus: Es war doch ganz anders. Aber vorher haben die den ganzen Schlamassel, die ganze Tortur durchgemacht.

Aber das Problem ist ja: Irgendwann finden die dich und dann hast du richtig Probleme.

Codur: Ja, aber in dem Moment hatte ich selber Angst um mein Leben und um das Leben meiner Familie. Was ich normalerweise zuhause nicht tue … wenn ich abends mal rausgehe, rufe ich seltenst an um nachzufragen, ob es den Kindern gut geht. An diesem Abend habe ich angerufen. Das war für meine Frau und ihre Freundin, die ihr beim Packen helfen sollte, nicht normal. Es war nicht normal, dass ich plötzlich anrufe und frage, wie es den Kindern geht. Das war alles andere als ein normaler Verlauf meines Lebens gewesen.

Aus der Vernehmung, vom 24. 04. 2011, Beginn 10.26 Uhr, Ende 20.40Uhr 

Vorhalt: Es ist jetzt 19.55 Uhr. Sie bekommen ein letztes Mal die Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen. Die Angaben, die Sie bisher gemacht haben, sind absolut nicht glaubhaft und nicht nachvollziehbar. An dieser Stelle sagen wir Ihnen auch, dass Sie festgenommen sind und sich später dem Richter gegenüber zu erklären haben. Sie kommen in das Haus. Sie rufen Frau S., die meldet sich aber nicht. Ihnen tränen die Augen, Ihr Hals brennt. Dann finden Sie Frau S., sie ist tot. Sie sehen Blut und erkennen, dass die Frau tot ist. Sie hat ein Tuch um den Hals, das so fest zugezogen ist, dass Sie es nicht lösen können. Und in dieser Situation gucken Sie sich um, sehen in das offenen Zimmer und gehen dann noch hinein, finden da einen Umschlag, der Ihren Namen trägt und nehmen diesen dann mit. Das ist doch nicht nachvollziehbar. Sie handeln in dieser Situation absolut irrational. Sie rufen weder die Polizei noch die Feuerwehr oder eine [sic!] Arzt, was jeder andere gemacht hätte. Zumal Sie, wie sie [sic!] sagten, zuvor versucht hatten, Frau S. zu helfen. Wie erklären Sie das?

Codur: Ich hatte Angst, dass ich für diese Sache beschuldigt werde. Ich war dumm, dass ich diesen Umschlag da rausgeholt habe. Ich war dumm, dass ich in das Haus gegangen bin. Ich habe die Frau nicht lebend in dem Haus gesehen.

Jetzt habe ich ja die Akte gelesen. Und in der Akte steht ja etwas von einem Brief, der irgendwo in S.s Keller gelegen hat und den du mitgenommen haben sollst.

Codur: Ich hab diesen großen Umschlag genommen – das war Brieftasche gewesen …

Lag dieser Umschlag im selben Raum, indem auch Frau S. lag?

Codur: Der Umschlag lag in dem Raum, wo sie ihre Bürosachen machte.

Aber es war nicht der Raum, in dem die Frau lag …

Codur: Nein. Das war zwei Schritte weiter.

Und da bist du reingegangen?

Codur: Als ich nach oben … als ich aufstand – man schaut sich ja um … da sah ich dieses Teil … es ist gut, dass du mich danach fragst, weil … in dem Moment … schau mal … irgendwie arbeitet das Gehirn ganz anders. Man ist auf Abwehrsituation … und … ich sag mir so: Okay, sie liegt da und ihr ist nicht mehr zu helfen. Also versuche ich, das, was mit mir was zu tun haben könnte, mitzunehmen. Auf der anderen Seite bin ich zu naiv, ja … was heißt naiv – ich hab sie doch vom Festnetz aus angerufen .. ich hab sie von meinem Handy aus angerufen … also es war für mich nicht … sie soll gar nichts mit mir zu tun haben … Nein, die sollen mich nur nicht mit diesem Fall hier involvieren. Das war wirklich … ich hab genug Zeit gehabt, um mich selbst zu fragen … keine Ahnung … ich hätte meinen Kopf wahrscheinlich bis zum Platzen an die Wand schlagen können … Mensch, wieso hast du nicht angerufen? Aber in dieser Situation kann mir keiner sagen: „Ich hätte dies gemacht. Ich hätte das gemacht.” Nein, man ist in dem … Schau: Letzte Zeit … dieser eine Monat meines Lebens war so katastrophal, ja … ich konnte nicht mehr klar denken. Es soll vielleicht keine Entschuldigung dafür sein … ich hätte … im Nachhinein … mit meinem jetzigen Kopf hätte ich sagen können: „Ruf an und warte ab, bis sie hierhin kommen.” Aber diese Gelassenheit habe ich damals nicht gehabt.

Du sitzt jetzt seit …

Codur: … 2011

Wie oft denkst du daran? Denkt man jeden Tag daran wie das gelaufen ist oder ist das irgendwann … wird es irgendwann weniger?

Codur: Es gibt zwei Dinge, die mir jeden Tag – es sei denn, ich schlafe beim Fernsehen ein … dann denke ich nicht daran … zwei Dinge meines Lebens seit 2011: Erstens ist da das Gefühl meiner Frau gegenüber: Es geht darum, was ich ihr angetan habe – seelisch … mit meiner Fremdgeherei … was ich dadurch alles verloren habe – ich bin ja jetzt mittlerweile seit 2014 geschieden … Die zweite Sache: Wer war das? Wer hat ihr [Frau S.] das angetan? Warum sitze ich hier? Das sind tagtägliche Prozeduren, die ich erlebe. Das hat sich auch nicht geändert, seit ich im Offenen [Vollzug] bin. Jetzt habe ich etwas mehr Freiheiten. Jetzt kann ich mich wieder etwas mehr um meine Kinder kümmern. Zwei meiner Kinder konnte ich nicht zu Schule begleiten. Ich habe es gerade noch geschafft, sie in den Kindergarten zu begleiten. Diese dreizehneinhalb Jahre, die hinter mir liegen, sind mir genommen worden – samt Familienleben, samt Zukunft – alles. Ich kann das manchmal nicht in Worte fassen, was das mit einem macht.

Das kann ich alles nachvollziehen.Ich habe ja auch deine Frau kurz kennengelernt und mein erster Eindruck war: Sie liebt dich immer noch. Ich habe dich ja gefragt „Seid ihr wieder zusammen?”, und du hast gesagt „Wir sind zwei Menschen, die sich von früher gut kennen”. Wie gesagt: Ich habe den Eindruck, dass deine Frau dich noch immer liebt.

Codur: Das Problem ich vielleicht nicht die Liebe. Es geht darum, was sie durch mich erleben musste. Das sind Sachen, die sich nicht verdient hat … Wenn ich selber dreizehneinhalb Jahre sitze für eine Sache, die ich nicht verdient habe, kann ich bei ihr sehr gut verstehen … kein Mann wünscht sich, dass seine Frau … man will sich nicht mal vorstellen, geschweige denn irgendwas sehen oder erleben … keine Ahnung … das war das volle Programm. Leider. Sie kann das im Moment nicht einfach abhaken und Friede, Freude, Eierkuchen sagen. Ich kann sie sehr gut verstehen und ich werde sie … also mit allen Mitteln, die ich habe … werde ich sie unterstützen. Ich kann das, was ich ihr angetan habe, nicht mehr zurückholen – das geht nicht mehr … es ist einfach … das sind Erlebnisse gewesen … das bleibt in einem Menschen fest. Wir haben uns klar ausgesprochen – ich habe mich wirklich sehr, sehr bei ihr entschuldigt – sie hat die Entschuldigung angenommen, aber … ich weiß nicht … ehrlich gesagt … wünschte ich mir, dass ich eine Chance bekomme, dass ich sie irgendwie glücklich machen kann, aber da … ich bin im Moment jemand, der ihr helfen will – auch wegen der Kinder … meine Kinder leben noch bei ihr und ich werde nur unterstützen.

Vorhin habe ich gefragt, wie es sein kann, dass man in einer Situation wie damals nicht die Polizei ruft. Das ist die eine große Frage an dich. Aber es gibt noch eine Zweite. Du bist jetzt im offenen Vollzug – du wirst, wahrscheinlich spätestens in zwei Jahren, ein freier Mann sein …

Codur: …voraussichtlich …

voraussichtlich – man weiß natürlich nie, was passiert, aber gehen wir einfach mal davon aus. Du könntest ja dann sagen: „Da ist dieser Knopf. Da stelle ich mein Leben auf Null. Reset. Ich fange – so sagt man es ja – noch einmal ganz von vorne an, als jemand, der eine zweite Chance bekommt und sie nutzt – also quasi ein neues Leben mit „alten” Menschen: mit deiner Frau, mit deinen Kindern. Du könntest sagen: „Diese Tat ist vorbei. Ich bin verurteilt. Ich habe meine Strafe abgesessen. Ich fange neu an.” Jetzt hast du aber … du möchtest beweisen, dass du es nicht warst. Warum? Was treibt einen dazu? Dieser Beweis kostet ja einerseits Nerven und andererseits auch Geld. Warum tut man das, wenn man doch gleichzeitig sagen könnte „Ich fange jetzt neu an und nutze die Chance?” Was ist das Motiv? Was ist dein Motiv?

