Schreibkraft
Heiner Frost

Die Quadratur des Kreisens

Jean-Pierre Wils hat schlechte Nachrichten. Die Welt: am Kollapskraterrand. Eine Kursänderung: dringend erforderlich. Das Gegenmittel: Wie wär’s mal mit Bescheidenheit? Verzicht vielleicht?

Es bringt ja nichts, den Überbringer der schlechten Nachricht hinzurichten. Vielleicht würde man diesen Satz unterschreiben. Trotzdem ist da gleich dieser Reflex: Soll er’s doch vormachen. Soll er doch schon mal anfangen, die Welt zu retten und beweisen, dass er ein Verzichter ist. Da philosophiert einer von den Überlebensräumen der Zukunft – nennt sein Buch „Verzicht und Freiheit“ und man denkt: da wird sich doch etwas finden lassen, das ihn ökologisch diskreditiert …

Der Autor als Teilmenge

Da schreibt einer vom Menschsein und man ist nicht sicher, ob der Autor sich als Teilmenge derer versteht, die gerade wissentlich die Welt zugrunderichten. NEIN – so lässt sich das Problem nicht lösen, in das wir uns hineinmanövriert haben und dessen Teil wir sind. Wir leben nach dem Laubbläserprinzip: Das Laub wird weggeblasen – egal wohin – und vielleicht sitzt längst irgendwo ein Forscher, der über dem Patent für Bäume brütet, die im Herbst ihr Blattwerk umweltschonend einziehen statt es abzuwerfen. Vielleicht hilft es ja auch, diejenigen, die sich um den Fortbestand der Welt bemühen und feststellen, dass Bewusstseinsschaffung nicht mit Lieb- und Nettsein zu erreichen ist – vielleicht hilft es ja, eben die, die sich an Startbahnen kleben, als Ökoterroristen zu bezeichnen. Eigentlich doch der klassische Fall von Täter-Opfer-Umkehr. Was bringt es schließlich, die letzten Öltropfen ins Feuer zu gießen und anschließend ohne Brennmittel dazustehen? Nein: So lässt sich keine Buchbeschreibung verfassen. Es geht doch um zeitungsneutralen und meinungsentschlackten Beschreibungstransport.

Kein Ratgeber

Dann also vielleicht so: Da hat einer ein kluges Buch geschrieben, das eines mit Sicherheit nicht ist: Teil der Bestseller-Ratgeberliteraturliste. Die Ratgeberliteratur geißelt ja nicht. Jean-Pierre Wils‘ „Verzicht und Freiheit – Überlebensräume der Zukunft“ ist die realistische Obduktion einer gestorbenen Illusion von der Grenzenlosigkeit des Menschseins und keine Feel-Good-Fiebel, die uns glauben macht, dass alles halb so schlimm sei. Da seziert einer Schicht für Schicht die Illusion, dass es am Ende die anderen werden richten müssen. Da demontiert einer den Traum vom Entkommen-Können und zeigt anhand unzähliger Beispiele aus der Welt der Denker den schnurgeraden Weg in die Rettungslosigkeit und nach jedem Treffer erwischt man sich wieder dabei, dass man den anderen die Schuld zuschieben möchte.

Auf der Flucht

Es dauert lange bis zum Eintreffen der Erkenntnis, dass auch Schuldzuweisung nur Teil einer Flucht ist, die uns der Notwendigkeit enthebt, uns selbst als Teil des Problems zu begreifen. Flugreisen? Ein Menschenrecht. Klamotten zur Einmalnutzung? Das wird man sich ja wohl noch gönnen dürfen. Wir sind an einem Punkt, an dem gelöcherte Jeans eine Armut  nachahmen, die man sich designen lässt und sich also leisten können muss.

Heraufbeschwörung des Untergangs

Dass man all diese Schwarzmalerei der Pseudo-Untergangsheraufbeschwörer nicht mehr hören möchte, sondern die Welt lieber dem Wachstum opfert – verständlich. Die Hölle – so viel steht ja fest – das sind schließlich die anderen. Es sind die, die den Hals nicht voll bekommen. Und wen, bitte schön, soll es denn interessieren, dass am anderen Ende der Welt ein Sack Reis umfällt? Und was, wenn‘s kein Sack ist, sondern ein Mensch ist? Das wäre das ein Kollateralschaden des Strebens nach Individualität und Sorgenfreiheit.

