Horst lächelt. Es ist ein offenes Lächeln – eines voll von Interesse für das Gegenüber. Und ich sitze da – am Rande der Sprachlosigkeit. Irgendwie eingehüllt in die Angst vor einer falschen Frage. „Es gibt nur einen Fehler“, sagt Horst: „Gar nicht fragen.“
Weihnachtswunder
Horst genießt sein Weihnachtswunder: Er lebt. Noch. Horst ist zum zweiten Mal an Leukämie erkrankt. Das erste Mal – es war vor 26 Jahren – hat er die Herausforderung gemeistert. Dieses Mal wird ‚die Sache‘ ein schlechtes Ende nehmen. Ich besuche Horst im Hospiz. Da sitzt er mit seiner Hoffnung: „Weihnachten zuhause“, heißt das Ziel. „Zuerst wollte ich das nicht“, sagt er. „Ich wollte nichts machen mit dem Gefühl: Es ist das letzte Mal.“ Weihnachten im Hospiz – ich spüre das hier – ist kein Widerspruch. Ja – das hier ist ein Ort des Abschiednehmens von der Welt, aber: Es ist kein dunkler Ort. Weihnachten, denke ich, ist für viele ein gigantischer Einsamkeitsverstärker. Dass es genau hier anders ist, würde man nicht erwartet haben. Aber es ist so.
Der Zügelhalter
Horst ist 62. Kein Alter eigentlich. Horst war früher Messdiener. „Spielt der Glaube eine Rolle für die letzte Reise?“ „Zwischendurch war es anders im Leben“, sagt Horst, „aber jetzt ist der Glaube zurück: ein Anker. Ein Halt. Manchmal bete ich. Und dass es mir – gegen alle Erwartungen – momentan den Umständen entsprechend gut geht, kann ja bedeuten: Da gibt es einen, der die Zügel in der Hand hält“. Die Nächte seien das Schlimmste, sagt Horst. Die Hilfe: eine Tablette zum Ein- und Durchschlafen.
Töne treffen
Während Horst und ich uns unterhalten, kommt einer der insgesamt vier Palliativärzte. „Horst, du müsstest jetzt mal kurz unterbrechen. Ich müsste dich mal piksen.“ Dann fügt er mit einem Lächeln hinzu: „Ich muss ja auch meinen Spaß haben.“ Horst ist einer, mit dem man so reden kann. Horst lacht. Menschlichkeit, denke ich, hat immer auch damit zu tun, richtige Töne zu treffen – Töne, die abgestimmt sind auf ihre Empfänger; Töne, die Mitdenken signalisieren und Mitfühlen. Mitfühlen ja. Mitleiden nein.
Ergebnisse
Horst ist dem Tod schon öfter von der Schippe gesprungen: Leukämie, Herzinfarkt. Es sieht so aus, als wird ihm das Entkommen diesmal nicht gelingen. Wie geht man damit um? Horst spricht von Zerrissenheit. Er wartet er auf die Ergebnisse der letzten Blutuntersuchung. Der ganze Tag besteht aus dem Warten auf das Ergebnis. Horst spricht davon, dass er guten Nachrichten nicht trauen mag und sagt auch: „Vielleicht ist das eine deutsche Eigenschaft.“
Aufgehoben
„Ich wollte zuerst nicht ins Hospiz“, sagt Horst. Es ging ihm wie vielen anderen – auch Nichtkranken: Da war diese Vorstellung von einem traurigdunklen Ort. „Das Gegenteil ist der Fall.“ Da sitzt einer, der sich – angesichts dessen, was Sache ist – wohlfühlt: aufgehoben.
„Es geht ja, wenn du krank bist, nicht allein um die medizinische Versorgung. Es geht immer auch ums Zwischenmenschliche. Und das ist hier phänomenal.“ Wer an dem Punkt ist, an dem Horst sich befindet, muss nichts mehr schön reden. Für die zwölf Gäste des Hauses ist ihr Weihnachtsfest ein „Last Christmas“.
Zeit als Geschenk
Katrin Nienhaus-Wächter ist im Hospiz für die Sozialbetreuung zuständig. Eigentlich ist das fast schon eine Falschaussage, denn alle hier sind auch Sozialbetreuer – für die Gäste, für die Angehörigen, für alle anderen. Nienhaus-Wächter ist nicht in die Pflege eingebunden und hat also – mehr noch als die anderen – Zeit für die Gäste. „In der Weihnachtszeit bekommen wir Besuch von Chören und es finden kleine Konzerte statt.“
Last Christmas
„Wir haben einen Gast, der über 90 Jahre alt ist. Als es darum ging, welches Lied er sich wünscht, sagte er, dass er gern ‚Last Christmas‘ hören würde. Wir dachten alle: Das Stück von Wham kann der nicht meinen. Das wird der nicht kennen.“ So kann man sich täuschen. „Der Gast“, erzählt Nienhaus-Wächter, „war früher oft in Amerika. Der kannte das Stück. Und als der Chor es anstimmte, sang er alles textsicher mit.“
Normal
Im Haus: eine irgendwie entspannte Atmosphäre. Marlene Loth-Lohmann, die Einrichtungsleiterin, legt Wert auf eben diese Entspanntheit. „Natürlich verändert das Wissen um den Ort das Denken, aber genau deswegen ist Normalität ein wichtiger Bestandteil.“ Normalität hat nichts mit Verdrängung zu tun, sondern damit, den Gästen einen guten Ort zu bieten. Es geht nicht um das Mit-Leiden, es geht – das sagt auch Horst – ums Menschliche.