Codur: Ich habe bereits neu angefangen, als ich psychologische Gespräche in [der JVA] Remscheid anfing. Von da an habe ich festgestellt, dass ich an mit etwas tun muss. Ich rede von meinem früheren Leben – das hat mit der Tat nichts zu tun. Ich bin quasi ein neuer Mensch geworden … seitdem … das hat auch meine Familie erlebt, wenn sie zu Besuch kamen. Ich hab bereits ein Leben angefangen … nur … ich hab einen Knoten auf meinem Hals und das geht nicht runter …

Soll ich ausschalten?

Codur: … nein. Klar kann ich sagen „Okay”. Und wenn man jetzt zurückblickt, denke ich sogar selber manchmal … Mensch, die dreizehneinhalb Jahre sind ja schnell rumgegangen … alles schön und gut … aber … ich weiß doch, dass ich jeden Tag – jede Nacht darüber nachgedacht habe. Ich kann das einfach nicht abschalten. Wo sind die wahren Täter? Man hat quasi ja auch die Angehörigen von Frau S. belogen … die haben auf einen falschen Mann gezielt … absichtlich? … unabsichtlich? … Ich kann das nicht feststellen, aber es ist nun mal passiert. Die leben in der Illusion, dass der Täter im Knast sitzt … ist aber nicht so. … Aber was mich betrifft … das … ich kann das nicht. Ich habe all die Zeit die Hoffnung gehabt, irgendwie Licht in die Sache zu bringen. Ich habe es nicht geschafft. Ich hab sogar [einen] Detektiv angeheuert, als ich in der JVA Geldern war … hat nicht viel gebracht … das war fünf Jahre, nachdem ich inhaftiert wurde … Warum macht man das? Um einfach nur Geld auszugeben? Glaub ich nicht. So viel Geld hab ich nicht. Ich hab kaum Geld. Auch nicht, um eventuell vor mir liegende Kosten zu übernehmen. Aber das ist für mich kein Grund aufzugeben. Ich hab Sachen erlebt – zuletzt in Bayern – Bayern kennt man im Knastjargon als sehr harte Knäste … selbst, wenn in Bayern jemand die Chance bekommt, nach dreizehn, vierzehn Jahren und er kann seine Unschuld beweisen … warum soll das nicht mit mir geschehen?

Aus einem Brief der Anwaltskanzlei B. an Ali Codur:

Hallo Ali, danke für deinen Brief vom 01. 10. 2015. Der in Rechnung gestellte Betrag in Höhe von 2.978,80 Euro ist am 02. 10. 2015 überwiesen worden. Ich habe vor Zugang deines Briefes mit der Detektei AC., …straße in Aachen Kontakt aufgenommen, das Phantombild und die Hinweise aus der Aachener Bevölkerung aus der Akte rausgesucht und um eine erste Kosteneinschätzung nachgefragt. Herr E. Von der Detektei AC steht bereit, ein Gespräch diese Woche in meiner Kanzlei wahrzunehmen. Seine erste Kosteneinschätzung für die Ermittlung der sieben bis acht Personen, Überprüfung des Umgelds, Dokumentation der Befragung und Gewährleistung der Mitarbeiter der Detektei in einem Wiederaufnahmeverfahren als Zeugen für mögliche positive Erkenntnisse benennen zu können, schätzt er auf circa 2.500 Euro. Ich halte die Ermittlung des Phantoms aus der Garage für den einzig zielführenden Ansatz.

Wie sieht deine Idealvorstellung aus? Was wäre dein Wunsch?

Codur: Mein Wunsch wäre, ich würde dem Täter irgendwann begegnen, ihm in die Augen schauen und ihm erzählen, was ich alles verloren habe, wo er durchgefeiert hat. Gott weiß, in welchen Verhältnissen der oder diejenigen leben … ich weiß nicht. Also angreifen würde ich den nicht, definitiv nicht … das wäre ein großer Fehler, aber … das wäre wirklich ein Supergau … Und dann könnte ich den beiden Töchtern von Frau S. sagen: „Seht ihr: Was habe ich all die Zeit gesagt?”

Hat dir eigentlich irgendjemand geglaubt? Glaubt dir irgendjemand?

Codur: Meine Familie steht hinter mir. Die haben hin und wieder mal gefragt, wie was vorkam. Vielleicht hatten die … also … die wissen 100 Prozent, dass ich niemandem was antun kann. Trotzdem gab es wahrscheinlich auch Fragezeichen. Was ist da passiert? Das ist in dreizehn Jahren zwei oder drei Mal passiert, dass sie nachgefragt haben. Ich habe denen geantwortet. Heute redet keiner darüber. Aber, dass wir hier sitzen, das weiß meine Familie … und die denken sich: Komm, guck, dass du irgendwie voran kommst. Selbst meine Ex-Frau, die Frau meiner Kinder … bei allem, was ich ihr angetan habe …, die ist von Anfang an der Meinung gewesen: Das kann der nicht gewesen sein.

Jetzt sage ich: Das habe ich natürlich schon häufiger erlebt – auch bei Menschen, die am Ende schuldig waren. Es ist ja eine Sache, dass du sagst „Meine Familie steht hinter mir” – das finde ich wichtig, das ist auch fantastisch –, aber ist das in diesem Fall identisch damit, dass sie dir auch glauben, das du es nicht gewesen bist? Oder sind das zwei Spielplätze?

Codur: Also – anhand meiner Besuchszeiten kann man erkennen … weil, wenn eine Familie … wenn meine Familie nicht hinter mir wäre, hätten sich sich von mir abgeschottet …

Ich denke gerade an einen gemeinsamen Bekannten. Du kennst ihn. Er hat in Remscheid mit dir gesessen. Bei ihm besteht kein Zweifel daran, dass er einen Menschen getötet hat. Seine Familie unterstützt ihn trotzdem, wo sie kann. Die wissen also, dass er schuldig ist und schotten sich trotzdem nicht von ihm ab.

Codur: Ja, aber meine Familie … meine Familie tickt da ein bisschen anders … was heißt anders …Wenn jemand sich mit irgendwas schuldig gemacht hat, ja dann soll man das auch büßen. So sieht es meine Familie. Definitiv. So hab ich es früher auch gesehen. Natürlich. Ich habe früher über Gefangene – auch wenn es nur um kleine Delikte ging … habe ich gedacht, dass die da verrotten sollen. Ich dachte: Die haben draußen in der Freiheit gar nichts zu suchen. Wer irgendwelches Eigentum von jemandem stiehlt – keine Ahnung oder sonstiges … ja … Was soll ich dazu sagen?

Versteh mich nicht falsch. Ich muss so was fragen. Wir sitzen ja nicht hier, um Party zu feiern.Es gibt einen Teil von mir, der ist Journalist – und der verlangt, dass ich alles frage, was ich für wichtig halte. Nur dann finde ich – wenn überhaupt – meine Position, die ich im übrigen immer noch nicht habe.Wenn du mich fragst, wie ich dich sehe, dann sage ich: Ein super netter Typ, mit dem ich gern befreundet bin … aber wenn du mich fragst, ob ich denke, dass du es warst, dann bin ich an dem Punkt, an dem ich sage: „Ich kann das gar nicht wissen.”

Codur: Das musst du auch nicht. Das muss du nicht. Guck mal: Jeder Mensch kann doch behaupten, was er will, aber: Ich bin so erzogen worden .. von meiner Mutter … mit meinem Vater hatte ich nicht allzu viel Kontakt … ich war noch nie einmal laut zu meiner Mutter – weder in meiner Kindheit, noch in der Pubertät. Ältere Menschen … also … ist jemand drei oder vier Jahre älter als du, dann sollst du ihm Respekt erzeugen. So – jetzt ist da eine Frau, die also damals im Alter meiner Mutter war … Da soll ich … äh … ich kann das nicht mal in Worte fassen … Ich soll sie erwürgt haben? Wegen tausend Euro? Das hat sie doch gehabt. Das Verblüffende ist: Wo ist das Geld geblieben? Sie hat das Geld bekommen. Sie hat sich bei mir bedankt. Meine Familie hat am Telefon zugehört. Wo ist das Geld geblieben? Das war nicht auf ihrem Konto, es war nicht im Haus und es war nicht in ihrem Portemonnaie. Laut Polizeibericht habe ich das lesen können. Wenn ich jemand wäre, der für tausend Euro jemandem was antut … man hat auch festgestellt … Etage höher war ihr Schlafzimmer und neben ihrem Schlafzimmer war ein kleiner Schrank – da war Schmuck im Wert von fünf- oder sechstausend Euro. Jemand, der bereit ist, für Geld so was zu tun … überhaupt … dann hätte man doch ganze Wohnung durchgewühlt. … Oder nicht?