Das  reine Gewissen

Können wir also jetzt bitte das Thema wechseln? Dieses Selbstgeißelungsgehabe ist doch widerlich und außerdem nicht zielführen. Wir haben ein reines Gewissen. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Dass wir strahlenden Müll entsorgen, der noch gefährlich sein wird, wenn es Menschen nicht mehr gibt – davon wollen wir, bitte, nicht anfangen. Was sollen wir denn tun? Sollen wir uns grünen Weltenrettungsdiktaten ergeben? So weit kommt es noch.

Denken als Instrument

Zurück zu Jean-Pierre Wils: Da macht sich ein Philosoph Gedanken. Wils kommt nicht als Welten(ver)besserer daher. Da denkt einer nach und wird nicht zum Vor-, sondern zum Mitdenker. Da nutzt einer das Denken nicht als Waffe, wohl aber als hilfreiches Instrument. Philosophie als Instrument zum Erkenntnisgewinn. Philosophie ist nicht Politik sondern vernunftgeleitete Hilfestellung. „Fragen des Lebensstils sind nämlich zu Fragen künftiger Über-Lebensstile der Gattung geworden.“ Einer dieser Sätze, die schlafraubend daherkommen. Oder dieser: „In immer kleinteiligeren und verbisseneren geführten Identitäts- und Kulturdebatten verausgaben wir uns, während ein globales Selbsterhaltungsproblem unsere Welt längst zu erschüttern begonnen hat.“ Oder: „Die Möglichkeit des Verzichts scheint keine zu sein. […] Frei und beweglich, wie wir sein möchten, hat sich die einstige Freiheit, etwas nicht zu wollen, in einen Zwang, wollen zu müssen, aufgelöst. Gelegentliches […] Nicht-Wollen gehört offenbar nicht länger zum Repertoire unseres Wollens.“

Gerechtigkeit ist Verhandlungssache

Man merkt, wie innerlich ein Gegenargumentsarsenal in Stellung gebracht wird. Müssen wir uns dergleichen sagen lassen? Klima-Politik, schreibt Wils, sei Gerechtigkeitspolitik. Gerechtigkeit, denkt man, ist eine Übereinkunft, die vom Diskurs abhängt. „Es ist die Aufgabe der Philosophie, die Welt deuten zu helfen, die schwierigen Wirklichkeiten, in denen wir leben, verstehen zu lernen, unser Tun und Lassen gegebenenfalls zu korrigieren“, schreibt Wils. Es gilt zu erkennen, dass wir es mit mehr als einer Wirklichkeit zu tun haben. Diese Idee von einer multiplen Wirklichkeit ist so lange gültig, wie verschiedene Lebensräume gedacht werden können. Wenn die letzte Sekunde vor der Auslöschung anbricht, wird die Wirklichkeit allerdings zum Unikat. Immerhin: Vorher lassen sich trefflich Scheinauswege beschreiben.

Kostprobe der Orientierung

Wils zitiert Susan Neiman: „Man kann nicht von der Philosophie verlangen, auf alle Fragen, die sie stellt, eine Antwort zu geben. Wenn sie uns aber nicht einmal eine Kostprobe der Orientierung im Denken vorlegt, wozu ist sie dann nütze?“ Wils‘ Buch ist eine nicht eben Mut machende Sammlung von Kostproben – da hat sich einer tief eingegraben in das Szenario eines notwendigen Verzichts. Man glaubt, ein Vor-Echo zu spüren: „Wie jetzt? Verzicht? Hört auf, uns zu bevormunden!“ Stimmt: Schließlich möchten wir die Welt individuell und achtsam in Flammen setzen. Aber Weihnachten möchten wir‘s schön haben und zu Silvester soll es, bitte schön, knallen. Feuerwerk als Menschenrecht. Wir lassen uns den Spaß nicht verbieten. Soweit kommt es noch. Wenn die Zeit anbricht, in der wir keine Wahl mehr haben, ergibt auch Demokratie keinen Sinn mehr – einer der Gedankengänge, die Wils anbietet. Ergibt man sich dieser Orientierung im Denken, wird es eng zwischen den eigenen Schläfen. Mark Twain, dem wir außer Tom Sawyer und Huckleberry Finn viel Scharfsinnigzynisches zu verdanken haben, prägte einst den Begriff vom „vergoldeten Zeitalter“ und man beginnt zu ahnen, dass eben nicht alles Gold ist, was da glänzt.