Zeit
Den zwölf Gästen stehen 28 Mitarbeitende zur Seite. Loth-Lohmann, auch das merkt man, ist stolz auf ihr Team. „Als wir hier angefangen haben, mussten alle erst einmal lernen, dass sie sich Zeit lassen dürfen und können. Auch Zeit ist ein Geschenk, denke ich. Beim Betreten des Hauses spürt man: Das Wort Hektik ist hier nicht Bestandteil des Tagesvokabulars.
Reisebegleiter
Und wie sieht der Heiligabend im Hospiz aus? Loth-Lohmann: „Am Heiligabend schauen alle aus dem Team rein.“ Und für die Gäste gibt es kleine Geschenke. Es geht nicht um die großen Gesten – es geht um das kleine Miteinander. Alle Mitarbeiter hier sind auch ‚Reisebegleiter‘. Sie sorgen sich um das Wohl ihrer Gäste.
Und was, wenn jemand einfach allein sein möchte? „Kein Problem“, sagt Loth-Lohmann: „Wir haben auch Schilder, auf denen ‚bitte nicht stören‘ steht.“ Im Gemeinschaftsraum: Ein Adventskranz, ein Weihnachtsbaum und gleich neben dem Baum: eine große Uhr an der Wand. Festlichkeit und Endlichkeit.
Danach
Wie weh tut das Wissen, dass der Tag kommt, an dem man am Leben der anderen nicht mehr wird teilnehmen können? „Das tut sehr weh”, sagt Horst. Man wird ‘vom Platz gestellt’ und dieWelt dreht sich weiter, als ob nichts passiert wäre.” Vor zwei Jahren ist Horsts jüngerer Bruder gestorben. Krebs. „Ich weiß also schon, wie sich das für die Zurückbleibenden anfühlt.” Plant man eigentlich die eigene Beerdigung? „Ich wusste, dass ich das irgendwann ansprechen muss. Für meine Frau war das sehr schwer.“ Es wird einen Gottesdienst geben – in Horsts Kirche. Um den Text der Traueranzeige wird sich Horsts Tochter kümmern. „Die wird ganz sicher den richtigen Ton treffen.”
Der Bügel
Da ist noch diese eine Geschichte, die Horst erzählen will. Sie muss raus. „Als ich hier ankam, hat meine Frau nach und nach meine Anziehsachen in den Schrank gehängt. Das habe ich nicht so wirklich mitbekommen.“ Dann kam der Tag, an dem Horst, um in den Gruppenraum zu gehen, was zum Anziehen brauchte. Er bat eine Mitarbeiterin des Hospizes, ihm „die graue Jacke” zu geben. „Da sagt die zu mir: Die graue Jacke können Sie nicht meinen. Das ist doch die für die letzte Reise.“ Horst weint noch jetzt, wenn er diese Geschichte erzählt. Es gibt einen besonderen Kleiderbügel in jedem Schrank. An diesem Bügel hängen kleine Kränze und was auf diesem Bügel hängt, ist „Reisekleidung”. „Die Frau hat bestimmt nicht gewusst, dass ich das mit dem Kleiderbügel nicht wusste. Es hat trotzdem sehr weh getan.“ Horst hat noch eine Frage: „Kommt das, was wir hier erzählen, tatsächlich in die Zeitung?” „Ja“, sage ich: „Titelseite.” Ein Lächeln zieht über Horsts Gesicht.
Abgereist
Das Hospiz: ein bisschen wie eine Gruppenreise. Da treffen sich Menschen, die sich vorher nicht kannten. Was sie eint: die Destination. „Es tut schon weh, wenn du morgens merkst, dass einer nicht mehr dabei ist”, sagt Horst. Weiter vorne im Haus: Gläser mit Steinen. Ein Stein für jeden, der abgereist ist …
Einmal winken
„Ich habe gehört, Sie sind Musiker. Was machen Sie so?”, fragt Horst. „Am 28. gibt’s ein Konzert: Chor und Orchester”, sage ich und Horst sagt: „Ich würde gern kommen. Mit meiner Frau.” „Ich bringe Ihnen zwei Karten. Morgen. Es würde mich riesig freuen, wenn Sie es schaffen.” „Ich werde es versuchen. Und dann winke ich oder ich halte ein Schild hoch: Hallo Frost.” Horst lacht. „Wehe!”, sage ich.
Tschö
„Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen“, sagt Horst und ich zerbeiße innerlich eine Träne. „Ich habe zu danken. Wissen Sie, ich wusste, als ich herkam, nicht, was ich fragen kann und was nicht.“ Horst sagt: „Nur gar nicht fragen ist falsch.“ Er hat erlebt, wie sich im Lauf der letzten Reise, die Spreu vom Weizen trennt. Wie sich die Reihen der Freunde lichten. „Manche melden sich einfach nicht mehr. Das tut weh, aber das musst du abhaken.” Die anderen, die kommen, stellen Fragen. Fragen sind wichtig. Danach soll es normal sein. „Man kann nicht die ganze Zeit vom Sterben sprechen.“ Ach ja: Horst heißt in Wirklichkeit anders. „Wie möchten Sie heißen in diesem Text?“ Er lächelt: „Am liebsten Horst Schlämmer.“
Nachsatz
Wenn die Trauer verklungen ist, nimmt die Erinnerung ihren Platz ein. Erinnerung ist ein Bild im Kopf. Es ist das Bild der Menschen, die gegangen sind. Wenn die Erinnerung verblasst, verschwindet der Mensch, den wir liebten. Erinnerung ist das Band, das uns mit ihm verbindet. Erinnerung ist der Klang des Menschseins. Erinnerung ist ein Denkmal in der Seele.