Es kann ja sein, dass der Täter gestört worden ist …

Codur: …ja, genau: ich war derjenige, der gestört hat. Das ist meine Ansicht: Ich hab die Leute bei irgendwas gestört. Und dann hab ich selber um mein Leben Angst gehabt … ein Minuten- oder Sekundeneffekt … erstens … als ich bei ihr war, hatte ich mein Handy nicht dabei. Das war im Auto. Aber in dem Moment – glaub mir – ich hab keine Sekunde daran gedacht, Polizei anzurufen – ich kämpfte um mein Leben. Da standen zwei Männer und ich wusste nicht, ob da noch welche sind … ja … ich komm dahin … die stehen vor der Garage quasi … sie liegt da … ich … ach so: Die Unterhaltung, von der ich dir erzählt habe – das war der Fernseher. Das war meine falsche Annahme … ich dachte: Sie unterhält sich da mit jemandem und hört mich gar nicht …

Was denkst du heute, wenn du an deinen Richter denkst?

Codur: Auf jeden Fall … ein paar Monate nach meinem Prozess ist er pensioniert worden. Der Oberkripobeamte, der mit meinem Fall beschäftigt war, der ist befördert worden. Alles Friede, Freude, Eierkuchen, ja … Die Leute haben ihren Preis bekommen, ja … und mein Preis war der Entzug meiner Freiheit. Was ich über ihn denke? Die haben von Anfang an auf mich gezielt. Das hat mein Anwalt mehrfach gesagt. Sogar meinen Anwalt hat man angesprochen: „Was wollen Sie noch von dem? Wir haben unseren Täter. Wieso arbeiten Sie noch daran?” Dann haben sie versucht ihn beim Fastnachtszug … da war er irgendwie involviert … ihn einzuladen. Wieso lädt der Staatsanwalt oder Richter meinen Anwalt zur Fastnacht ein? Was soll das? Es sind so viele Sachen, die für mich sprachen, unter den Tisch gekehrt worden. Zu welchem Preis? Wem habe ich damals was angetan außer meiner Frau und meiner Familie? Ich habe auch meine Kinder veruntreut … quasi …

Wie sehen die das? Hattest du Gelegenheit, in Ruhe mit ihnen darüber zu sprechen?

Codur: Über diesen Fall?

Ja. Es geht darum, wie die Kinder all das erlebt haben.

Codur: Die sind definitiv fest davon überzeugt, dass ich unschuldig bin. Definitiv.

Ich stelle mir vor, das ist für dich das schönste Gefühl, das man haben kann.

Codur: Vor allen Dingen … wenn man jemandem seine Freiheit nimmt … okay … da ist jemand irgendwo eingeschlossen, aber gottseidank habe ich nicht mit der Außenwelt gebrochen – beziehungsweise: Meine Familie hat nicht mit mir gebrochen. Ich stünde sonst nicht hier. Ich hatte alle Möglichkeiten, im Knast zu einem Drogenkrüppel zu werden … zu … keine Ahnung … irgendwelchen Taten … Ich hatte all die Möglichkeiten – leider … aber ich hab … ich konnte … ich hab mir immer gedacht: Baue ich irgendwelche Scheiße hier drin, kann ich meine Kinder nicht mehr angucken. Es war für mich schon beschämend genug, dass die Kinder mitbekommen haben, was ich deren Mutter angetan habe. Damit haben die … weil die Mutter ruhig war und sich nicht mit mir verfeindet hat …, konnten sie das irgendwie vereinbaren. Aber was den Fall betrifft, darüber war ich befreit … ohne irgendwas zu sagen. Ohne irgendwas zu bitten. „Hey, Leute”, oder sonst irgendwas: Nein! Dieses Gespräch gab es gar nicht. Es gab so was nicht. Ich hab weder meine Kinder noch irgendjemanden geschlagen oder sonstiges. Keiner kann behaupten, ich hätte jemandem was angetan. Und dann soll ich wegen tausend Euro …? Ich war Unternehmen. Ich war Arbeiter. Ich hab sehr gut Geld verdient. Ich hatte auch Zeiten, wo ich gar kein Geld hatte, aber ein Monteur – ein Schweißer-Monteur … da sollen die mal ein bisschen recherchieren … Was verdient dieser Mann? Wie ist das Montage-Leben? Ich habe schon meinen Mitarbeiter aus der Kneipe rausgeholt, weil er sich dort betrunken hatte … Er konnte seine Rechnung nicht bezahlen. Zwölf Uhr nachts musste ich ihn aus einer anderen Stadt abholen. Das ist Montage-Leben. Man leiht sich auch hin und wieder mal gegenseitig Geld – das ist eben dieses Montage-Leben. Heutzutage läuft alles anders, aber zur damaligen Zeit war das Gang und Gäbe.

Wir haben ja vorhin schon mal gesagt: Wenn alles gut läuft, bist du in zwei oder drei Jahren draußen. Hast du Pläne?

Codur: … Mein Größter Plan jetzt – das wird voraussichtlich im Januar passieren – … Ich darf dann wieder ganz normal arbeiten, draußen … zum Schlafen muss ich dann abends in die Anstalt zurück. Das ist mein größtes Ziel. Ich muss wieder Fuß fassen. Ich muss wieder Geld verdienen – für meinen Neuanfang … und ich will auch meine Familie irgendwie unterstützen. Es gibt viel zu tun, aber ich mische das nicht alles durcheinander, sondern mache eine Art To-Do-Liste: Was ist relevant? Das geht dann für mich vor. Ich muss erst mal selber zurechtkommen – dann kann ich auch anderen helfen – beziehungsweise: beistehen. Wenn ich selber in Schwebe bin, dann hilft das niemandem. Ichmuss wieder meinen alten Status bekommen: als Arbeiter-Monteur oder je nachdem … Unternehmer … Keine Ahnung. Ich will wieder mit dem Leben anfangen. Geld verdienen. Bis zur Inhaftierung hatte ich die letzten zwanzig Jahr nur gearbeitet – ohne krank zu feiern, ohne irgendwas. Im Knast habe ich auch gearbeitet und es war niemand da, der sich beschweren konnte.

Du hast als Küster gearbeitet, hast du erzählt.

Codur: Ja, ich was auch Küster – circa sechs Jahre lang.

Wie wird man als Muslim Küster? Hast du jemanden bestochen?

Codur: (lacht) Nein. Ich sollte eigentlich in der JVA Remscheid in der Schlosserei arbeiten. Der in der JVA bedienstete Meister … bevor ich nach Münster ging, hatte ich einen kurzen Aufenthalt in Remscheid und da war ich dann auch in der Schlosserei. Der kannte mich also. Er kannte meinen Fall. Damals war das genau … ich hab Urteil vom Europäischen Gerichtshof erwartet und einige Beamte kannten meine Geschichte auch … und mit dem hatte ich mich sehr gut verstanden … Ich komm nach knapp vier Jahren zurück … er hat wohl zwischendurch irgendwelche schlechten Erfahrungen mit Leuten gehabt … und da ist der ein komplett anderer Mensch geworden. Er war in meinen Augen zum Menschenhasser geworden. Ich konnte mit ihm nicht arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt … Also, du kannst im Knast nicht einfach sagen „Ich hab jetzt keinen Bock und will etwas anderes tun” – da muss man schon Gründe dafür haben. Da kam mir meine Schulterverletzung – Schleimbeutelentzündung – sehr gelegen. So konnte ich mich von der Schlosserei befreien und da ich vorher – in der JVA Geldern – viele Gespräche mit dem Pfarrer hatte – das tat mir einfach gut – ich habe auch mit Gespräche mit dem Imam gehabt – …, aber der hat dann gesagt: „Der Pfarrer in Remscheid ist ein Kollege von mir und du kannst kannst ja mal mit dem reden.” Die hatten nämlich keinen Küster mehr. Für diesen Job wurden möglichst Langstrafentäter gesucht. Jemanden neu anlernen – das dauert seine Zeit und da will man nicht ständig wieder neue Leute einarbeiten. Das hat mir der Pfarrer in erzählt und dann habe ich einfach gesagt: „Wie wär’s denn mit mir?” Der hat erst mal gezuckt. Der wusste ja, dass ich Muslim bin. „Ich red‘ mal mit meinem Kollegen”, sagte er. Auf jeden Fall kam er nach einer Weile zu mir: „Wir haben Interesse, aber für diesen Job musst du teilgelockert werden, damit man dich in der Kirche auch allein lassen kann.” Sonst hätte mich immer ein Beamte begleiten müssen. In der Zwischenzeit sollte ich meine erste Ausführung haben. Das ist ein Besuch von 9 bis 17 Uhr. Familienbesuch. Okay. Die haben ein bisschen gezögert, aber durch den Druck der Pfarrer, sind die ein bisschen voran gekommen .. ich war dann – sagen wir mal – am 15. zuhause und am 17. konnte ich in der Kirche anfangen. Gott hat also irgendwie Beihilfe geleistet. Zuerst hatte ich Bedenken. Tue ich damit jetzt etwas Schlechtes an meiner eigenen Religion? Ich habe dann mit meinem Bruder darüber gesprochen. Mein Bruder ist zwar kein Imam, aber er ist sehr belesen, was Religion betrifft. Der sagte: „Kein Problem. Du weißt, wer du bist. Außerdem wechselst du ja nicht zum christlichen Glauben … und es gehört zum muslimischen Glauben, sowohl Christen als auch Juden zu akzeptieren.” Das sind drei Religion … das steht sogar im Koran geschrieben … „Du darfst ohne Bedenken da arbeiten, es sei denn, du willst konvertieren.” Ich sage: „Das hab ich nicht vor.” Das hat mir sehr gut getan. Ich musste erst mal unter der Woche mit anderen Gefangenen nichts zu tun haben – die traf ich nur am Wochenende … also sonntags. Das ist sehr gut gelaufen. Wir haben sehr viel ausgetauscht. Ich habe sehr viel gelernt.