Die Zukunft ist klein

Wils‘ „Zuversicht und Freiheit – Überlebensräume der Zukunft“ ist harte Kost der Selbstinfragestellung und mit jeder gelesenen Seite macht sich das Gefühl breit, vielleicht schneller lesen zu müssen, denn das Zitat am Beginn des Vorworts (es stammt von Stefan Reichmann vom ‚Haldern Pop‘) erzeugt eine Eile gebietende Grundierung: „Die Zukunft ist klein.“

Neben dem Gipfelkreuz

Wils‘ Buch ist ein wichtiges Buch. Es lässt sich nicht handlich zusammenfassen. Und: Wils‘ Analyse eines schwindenden Jetzt kommt an keiner Stelle moralinsäuerlich daher. Da denkt einer über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten nach, ohne Wegweiser verkaufen zu wollen. Man steigt mit Wils in ein Karussell der Unmöglichkeiten und am Ende geht es um die Quadratur des Kreisens. Man steigt auf einen Gedankenberg und sollte die Höhenangst ignorieren. Was es am Gipfel zu sehen gibt, ist keine Panoramaaussicht auf ein Happy-End inklusive Weiter-So-Garantie. Gleich neben dem Gipfelkreuz findet sich – vor die trostlosgrauverhangenen Wolken geschoben – nichts als ein Spiegel.
Von den 253 Seiten des Buches (ISBN 978-3-7776-3496-8) hatte der Autor dieser Zeilen zum Zeitpunkt der Schreibens 160 Seiten gelesen. Jean-Pierre Wils beendet sein Buch – so viel sei verraten – mit „einer Prise Hoffnung“. Lassen wir dem Autor das letzte Wort. (Es ist nicht das letzte Wort des Buches.] „Die Kommenden – die noch Ungeborenen – sollten eine Welt antreffen, die sie willkommen heißt, weil es sich lohnt, in ihr zu leben. Der Generationenvertrag gilt nicht nur zwischen den Alten und den Jungen, sondern auch zwischen den Jetzigen und den Zukünftigen. Wer möchte schon zu einer Generation gehören, die diesen Vertrag gekündigt hat.“

Ein Interview

Jean-Pierre Wils

Als  ich Ihr Buch las, trat folgender Effekt ein: Auf der einen Seite fand ich das Buch unglaublich spannend, weil es mir zu vielen Einsichten verholfen hat, die weh tun und auf der anderen Seite … Nein, das wäre schon falsch: Ich habe auf derselben Seite gelernt, dass ich doch einer von denen bin, um die es geht. Es tritt ein Reflexgedanke auf, mit dem ich wahrscheinlich nicht alleine bin. Da kommt einer und beschreibt einen Elendszustand, an dem  man  selber eine Mitschuld trägt und gleichzeit taucht eben dieser Reflex auf: Ja aber ich doch nicht. Und den Autor möchte man fragen: „Wir sieht denn, bitte schön, Ihr Verzicht aus?” Wie sind die Reaktionen?

Wils: Die Reaktionen sind natürlich gemischt. Zu einen gibt es – ich benutze das Wort nicht wirklich gern – eine gewisse Betroffenheit im Sinne von „Herr Wils, ich hatte schwer zu kämpfen” … übrigens zeige ich am Ende des Buches auch eine gewisse Perspektive auf … Aber die Botschaft ist, das entnehme ich den Reaktionen, schon eine harte Kost. Es gibt auch fragende Reaktionen nach dem Motto „Wieso geschieht denn eigentlich so wenig?”  bis hin zu Nachbarn, denen man begegnet und die dann fragen „Wann fahren Sie denn in Urlaub?”

Ich denke, den Unterton kann man sich denken. Es geht ja in die Richtung dessen, was ich auch bei mir festgestellt habe.

Wils: Dahinter steckt dann der Gedanke: Woll’n doch mal sehen,  wie es der Wils mit dem Verzichten hält. Und dann schwingt dan eben auch dieser Gedanke mit: „Aber ich doch nicht! Jetzt sind mal die anderen an der Reihe.“

Eigentlich war die Frage nach den Reaktionen eine irgendwie blöde Frage. Es ist ja klar, dass die Reaktionen  sehr stark von dem Umfeld abhängen, in dem man die Gedanken äußert. Von den einen wird man gefeiert …

Wils: …und von den anderen gefeuert. Mir schrieb jemand, dieses Buch sei wie ein Schlag und er bedanke sich für diesen Schlag. Ich habe in den letzten Jahren bei Vorträgen, die ich vorbereitend gehalten habe, erlebt, dass ich dann anmoderiert wurde mit den Worten: „Und was haben  Sie in den letzten Jahren getan?”

Mir kam beim Lesen ein verrückter Gedanke: Man könnte dieses Buch konsumieren und am  Ende sagen: „Jetzt bin ich informiert. Ich muss nichts weiter tun. Ich  habe das Problem verstanden.”  Absolution durch Lektüre. Wenn ich jetzt in den Urlaub fliege, weiß ich wenigstens, was ich falsch mache. Kurz gesagt: Wer weiß, dass er sündigt, sündigt besser.