Wie lange hast du da gemacht?

Codur: Knapp sechs Jahre.

Und wieso dann irgendwann nicht mehr?

Codur: Weil ich in den Offenen [Vollzug] gehen wollte.

Ich bin durch …

Codur: Ich hab gerade angefangen.

Wenn dir noch irgendetwas besonders wichtig ist, dann raus damit …

Codur: Mir ist tatsächlich eines wichtig: Wir wurde durch die Justiz was angetan. Ich bin niemals, niemals justizfeindlich gewesen und das bin ich heute auch nicht. Ich bin der Justiz und der Polizei dankbar, dass meine Kinder und meine Familie ohne Angst leben können. Okay – mir ist was passiert … ein Fehler … ich kann nicht begründen, warum, weshalb und wie … es ist nun mal passiert, aber ich bin nicht verhasst gegenüber der Justiz … Also, ich hab immer noch Respekt wie zum Beispiel vor Krankenschwestern oder Ärzten, Anwälten, Richtern, Staatsanwälten .. wie sonst auch. Das muss ich wirklich sagen … Auch Bedienstete in der JVAen … ich habe Hunderte erlebt und die waren sehr zuvorkommend und die haben nicht die leichteste Arbeit mit Gefangenen … beziehungsweise: mit unbelehrbaren Gefangenen. Für die ist es ja auch schwierig einzuschätzen: Wen haben sie vor sich? Wie reagiert ein Gefangener, wenn ihm etwas gesagt wird? Ist ein schwieriger Job. Ich habe – wie gesagt – Respekt vor den Menschen … immer noch, aber ich möchte meine Unschuldsweste wieder tragen. Da steckt etwas in meinem Hals und das geht nicht runter. Das kann ich nicht schlucken. Es kommt auch nicht hoch. Also – es bleibt stecken.

Hast du damals den OJ-Simpson-Prozess verfolgt?

Codur: Einen Teil. Aber nicht bewusst. Das lief ja irgendwie überall.

Was glaubst du: Ist er’s gewesen?

Codur: Ich kann das nicht einschätzen. Ich war nicht dabei.

Das ist da das Problem eines Gerichts. Die müssen ein Urteil sprechen und waren auch nicht dabei. Es gibt ja vor Gericht kein Unentschieden. Es gibt am Ende nur ein Schuldig oder ein Unschuldig … O. J. Simpson – ich glaube übrigens, dass er der Täter war – hat immer gesagt: „Ich kann es nicht ertragen,dass der Mörder noch immer frei herumläuft.” Mit „glauben” ist es immer so eine Sache. Für mich wäre nicht schöner, als vielleicht mit einem Artikel zu erreichen, dass sich etwas tut in deinem Fall.

Codur: Es ist wirklich schwierig, jemandem zu glauben, wenn man nicht dabei gewesen ist. Ich kann das nachvollziehen. Ich bekam auch andere Gefangene, die behauptet haben „Ja, ich bin unschuldig”, aber schau dir das Urteil an. Da siehst du dann. Dass er ein notorischer Dieb war oder sonstwas. Esa ist wirklich, wirklich schwierig, jemandem Glauben zu schenken.

Das ist ein guter Ausdruck in der deutschen Sprache: Man schenkt Glauben.Glauben ist ein Geschenk.

Codur: Ja. Man muss würdig sein für dieses Geschenk.

Für mich ist es so: Wir sitzen hier und ich akzeptiere dich als Mensch.Du bist genau so wichtig wie ich. Uns unterscheidet gar nichts.Das ist für mich wichtig. Und wenn du mich jetzt fragst, ob ich dir glaube oder nicht, dann kann ich dir noch immer keine Antwort geben …

Codur: Es ist keine Glaubensfrage.

Für mich ist es wichtig, dir das zu sagen.

Codur: Guck mal: Wir sitzen gerade in deiner Wohnung. Ist das jetzt Risikobereitschaft oder Gutmütigkeit oder Naivität? Wenn du mir nicht einen Teil Glauben schenken würdest, würden wir doch nicht hier sitzen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, mit einem eventuellen Mörder bei mir zuhause zu sitzen.

Nimm zum Beispiel unseren Bekannten, von dem wir schon gesprochen haben. Der hat jemanden getötet. Dieser Mensch kann jederzeit in mein Haus kommen.Ich würde dem meinen Hausschlüssel anbieten.

Codur: Das glaube ich dir.

Der Mann ist – davon bin ich überzeugt – ein guter Mensch. Und das – glaube ich – bist du auch.

Codur: Ich bin definitiv ein guter Mensch. Ich bin frei von jeglichen negativen Vorhaben. Außer meinen Frauengeschichten war ich früher auch kein schlechter Mensch. Ich war früher kein schlechter Mensch. Nur meine Wahrnehmung damals war anders. Es gibt da diesen Fachbegriff –ich liebe dieses Wort: kognitive Verzerrung. Dieses Wort habe ich in der Therapie zum ersten Mal gehört. Es hört sich vielleicht doof an, aber durch den Knast bin ich ein anderen Mensch geworden. Ich habe die Möglichkeit wirklich genutzt, für meine anderen Taten mich zu rechtfertigen. Das eine lasse ich beiseite – das ist ein Fall für sich. Ich glaube, dass ich jetzt auf dem richtigen Weg bin.

Hattest du eigentlich vorher irgendeine Vorstrafe?

Codur: Nein. Absolut nicht.

Das zweite Interview

mit Ali Codur fand am 2. November statt. Zuvor hatte er Gelegenheit, den ersten Text zu lesen. Das zweite Interview dauerte rund 60 Minuten – ist aber hier wegen verschiedener Dopplungen in den Aussagen nicht komplett wiedergegeben.

 

Also, was mich interessiert – du hast ja jetzt den Text gelesen: Wie war das für dich? Hattest du den Eindruck, es ist dein Geschichte?

Codur: Ja, eins zu eins, worüber wir geredet haben, klar.

Hast du dir, als du das gelesen hast, gedacht: Verdammt nochmal, das oder das fehlt noch, das muss da rein?

Codur: Ich weiß nicht, ich dachte mir: Vielleicht sollte ich auch über den Knast reden … auch ein bisschen, wie das gehandhabt wird, aber ich will da auch nicht auf heißem Pflaster laufen.

Ich schlage vor, dass wir darüber später sprechen.

Codur: Aber da will ich auch nicht auf heißem Pflaster laufen.

Mir ging es jetzt erst darum: Ist da irgendwas, wo du sagst: Das müsste noch da rein, damit man das besser verstehen kann?

Codur: Ja –  das ist eine Sache, die ich mir immer wieder einrede: Nach dem, was ich erlebt habe – ich meine im Knast – sage ich: Der Knast ist zum  Alltag geworden. Und für die Richter und die Staatsanwälte – ist Verbrechen der Alltag: Es hat alles gegeben – da tun die sich natürlich schwer …

… Ich unterbreche mal eben. Meine Frage zielte nicht auf etwas Allgemeines, sondern ich meinte deine Geschichte und deinen Fall. Da kann es ja sein, dass du sagst: Mensch, das müsste noch bitte mit da rein, damit man es besser versteht.

Codur: Ich habe in meinem Leben – also meine letzten fast 20 Jahre, bevor ich inhaftiert wurde – da habe ich als Monteur gearbeitet. Jemand aus dem Fach weiß, was man da verdient, mit Spesen, mit dem Lohn, also da ist man schon im mittleren Bereich. Und dann war ich ja auch selbstständig gewesen. Es haben auch Leute unter mir gearbeitet. Also: Geld, Geldfluss war immer da.

In der Akte steht ja, dass du spielsüchtig warst und Spielsucht bedeutet ja: Da geht meistens auch eine ganze Menge Kohle verloren.

Codur: Ja.

Dann kann es ja sein – ich frage das einfach so aus Interesse – da kann es ja tatsächlich sein, dass man irgendwann eine Zeit lang einfach blank ist, weil man sein Geld verspielt hat, oder?

Codur: Man ist immer wieder mal blank. Es gab Zeiten, da spielt man mit Tausenden herum und es gab Zeiten, wo man kein Geld für Zigaretten hat. Das kommt und geht. Das ist alles phasenweise, was einem passiert. Aber wenn man jahrelang mit so viel Geld … Schau mal, wenn einer an der Kasse arbeitet, bei der Bank, ja, der hat den ganzen Tag mit Geld zu tun, mit Scheinen, mit so. Diesen Mann kann man nicht so leicht mit Geld beeinflussen. Er steckt in dem Geld drin. Verstehst du, was ich meine? Es ist nicht eins zu eins vergleichbar, aber wenn man jahrelang so und so viel Einkommen hat und man weiß, ich habe so und so viele Stunden zu machen und habe dann so und so viele Tausend zu bekommen … Also für mich ist es unglaubhaft gewesen, bevor ich inhaftiert wurde … lachhaft eigentlich … wegen 1000 Euro soll ich ein Leben genommen haben. Ja, das ist für mich sehr, sehr lachhaft gewesen.

Du weißt, dass es Leute, Menschen gibt, die andere für 10 Euro geben.

Codur: Das habe ich erst erfahren, nachdem ich inhaftiert wurde. Ich habe mich währenddessen – während der Verhandlungen – … ja, das war bei mir so: Ich habe  innerlich gekocht. Ich habe gedacht: Was fällt denen ein, zu behaupten … also wegen 1.000 Euro ein Menschenleben genommen haben. Das ist ein Unding für mich gewesen. Schon allein der Gedanke. Aber nachdem ich inhaftiert wurde, habe ich einige Leute kennengelernt. Da hat einer mal für 50 Euro seine Nachbarn getötet … einen Pflegebedürftigen. Der Täter war Alkoholiker. Ein anderer hat versucht, eine Bank auszurauben und ist mit 75 Euro ‚Gewinn‘ inhaftiert worden. Also – der ist erwischt worden und hat sieben Jahre kassiert. Also, nachdem ich das alles gesehen habe, dachte ich mir: Das, was du jetzt sagst, dieses Argument ist gleich null. Für mich war das anfangs ein sehr starkes Argument [Codur meint, dass er es niemals für 1.000 Euro ein Menschenleben genommen hätte], aber nachdem ich von solchen Fällen gehört hatte, dachte ich: Das ist kein Argument mehr.

Es gibt ja Menschen, Psychologen, die sagen: Jeder Mensch kann zum Mörder werden. Würdest du das unterschreiben?

Codur: Kann ich nicht sagen.

Ich könnte es sagen. Ich glaube nicht, dass man dazu schuldig werden muss. Ich glaube, dass das jedem passieren kann. Du brauchst nur die richtige Situation und den falschen Augenblick.

Codur: Ich muss ehrlich sagen, wenn ich bei jemandem eine Wunde sehe, eine offene Wunde, dann bekomme ich schon diesen Gänsehauteffekt. Ich glaube nicht, dass ich jemanden töten könnte – also verletzen definitiv … das kann auch per Unfall passieren, wenn man jemanden schubst, dass der unglücklich fällt oder so. Aber gezielt jemanden zu töten?

Ich meine auch nicht so sehr gezielt. Es gibt ja Affekt-Taten, wo zwei Leute sich streiten und das Ganze kocht hoch…

Codur: …Nein! …

… und zum Schluss ist einer tot und der andere hat das überhaupt nicht gewollt.

Codur: Also – da muss ich dir leider … Ich, zu meinem Teil – sage ich dir jetzt … Ich bin nicht in der Lage, jemanden auch nur schlecht zu berühren. So bin ich gedrillt worden in meinem Knastleben. Ich möchte das, was ich erlebt habe, nicht nochmal erleben. Da bin ich sehr zurückhaltend. Und man sagt ja, man sieht Rot. Man darf erst gar dazu kommen  lassen, dass man Rot sieht. Das hat jeder eigentlich in eigener Hand. Es sei denn, man wird grundlos von irgendwelchen Leuten angegriffen. Da ist dieser Abwehreffekt, ja, aber wie weit geht man da?

Dann wäre es ja Notwehr, wenn du grundlos angegriffen bist.

Codur: Genau.

Aber wenn jetzt jemand zum Beispiel deine Tochter erschießt.

Codur: …  … Es hört sich blöd an, aber ich kann meine Tochter nicht mehr zurückbringen. Der Typ soll seine Strafe bekommen. Fertig! Von mir kriegt er keine Strafe. Das wäre für mich genug Strafe, wenn ich ihm gar keine Emotionen zeige.

Es gibt ja im Knast die sogenannten Tatleugner, die also immer sagen, dass sie es nicht gewesen sind. Wir reden nicht nur von Mord. Tatleugner sitzen ja meist die gesamte Haftzeit ab, weil ja erwartet wird, dass jemand sagt: Ich bereue, was ich getan habe. Du hast aber doch auch nie gesagt, dass du es gewesen bist.

Codur: Ja.

Da ist es schon erstaunlich, dass du jetzt schon in den offenen Vollzug kommst. Wie erklärst du das?

Codur: Ich bin zwar Tatleugner, aber erstens: Ich habe genau so lange gesessen wie ein anderer, der seine Diagnostik gemacht hat, seine Therapie gemacht hat. Außerdem habe ich mich für jede Gruppe, die man im Knast machen kann,
freiwillig gemeldet. Ich habe gesagt, ich wäre bereit, jede Gruppe durchzumachen.
Aber es ändert nichts daran, dass ich Tatleugner bin.

Was sind das für Gruppen, für die du dich freiwillig gemeldet hast?

Codur: Antigewaltgruppen zum Beispiel … soziales Training. Ich durfte sogar bei der Rückfallprophylaxe-Gruppe teilnehmen. Das hat mir wirklich … man will es manchmal nicht wahrhaben … aber das hat mir sehr viel gebracht – also das, was ich da mitgekriegt habe. Wenn man zu fünft, zu sechst sitzt … das sind sechs Leben. Und Einschnitte von deren Leben, wichtigster Einschnitt in ihrem Leben, warum sie im Knast gelandet sind. Jeder erzählt seine Geschichte. Da denkt man: Okay, es gibt schlimmere Situationen als meine. Aber es gibt auch bessere Situationen. Man kann nicht pauschal sagen: Ihr seid besser dran oder ich bin besser dran.

Du hast gesagt, vielleicht auch ein bisschen was über Knast erzählen.
Finde ich gut. Wenn du jetzt zurückschaust von deiner Verurteilung bis heute: Wie war die erste Zeit und wie ist das heute?

Codur: Die ersten fünf bis acht Jahre war ich ja immer am kämpfen gewesen. War immer in Erwartung. So konnte ich – auch durch Unterstützung meiner Familie  – alles durchstehen. Und dann kam irgendwann der Knackpunkt [schnippt mit dem Finger]: Der Knast wurde Alltag. Deswegen sage ich immer: Wer … acht Jahre im Knast gesessen … und wenn derjenige nichts gelernt hat … wird er sein Leben lang nichts lernen. Acht Jahre im Knast ist die Zeit, wo man alles verlieren kann: Die Kinder wenden sich ab, die Frau lässt sich scheiden oder die Partnerin geht zu jemand anderem. Man erlebt so viele Verluste. Und wenn am Tiefpunkt ist … tiefer kann es nicht mehr gehen … also wird es zu Alltag. Es ist dann Alltag, dass früh morgens sechs Uhr Frühstück kommt – vor die Tür … mittags um zwölf Uhr, halb zwölf – je nachdem – Mittagessen mit Abendbrot dabei. Ja, man geht ein paar Stunden arbeiten … sieben, acht Stunden – je nachdem. Das ist Alltag. Das ist wie ein Tierleben. Tiere kommen ja auch von der Weide. Die wissen sogar den Weg, wo sie hingehen müssen. So sehe ich das. Nach acht Jahren, ja … wenn meine Familienangehorigen zu Schaden kommen – selbst dann sage ich …  würde ich demjenigen sagen … erstmal emotional: Der Mensch soll verrotten. Er soll nie wieder rauskommen, einerseits. Auf der anderen Seite denke ich: Was bringt das ihm? Seine Strafe bringt meinen Verlust nicht zurück. Es kann ihm aber helfen, durch Therapie, durch Tatverarbeitung, dass der vielleicht ein besserer Mensch wird. Denn dieser Mensch muss ja auch wieder irgendwann in die Gesellschaft. Und darauf muss man  ja auch vorbereitet werden.