Wils: Das ist die Freiheit des Lesers, auf die der Autor keinen Einfluss hat. Natürlich möchte ich appellieren, aber es soll nicht moralisierend sein, aber es steckt in dem, was ich geschrieben habe, auch eine moral-affine Botschaft. Mir kam es auch darauf an, bestimmte Dinge genauer zu verstehen. Zum Beispiel die Frage nach dem Luxus-Begriff. Was ist Luxus? Oder: Wie denken wir über Freiheit? Das ist natürlich ein ganz empfindliches Thema.

Was mich am meisten beeindruckt hat, war das Nachdenken über die Demokratie. Da taucht ja – ich verkürze das mal – der Gedanke auf: Wenn wir keine Wahl mehr haben, brauchen wir auch keine Demokratie mehr. Es geht da ja um die Wahl, wie wir dem Raubbau und somit dem Untergang noch begegnen können. Ich hatte den Eindruck, dass wir auf eben diesen Zustand im Eiltempo zusteuern. Despoten werden ja mehr und mehr gesellschaftsfähig. Wenn wir denen das Handeln überlassen, schaffen wir die Demokratie ab.

Wils: Als ich für das Buch recherchiert habe, sah ich mich einer harten Erkenntnis gegegenüber. Wir neigen immer dazu, die Geschichte der westlichen Demokratie in erster als ein politisches Projekt zu begreifen. Das Motto: Wir machen Fortschritte bei der Freiheit und der politischen Gestaltung. Wir vergessen gern, dass damit auch eine Sozialgeschichte verbunden ist. Dazu gehören auch soziale Kämpfe und dergleichen. Die materielle Basis dieser Entwicklung haben wir in der Regel überhaupt nicht vor Augen. Da ist diese Kopplung von Demokratie und Sympathie für dieses politische System, die wiederum gekoppelt ist an ein Fortschrittsversprechen mit materiellen und also quantitativen Entwicklungen – und all das ist in eben jenem Moment nicht mehr gegeben, wo all das brüchig wird und wir nicht sehen, dass vieles in der europäischen Geschichte immer auch als Geschichte des  Kolonialismus gesehen werden muss. Bei Achille Mbembe, dessen Gedanken ich nicht immer schätze, bin ich auf diese Frage gestoßen: Es existiert eine Koppelung von Demokratisierung und materiellem Wohlstand – aber auf Kosten von wem? Die Anhänglichkeit an ein demokratisches System bröckelt in eben jenem  Moment, in dem diese Kopplung ihre Selbstverständlichkeit verliert. Es ist der Moment, in dem klar wird, dass es Wohlfahrt ohne Demokratie gibt – Klammer auf: China, Klammer zu – und es gibt Demokratie ohne dieses materielle  Steigerungsversprechen. Genau das erleben wir hier und jetzt.  Plötzlich stellt man sich retrograd auf. Da fallen dann Sätze wie: „Früher war alles besser.” Daraus kann dann der Gedanke entstehen, dass Demokratie womöglich nicht mehr gebraucht wird.

Ich habe eben diesen Früherwarallesbessersatz neulich auch von jemandem gehört und geantwortet: Wenn wir also nur lange genug warten, wird aus dem Jetzt das Früher und somit wird das Jetzt, wenn  wir nur warten, zum Eswarallesbesser. Da wird schnell dieser Widerspruch in  sich deutlich. Wir könnten noch über Achtsamkeit reden. Aus meiner Sicht eine Sackgasse, denn wenn wir uns als Individuen zum Mittelpunkt machen, finden die anderen nicht mehr statt. Ein guter Freund von mir war Polizist und wenn es um Verkehrssicherheit ging, sagte der: Fahre so, dass die anderen sicher ankommen. Das scheint mir ein besseres Modell zu sein, denn ich werde, wenn ich es anwende, zur Teilmenge. Wenn ich so fahre, dass ich heil ankomme, sind alle anderen ausgeschlossen. Das wäre dann wieder das Laubbläsersyndrom. In Ihrem Buch gibt es den Satz „Was du nicht willst, das man  dir tu, das füge dann den andern zu“. Das war jetzt nicht wörtlich, aber irgendwie maßstabgetreu. Wir sind längst an einem Punkt, an dem Langstreckenflüge irgendwie Teil der Menschenrechte zu sein scheinen.