Glaubst du, dass es Leute gibt, die man nie mehr rauslassen sollte?

Codur: Ganz bestimmt.

Hast du solche getroffen im Knast?

Codur: Getroffen nicht. Aber das ist meistens bei Sexualdelikten. Mord ist nicht gleich Mord. Es kann auch im Affekt passieren. Ich möchte es nicht verharmlosen. Absolut nicht. Man darf diese Menschen auch nicht verdammen. Keiner kennt ja seine Geschichte, Vorgeschichte … wie es dazu kam … absichtlich oder unbeabsichtigt. Kann ich ja nicht wissen. Und ich bin kein Richter, kein Staatsanwalt. Ich kann nicht jemanden vorurteilen.

Gibt es – ich meine: unter Gefangenen –eine Hierarchie im Knast?

Codur: Ja.

Bei den verschiedenen Delikten?

Codur: Genau – also Sexualdelikte sind unterste Schublade. Und Hauseinbrüche: Das wird verharmlost, was ich nicht machen kann, denn wenn jemand in eine fremde Wohnung eindringt und die Sachen durchwühlt … mir geht der Gedanke schon durch … wenn derjenige ins Schlafzimmer reingeht und an die Wäsche meiner Frau zum Beispiel geht … ja, da werde ich sauer. Er hat nicht das Recht, das, was ich mir erarbeitet habe, einfach wegzunehmen, nur weil er es kann. Das ist für mich nicht weniger schlimm als ein Drogendealer oder … keine Ahnung: Gewalttäter.

Ich würde da schon noch einen Unterschied sehen. Ich glaube, ein Drogendealer zerstört aktiv das Leben von anderen.

Codur: Definitiv.

Jemand, der in dein Haus eindringt und von mir aus auch an den Wäscheschrank von deiner Frau geht, zerstört vielleicht so ein bisschen Vertrauen in die eigenen vier Wände. Aber jemand, der Kindern Hasch verkauft oder der Kinder missbraucht, finde ich, das ist schon ein anderes Kaliber.

Codur: Also ich kann selber nicht bestimmen, in welche Schublade sie reinstecken,
aber … so wie ich erzogen worden bin, ja … ich weiß nicht … Also für mich zählt der kleinste Raub schon schlimm. Also es ist schon schlimm, wirklich schlimm. Aber das mit Drogen kann ich mich nie anfreunden. Sexualdelikte auch nicht. Ich sage: Ich mache nur das Nötigste. Wir bedienen manchmal auch solche Leute. [Codur ist auch Essensausträger.] Wenn ich also bei der Essensausgabe bin, muss ich die Leute auch bedienen. Ich muss denjenigen als Mensch wahrnehmen. Es geht nicht anders.

Fällt dir das schwer?

Codur: Hin und wieder ja, aber irgendwann ist man abgestumpft. Man zeigt keine Reaktion mehr. Bevor man … das ist ja dieses Sprichwort: Wenn du mit einem Finger auf jemand anderen zeigst, zeigen vier Finger auf dich. Weißt du: Ich habe mit meinem Fall zu kämpfen. Da gehe ich nicht auf andere und vorverurteile sie. Ich weiß ja nicht, wie es dazu kam – was so ein Typ überhaupt gemacht hat. Man sagt einfach: Der ist zum Beispiel Kinderficker. Ich weiß es doch nicht. Ich habe es nicht gesehen. Er ist verurteilt. Ich bin selber fehlverurteilt worden. Wie kann ich auf jemand anderen mit dem Finger zeigen? Geht nicht. Da tue ich mich schwer. Aber manchmal erkennt man so ein Anzeichen von einer Aura des Menschen. Da kann man sagen: Mit dem möchte ich gar nichts zu tun haben. Das gibt es reihenweise solche Menschen. Da ist mir ein Drogenjunkie – also Drogenkonsument, der wegen irgendwelchen kleinen Delikten reingekommen ist – … solcher Typ ist mir angenehmer, weil ich weiß, worauf ich bei dem achten muss. Dann habe ich meine Ruhe.

Und jetzt kommen wir zu einem Widerspruch: Wenn du sagst, der ist dir angenehmer, dann kann ja genau dieser Drogenjunkie, weil er Kohle brauchte, in deiner Wohnung gewesen sein und die Wäsche von deiner Frau durchgewühlt haben …

Codur: Ja …

Und vorhin hast du gesagt: Das geht gar nicht.

Codur: Das geht nicht. Ja. Aber wenn man schon in einem Sumpf lebt, dann greift man nach dem … wie soll ich das ausdrücken?

Nach dem letzten Strohhalm?

Codur: Ja, das würde ich nicht mal sagen, aber … also, ich habe mit Drogenjunkies weniger zu tun als die anderen. Aber die sind mir, wenn die zu mir kommen und ich sie bediene … habe ich da kein Problem damit. Die machen das wirklich aus Not. Denn wenn Droge einmal im Blut ist, ja … Ich habe das mit eigenen Augen gesehen,
wie einer umkippte und wie einer ohnmächtig wurde und alles. Also bei Drogenkonsum bin ich vorsichtig, irgendwas zu sagen. Aber seine Masche kenne ich ja nicht, warum er inhaftiert wurde. Vielleicht ist es auch besser, erst mal gar nicht zu wissen, wer was getan hat. Man hat einen Menschen vor sich und ja, man sagt Hallo und okay. Selbst diese Menschen mit Sexualdelikten … es gibt sicherlich Leute, mit denen man sich auch ganz normal unterhalten kann … Wo man sagt, wenn man sein Delikt nicht kennt … dass man kaum darüber nachfragen würde, dass er so einer ist … Gibt es ja auch. Aber gottseidank ist mir das irgendwie nicht so bewusst passiert.

Bist du … Hast du im Knast viele Leute getroffen, die gesagt haben, ich bin unschuldig?

Codur: Direkt nicht. Ich habe viele Leute gesehen, die das ausgesprochen haben.
Da habe ich mich richtig beleidigt gefühlt. Die haben nur aus Lust, aus Laune haben die einfach … die wussten, warum sie sitzen. Die wussten auch … das haben sie auch eingesehen, innerlich. Aber nach außen hin, haben sie das nur lächerlich gemacht. „Ich bin unschuldig, ich bin unschuldig.” Das nur, um irgendwas gesagt zu haben.
Nur damit die Leute dabei lachen. Das war für mich beleidigend. Aber was will man machen?

Das war insofern für dich beleidigend, weil du weißt, du bist unschuldig?

Codur: Ja. Ja. Dass man das ins Lächerliche zieht … es geht um ein Menschenleben … nicht nur um meines, sondern auch das von meiner Familie … worunter sie gelitten haben. Und da macht sich einer lustig, ohne mich direkt anzugreifen. Da fühlt man sich angegriffen.

Wie denkst du heute über die Familie von Frau S.?

Codur: … … Unterschiedlich.

Warum unterschiedlich?

Codur: Unterschiedlich … Einerseits tun mir die beiden Töchter sehr leid … Die haben ihre Mutter verloren. Andererseits … ich weiß nicht, wie weit ich es glauben kann … dass die vielleicht Alkoholprobleme hatten. Ich weiß ja nicht. Ich sag ja: Ich kann [auf] niemandem mit dem Finger zeigen. Ich stecke nicht drin. Ich weiß auch nicht, wer dafür verantwortlich ist. Aber wer hat davon zu profitieren? Wer hat davon profitiert?

Dass die Frau tot ist, meinst du?

Codur: Ja. Ich nicht. Ganz gewiss nicht. Natürlich kommt einem diese Frage. Ich hätte mich wirklich so gerne mit beiden unterhalten. Aber dazu gab es keine Ebene, wo ich mich … Also irgendwie ist es gar nicht dazu gekommen.

Hast mal versucht, denen zu schreiben?

Codur: Davon hat mir anfangs mein Anwalt abgeraten. Das könnte man missverstehen, hat er gesagt.

Hast du ihn verstanden?

Codur: Nein, ich weiß nicht. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht mehr. Und ich wollte immer an die Regeln halten. Da habe ich mich deswegen ferngehalten. Aber trotzdem werde ich vielleicht versuchen, die über meine Schwester … dass meine Schwester vielleicht eine von den Töchtern anschreibt, ob sie bereit wäre, mit mir zu reden. Also ich möchte alles sein, aber nicht jemand, der jemanden belästigt. Da bin ich sehr vorsichtig. Ende April ’26 werde ich voraussichtlich entlassen. Dann bekomme ich Bewährungsauflagen. Und ich lasse es nicht zu, dass das gefährdet wird. Ich möchte nicht wieder in den Knast.

Wenn heute jemand käme und würde sagen, wir ermitteln nochmal in dem Fall. Was würdest du dem sagen?

Codur: Wo soll er gucken? Das weiß ich nicht. Ich habe keine Idee. Die sollen, die sollen… Okay – Ideen habe ich schon. Vielleicht habe ich jetzt unbeabsichtigt gelogen. Wer war dieser Mann, der in der Garage gesehen wurde?

Der mit dem Telefon.

Codur: Nein, nicht der mit dem Telefon. Der war in der Garage drin. In der Garage, wo er von Nachbarn gesehen wurde. Wer war dieser Mann? Warum wurde nicht nachgeforscht? Möglicherweise … man sagt ja … das slawische Gesicht könnte Russe oder Pole sein. Egal … ich möchte jetzt nicht auf diese Ebene. Wenn das so einer ist, dann ist der bestimmt abgehauen, falls er mit der Sache zu tun hat. Aber der ist nach meiner Meinung der letzte gewesen, der sie lebendig gesehen hat. Sonst käme er doch nicht in diese Garage rein. Ich habe sie [Frau S.] nicht mehr lebendig erlebt.
Da könnte man ansetzen. Da wird ganz bestimmt was herauskommen, wenn der Staat sich bereit erklärt, so viel Aufwand zu machen, um diesen Mann aufzufinden.

Jetzt ja nicht mehr. Du bist ein verurteilter Mörder und die sagen: Wir sind ja nicht bekloppt und fangen noch mal von vorn an.

Codur: Ja, da bin ich. Ja. Einerseits – das sage ich wirklich offen: Ich bin über 40 Jahre in Deutschland. Einerseits passieren solche Dinge. Auf der anderen Seite habe ich dennoch Vertrauen zu Deutschen. Das ist … das Gefühl kann ich nicht erklären. Es geschieht einem Unrecht. Aber irgendwann – irgendwann kommt der Deutsche in Gesinnung und geht nach … Koste was, es wolle. Da kennt man keine Grenzen mehr um die Kosten. Und ich hoffe, dass es jemanden gibt, der sagt: Ja – da müssen wir vielleicht mal gucken.

Bei den Unterlagen, die ich von dir bekommen habe, gab es einen Brief, den der Anstaltspfarrer an diesen Herrn Petermann [Ehemaliger Profiler, der im ZDF alte Fälle recherchiert] geschrieben hat …

Codur: Ja.

Was hast du dir davon versprochen?

Codur: Versprochen habe ich mir nichts, aber dass der Mensch [Petermann] überhaupt zurückgeschrieben hat, hat mir gut getan – auch, wenn es für mich negativ lief. Er hat es ja auch begründet. Das war nicht der Einzige. Ich weiß nicht, ob du den Fall Ulmen kennst – aus Bonn.

Nein.

Codur: Da hat auch ein Journalist herausgefunden, dass er seine Frau getötet hat. Nur durch die Recherche von dem Journalist ist es herausgekommen. So ist der Mann auch verurteilt worden. Diesen Journalisten habe ich auch angeschrieben. Und er hat zurückgeschrieben: „Es tut mir so leid, ich habe aber drei ähnliche Fälle, die ich bearbeiten muss. Ich habe keine Zeit dafür.”

Es ist natürlich, glaube ich, immer so, dass, wenn man einen Fall hat, wo jemand schon rechtmäßig verurteilt ist, dass dann die meisten einfach die Finger davon lassen, weil die Chance, da etwas zu erreichen verschwindend klein ist. Das heißt, das, was ich tun kann, tun wir gerade. Ich höre zu, ich schreibe einen Text und der wird dann veröffentlicht. Ich habe nicht mal eine Ahnung, wo das sein wird. Ich habe dir ja schon gesagt, dieser Text wird am Schluss wieder 40 Seiten lang sein –vielleicht noch länger. Das kann man nicht in die Zeitung bringen.

Codur: Wer hat denn Lust, so lange zu lesen? Das ist ja fast buchreif …

Ja, aber man kann es ja nicht auf einer Seite zusammenfassen.

Codur: Nein, nein.

Ich glaube, wenn man als Journalist arbeitet, dann hat man natürlich immer im Hinterkopf, man hat irgendwann das ganz große Ding an der Angel. Wenn man hier herausfinden könnte, der Junge ist das nicht gewesen, ist das natürlich … Aber glaubt mir das oder nicht: Ich mache es ja nicht deswegen, sondern ich mache es, weil mich einfach … weil du mich als Mensch interessierst und weil ich wissen will:
Wie lebt man mit so einer Geschichte?

Codur: Ja. Also versprochen habe ich mir erstmal gar nichts. Aber glaub mir:
Selbst, dass wir hier sitzen und darüber reden – selbst das ist mir innerlich eine seelische Hilfe.

Warum?

Codur: Warum? Ich kann mit jemandem ernsthaft reden … ich musste bis jetzt immer im Knast reden … über meinen Fall. Und das waren alles Justizbedienstete.
Und die dürfen kein schlechtes Wort über Justiz sagen. Die haben ja einen Eid geleistet. Für die heißt es: Verurteilt ist verurteilt. Für die sind wir alle gleich verurteilt. Also: „Kack ab” – auf Deutsch gesagt. Keiner ist in der Lage oder … oder keiner zeigt ihnen … die müssen ja auch so bleiben. Auf der anderen Seite. Das ist ein Dilemma, ne? Wie objektiv kann man da gucken, schauen? Als Betroffener sogar. Selbst ich kann sagen: Okay, die sehen, tausende von Menschen kommen, gehen. Das sind tausende Geschichten. Erstens: Die haben keinen Bock, großartig Geschichten zu hören. Die kommen zur Arbeit, machen acht Stunden fertig. Dann laufen sie hin und her, weil sie immer unterbesetzt sind. […] Die haben überall zu wenig Leute – auch bei den Sozialarbeitern und den Psychologen. Da kann es also auch passieren, dass jemand ein paar Monate länger auf den Gutachter warten muss, der dann das Gutachten erstellt, wo es darum geht, dass der Gefangene vielleicht in den offenen Vollzug kommt. Das ist jetzt Alltag geworden.

Hast du jemals in deiner ganzen Zeit im Knast an Suizid gedacht?

Codur: Das ist so eine Sache. Ich habe … wie kann ich das jetzt … Süßstoffdosen kennst du, ne? Ich habe drei, fast drei davon … also nicht Süßstoff, sondern von der Größe her, wollte ich jetzt sagen … Dreimal habe ich den mit etlichen Tabletten
drinne gehabt. Und dreimal bin ich davon abgekommen.

Was heißt drinne gehabt?

Codur: Ich habe immer parat gehabt …, wenn ich mal nicht mehr wollte … das zu nehmen … irgendwie, dass ich dann … keine Ahnung, also wenn man das nimmt … wie 100 Prozent ich das vorgehabt habe, kann ich nicht sagen, aber ich habe das immer parat gehabt und dreimal habe ich das entleert – selber entleert. Nach gewisser Zeit denkt man gar nicht mehr nach.

Du bist ja insofern – in Anführungsstrichen – ein Glückspilz, als deine Familie dich nicht verlassen hat – deine Frau nicht, deine Kinder nicht … Ich kann mir vorstellen, wenn man mit so einem Urteil lebenslänglich, lebenslang sitzt und war es nicht und dann noch merkt, dass die ganze Welt wegbricht, dass man dann solche Gedanken haben kann. Hast du oft erlebt, dass sich im Knast jemand umgebracht hat?

Codur: Ich habe das erlebt, aber es hatte nicht mit einem Fehlurteil zu tun.
Da war einer zum Beispiel – das ist jetzt, was im Knast was geredet wurde … das war in Geldern: Der Typ musste von Geldern nach Willich und er hatte noch vier Monate zu sitzen. Lange hat er auch nicht gesessen. Nur, weil er nicht nach Willich wollte,
hat er sich das Leben genommen. Das war die Aussage. Und er hatte tatsächlich nur noch vier Monate zu sitzen. Also: Wie schwach oder wie stark soll man da sein,
um das durchzuziehen?  … Ja, ich habe schon einige erlebt. Fast in jedem Knast.
Ich war in Aachen, in Hagen, in Münster, in Geldern, in Remscheid und jetzt in Euskirchen.

Gibt es sowas wie positive Erlebnisse?

Codur: Ja, da muss ich aber sagen ich wurde durch den Sozialdienst in Aachen …
also eine Sozialarbeiterin hat mir nahegelegt … „Hör zu: Das ist jetzt dein Urteil. Damit musst du leben. aber damit du nach 15 Jahren schneller rauskommen kannst,
musst du an dir arbeiten. Also, geh nicht in deine Abteilung und sag ‚Ich sitze jetzt 15 Jahre ab und gut ist‘, sondern, mach deine Schule, mach Ausbildung, verbringe die Zeit sinnvoll.‘ Und diesen Weg bin ich auch gegangen. Und das hat mir sehr viel geholfen.

Das war auch ein guter Ratschlag.

Codur: Definitiv, definitiv.

Hattest du in der ersten Zeit sonst irgendwann mal das Gefühl: Ich kapsele mich jetzt ganz ab, ich will mit allem gar nichts mehr zu tun haben?