Wils:  Die AFD hat da die Vokabel vom Ökosozialismus geprägt. In meinem Buch kommt ja immer wieder der Gedanke vor, dass es auch  an der Zeit ist, über eine andere Sprache nachzudenken. Wir müssen uns – wie soll ich sagen – mit anderen Kategorien befassen. Ralf Konersman hat gesagt, wir seien die willigen Vollstrecker unseres kategorialen Bezugssytsems. Das ist zwar etwas kompliziert formuliert, aber ich denke dann: Genau so ist es.

Ich halte das für einen spannenden und wichtigen Gedanken, dass man über Sprache nachdenken muss.

Wils: Wir reden von und über uns in einem Register, das zwar emanzipatorisch anmutet und es auch eine zeitlang war – ich würde mal Begriffe nennen wie Autonomie. Selbstbestimmung,  Selbstentfaltung, Authentizität, Kreativität – wir reden  also von dieser geballten Ladung positiver Psychologie – aber all das ist in Schieflage geraten. Gekippt. All das ist ja längst von einem gescheiten Kapitalismus gekapert worden. Philipp Staab sagt: „Diese Selbstentfaltungsideologie hat uns an den Rand der Selbsterhaltung gebracht.” Wir müssen also ein Umdenken lernen und herausfinden, wo ab jetzt die Prioritäten liegen. Geht es also um Selbstentfaltung oder geht es um Selbsterhaltung? Da finden harte politische Auseinandersetztungen statt.  Mein ältester Sohn war auf der Klimakonferenz in Baku. Er sagt: „Papa – das Buch über Verzicht und Freiheit käme beim globalen Süden gar nicht gut an. Die sagen doch: ‚Ihr habt es uns vorgemacht und jetzt sind wir dran‘.“ Dieser Reflex ist ja auch nicht ganz falsch. Aber eines sollte man antworten: „Wenn das Boot sinkt, seid ihr auch dabei.”

Irgendwie zynisch, oder? Denn letztlich haben wir das Leck geschlagen. Beim Reden über Lebensqualitäten kommt es ja immer darauf an, wer wo mit wem spricht. Aber wenn wir uns klarmachen, dass jeder von uns mit seinem ureigenen Luxus auf der Titanic sitzt und wir eine Sekunde vor dem Ende stehen, schwinden die Unterschiede, denn:  Tot ist tot.

Wils: Es ist natürlich nachvollziehbar, dass ‚die anderen‘ sich unseren Luxus zum Vorbild nehmen – dass er Teil ihrer Zielvorstellung ist, aber das ist die soziale Kategorie. Switchen wir zur ökologischen Kategorie, bleibt  dieser Gedanke verheerend. Die beiden Stränge zu vereinen, scheint unmöglich. Was tut man da als Philosoph? Man kann wenig tun, aber man versucht jedenfalls irgendwie, ein Angebot zu unterbreiten und damit auch über sich selber nachzudenken. Es geht einerseits um Bescheidenheit und andererseits um Entschiedenheit.

Ich komme noch mal  zum Anfang. Wie ist das Echo? Das Buch ist vor ungefähr zehn Wochen erschienen. Was tut sich?

Wils: Der Deutschlandfunk Berlin hat mir und dem Buch eine ganze Stunde gewidmet, ich war beim WDR und beim NDR. Was soll  ich sagen: Der Buchtitel – vorweihnachtlich betrachtet – prekär [lacht] …

Weihnachtsuntauglich? Egal. Ich werde es ein paar Menschen schenken. Gibt es bereits ein neues Projekt?

Wils: Ich bleibe irgendwie am Thema dran. Ich bin tatsächlich mit einem neuen Projekt beschäftigt. Die erste Fassung ist fast fertig. Ich schreibe über „Sinn und Hoffnung in bangen  Zeiten” mit einem  Nachtrag über Trost. Ich habe mich ja in einem  Buch mit dem Thema Trost auseinandergsetzt. Jetzt bin ich da wieder ein Stück weiter gekommen. „Sinn und Hoffnung in bangen Zeiten” wird also – wie soll ich sagen – die nächste Komposition.

Aus dem  Klappentext: Prof. Dr. em. Jean-Pierre Wils studierte Philosophie und Theologie in Leuven/Belgien und Tübingen. Bis 2024 war er Ordinarius für Philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der Radboud Universiteit Nimwegen/Niederlande. Mitglied im deutschen PEN. Seit 2021 fungiert er als Herausgeber der „Scheidewege. Schriften für Skepsis und Kritik”. Im HirzelVerlag erschienen von ihm „Sich dem Tod ergeben – Suizid als letzte Emanzipation?”, „Der Große Riss. Wie unsere Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen”, „Warum wir Trost brauchen. Auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses”.