Codur: Nein, ich bin gar nicht so ein Mensch gewesen.

Ja, aber es kann ja sein, wenn man weiß, man ist unschuldig und dann kriegt man dieses Urteil und dann weiß man, das werden jetzt mindestens die nächsten 15 Jahre des Lebens – dann kann man ja sagen: Mir ist das alles so scheißegal – ich will keinen Menschen mehr sehen.

Codur: Das wäre so gewesen, wäre jemand schuldig und zu Recht verurteilt worden. Damit kann man weniger arbeiten als wenn  man unschuldig sitzt. Ich habe noch zu arbeiten gehabt. Ich musste … ich habe Revision eingelegt, ich habe den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte … das dauert Monate und Jahre …

Justizirrtum? Anwalt von Ali C. ruft Europäischen Gerichtshof an

[…] Das Gericht erkannte C. des Mordes  schuldig. […] Auch die folgenden Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht befanden so. Sie hätten aber, so der Anwalt, das „falsche Urteil” durchgewunken. Deswegen verfasste er eine umfangreiche Beschwerdeschrift und reicht beim Europäischen Gerichtshof für Menschen (EGMR) in Straßburg ein. (Quelle: Aachener Zeitung; Autor: Wolfgang Schumacher.)

… Jede Erwartung bringt auch Hoffnung mit und Durchsetzungswillen gegenüber schlechten Gedanken. Man war immer in Erwartung – immer in Erwartung.
Und dann kann ich sagen: Nach sechs bis acht Jahren wurde alles langsam Alltag.
Ich war nur noch wie ein Roboter. Ich habe morgens … keine Ahnung … Schule oder Arbeit, nachmittags wieder zurück,  Umschluss, Kollegen … ein paar Mal gelacht, was gespielt und: Weg war’s. Dann ist die Welt in Ordnung wieder. Deswegen
stumpft man nach acht Jahren ab. Und wenn du abstumpfst, dann ist es keine Strafe mehr. Also – ich möchte nicht falsch verstanden werden, aber man erkennt, dass man richtig bestraft ist, dann erkennt man, wie groß der Verlust ist, den man hat: Familie, Beziehung – das ganze Programm. Meine Erfahrung: Was acht Jahre hält,
hält auch länger. So. Nach acht Jahren, wenn man schon alles verloren hat, was will derjenige noch? Irgendwann kommt die Entlassung – bis dahin kriegt man sein Essen … ja, seine drei Mahlzeiten quasi, auch wenn es nicht alles nach Wunsch ist …
Aber man kann ja, wenn man arbeitet und ein bisschen Geld verdient … man kann sich dann selber privat auch was kaufen. Ja. Was will er? Er zahlt keinen Strom,
keine Miete, nichts dergleichen. Kann sogar ein bisschen Geld ansparen. Aber man ist abgestumpft. Das ist keine Strafe mehr. Also entweder – das ist meine persönliche Meinung – entweder sollen die Knäste noch strenger sein, mit Auflagen – dermaßen, dass man in fünf Jahren dermaßen gebrochen ist … ja, dass derjenige draußen niemandem mehr was antun kann. Aber: Zehn Jahre, 15 Jahre – ich kenne einen … der wird bald nach Euskirchen kommen …  der hat 37 Jahre gesessen. 37 Jahre. Ich selber bin 2011 inhaftiert worden. Ich komme immer noch nicht mit meinem Smartphone klar.Wie soll dieser Mensch klarkommen? Ich habe noch Geschichten gehört, da waren Gefangene, die wollten nach 15 Jahren gar nicht raus,
weil die gar nicht wussten, wohin. Ich habe einen erlebt – ein Kollege von mir –, der ist in Remscheid in den Offenen Vollzug gegangen. Nach einem Jahr – nach knapp einem Jahr – ist er freiwillig zurück in den Geschlossenen gekommen. Der kam draußen nicht zurecht.

Das wird dir nicht passieren?

Codur: Nein. Definitiv nicht. So Gott will. Andererseits: Ich kann so viel behaupten wie ich will, aber ich muss auch diesen Weg gehen können. Bis jetzt habe ich ein doppeltes Ziel gehabt: Einerseits mit meinem Fall – andererseits meine Knastkarriere. Ich nenne das Knastkarriere. Ich habe so vieles durchgemacht, sodass ein x-beliebiger Richter –  sage ich mal grob, ohne jetzt jemanden beleidigen zu wollen –, wenn er meine Akte liest … dann wird er sehen … okay: Der Codur ist zwar Tatleugner, aber er hat an sich gearbeitet. Das ist das, worauf ich pochen kann. Es gibt ansonsten keine negativen Einträge in meiner Akte. Warum soll dieser Richter aus Jux und Dollerei noch eine Strafe verhängen? Ein Zeichen, dass ich jetzt im Offenen bin … ist ja – im Justizjargon … ist man in den Offenen gekommen, dann hat man auch die Aussicht, nach seiner Zeit zu gehen. Man wäre doch sonst erst gar nicht in den Offenen gekommen. Der Geschlossene entlässt keinen Gewalttäter … also keinen Mörder. Das muss immer im Offenen passieren.

Du warst ja – hast du auch beim letzten Mal gesagt – vor dieser ganzen Sache, ein Weiberheld …

Codur: … Weiberheld … äh, das ist ein … wie soll ich sagen?

Du kamst bei Frauen gut an.

Codur: Ja, ja.

Wie geht man damit um, wenn man im Knast sitzt und dann gibt’s das alles nicht mehr? Fehlt einem das oder ist es irgendwann auch Alltag, dass es das alles nicht mehr gibt?

Codur: Da muss man schon Unterschied machen. War man Frauenheld, während man ledig war und keine Beziehung hatte, oder war man verheiratet? Ich habe große Last gehabt. Ich war verheiratet und dumm … mein Weg … also mich von dem – von meinem Weg abzubringen. Ich war sehr dumm. Ich habe sehr lange gebraucht, mit meinem eigenen schlechtem Gewissen zu leben … da denke ich nicht an Frauen …
wirklich, das hat keinen Stellenwert mehr gehabt in dem Moment … also während all der Jahre. Natürlich sehnt man sich nach einer Umarmung, Streicheln der Haare
oder sonst irgendwas. Da geht es nicht um Intimes … einfach nur darum, dass jemand für dich da ist. Ja – man sehnt sich danach: natürlich. Das tue ich ja immer noch.

Würdest du nochmal heiraten?

Codur: Heiraten? Warum nicht? Ja.

Deine alte Frau?

Codur: Meine alte – also meine Ex-Frau? Ich würde sie nochmal heiraten, wenn sie es wollen würde. Ja, ich sehe zwar kein Anzeichen davon, aber ch mache mir auch keinen Hehl daraus: Ich bin im Moment damit beschäftigt, sie zu unterstützen –
ohne irgendwelche Hintergedanken.

Ist sowas möglich?

Codur: Ich kann das, was geschehen ist, nicht wegmachen. Das ist vorbei.
Ich kann meine Ex-Frau jetzt nur unterstützen … und – wie gesagt – ohne irgendwelche Erwartungen. Das ist mein Ziel. Das, was sie Schlechtes erlebt hat … dass sie nochmal … warum soll sie sich diese Blöße geben?

Weil sie dich immer noch liebt?

Codur: Wie weit kann die Liebe gehen? Also ich weiß nicht. Ich möchte sie unterstützen. Das sage ich aus dem tiefsten Herzen. Sie hat immer noch
Probleme mit ihren, äh, also, mit unseren, Kindern.

Probleme, heißt?

Codur: Heißt, dass zwei von unseren Jungs zum Beispiel noch nicht so richtig
den Elan haben … den Elan haben zu arbeiten und so. Sie hatte viel zu wenig Unterstützung von mir. Ich war – vor meiner Inhaftierung – fast nur Wochenenden da … bis auf die letzten zwei Jahre. Da war ich jeden Tag da. Da habe ich bei den Bayerwerken gearbeitet und bin jeden Tag nach Hause gefahren. Ansonsten war ich immer mal zwei Wochen weg – mal eine Woche, vielleicht einen Monat, als ich damals in Polen gearbeitet habe. Ja, ich war am Wochenende da und wollte einfach
meine Ruhe haben. Weil ich dachte – so blöd das klingt: Ich bin der Mann. Ich bring das Geld nach Hause. Aus mir könnte ein Feminist werden. Das hört sich vielleicht falsch an, aber wirklich … Also Hut ab von meiner Frau. Sie hat all die Unterstützung verdient. Und die gebe ich ihr, ohne irgendwas zu erwarten.
Bekomme ich was zurück? Was, was will ich mehr?

Wenn du was zurück bekommst, lädst du mich zur Hochzeit ein.

Codur: Definitiv. Also das ist wirklich, wirklich … das ist vielleicht eine Chance.
von zwei Prozent.