Ist Sammeln eine Diagnose?
Kunde: Beginnen wir doch so: Sammeln ist meiner Ansicht nach ein anthropologisches Grundbedürfnis. Jeder von uns sammelt sein ganzes Leben lang irgendetwas. Sammeln entspringt, denke ich, aus dem tiefen Bedürfnis nach der Herstellung einer Vollständigkeit. Die Dinge sind in verschiedenste Bestandteile zerstoben. Und wenn wir auch nur in einem einzigen Bereich diese Vollständigkeit für uns wieder herstellen können, ist das mit einem großen Glücksgefühl verbunden. Es ist auch das Gefühl von Harmonie und Ordnung. Dergleichen ist ja heutzutage äußerst schwer zu finden, beziehungsweise herzustellen. Die großen Unterschiede beginnen natürlich bei den Gegenständen des Sammelns und beim Grad des Besessen-Seins. Sammeln kann ja durchaus zu einer Art Schicksalsfluch werden, was durch Beispiele zu belegen ist. Wenn Sammeln „gut geht”, entsteht ja ein Glücksgefühl, das es ohne die Sammlung, die entsteht, nicht gäbe. Jede Sammlung – egal, ob es jetzt um Kunst geht oder um andere Dinge – lebt davon, dass die Dinge etwas von ihrer Aura an den Sammler abgeben. Da findet also eine Art von Erhöhung statt.
Du sagtest gerade: Jeder Mensch ist irgendwo ein Sammler. Meine Erfahrung ist: Es gibt Sammlertypen und solche, die damit irgendwie gar nichts anfangen können. Und was mich auch interessiert: Wenn jemand Erfahrungen sammelt – ist das dann auch ein Sammler?
Kunde: Sagen wir es mal so: Wenn es einen Gegenentwurf zum Sammler gibt, dann wäre das der Diogenes-Typ. Einer, der sich mit nichts zufrieden gibt; einer, der sich nicht über Besitz und Dinge definiert, sondern einzig durch – sagen wir – geistige Werte. Aber die Extreme sind immer selten. Die meisten Menschen verbinden ja mit dem, was sie sammeln, nicht nur materielle Dinge, sondern vor allem geistige, also immaterielle Dinge. Es geht dabei auch um Zugehörigkeiten. Der Eine sammelt eben bestimmte Figuren – der andere sammelt Autos und der Dritte sammelt eben Kunst. Da wird es dann für uns immer interessant, denn einerseits ist Kunst als Sammlungsgegenstand und als Sammlungsgebiet total nobilitiert – das heißt: nicht jeder kann es sich leisten. Anders gesagt: Viele wollen es, nicht alle können es. Andererseits ist der Besitz von künstlerischen Äußerungen etwas sehr Schönes.
Ist es für einen Museumschef nützlich, ein Sammlergen zu haben?
Kunde: Sagen wir so: Es schadet nicht. Vielleicht ist es sogar eine Grundvoraussetzung, so ein Gen zu haben und die Tätigkeit des Sammelns erregend findet. Es geht ja darum, den den Gedanken, bestimmte Dinge besitzen und vollständig präsentieren zu können, besser zu finden als dazu gar keine Beziehung aufzubauen.
Wahrscheinlich müsste man aber unterteilen: Hier der sammelnde Museumsleiter – dort der private Sammler. Ist der Privatmensch Harald Kunde ein Sammler?
Kunde: Schwer zu beantworten. Grundsätzlich würde ich erst einmal mit Ja antworten. Aber das Sammeln als Museumsleiter und das des Privatmenschen unterscheidet sich durch den Anspruch einerseits und der zur Verfügung stehenden Mittel andererseits. Als Privatmensch würde ich das eher folgendermaßen definieren: Ich sammle Begegnungen mit Menschen – mit Künstlerinnen und Künstlern. Im Laufe eines Lebens hinterlässt das dann natürlich Spuren, die von diesen Begegnungen zeugen. Ich bin also nicht der Sammler, den es zu Auktionen zieht. Es ist eher so, dass sich im Lauf der Zeit eine Art Naturalienhandel entwickelt – zum Beispiel: Text gegen Bild oder sowas in der Art. Sammlung – das fühlt sich in diesem Zusammenhang zu hochtrabend an. Ich bin also kein konzeptioneller Sammler, der sich im Lauf der Jahre bestimmte Ziele gesetzt hat.
Ich denke mal, in der Eigenschaft als Museumsleiter lernst du viele Künstler kennen, aber wahrscheinlich auch viele Sammler. Gibt es da jemanden, der oder die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Kunde: Ich würde gern noch mal auf den Unterschied Sammeln als Museumsleiter und Sammeln als Privatmensch zurückkommen. Hinter dem Sammeln in der Funktion eines Museumsleiters steht ein ganz anderer Anspruch. Man geht von dem aus, was bereits vorhanden ist. Da fällt mir dann der typische Satz ein: Die Stärken stärken und die Schwächen weglassen. Man soll nicht damit beginnen, plötzlich ganz neue Sammlungsgebiete anzulegen. Der erste Blick soll den Stärken eines Hauses gelten. Hier in Kleve wären das spätgotische Skulpturen, Beuys, Mataré und Gegenwartskunst. Idealerweise versucht man auf eben diesen Gebieten die vorhandene Sammlung zu erweitern.
Ich komme noch mal auf die Frage von gerade zurück: Man lernt viele Künstler und wahrscheinlich ebenso viele Sammler kennen. Wer ist dir in Erinnerung geblieben? Und dazu noch eine erweiternde Frage: Wie wichtig sind heutzutage Sammler für den Museumsbetrieb?
Kunde: Ich kann an dieser Stelle von der glücklichen biografischen Fügung berichten, dass ich eine der großen Sammlerfamilien aus nächster Nähe kennengelernt habe – nämlich Peter und Irene Ludwig. Ich spreche insbesondere von Irene Ludwig, denn ihr Mann Peter war bereits verstorben, als ich als Leiter ans Ludwig-Forum nach Aachen kam. Wir sprechen hier von Sammlern einer ganz besonderen Dimension. Bei den Ludwigs trafen verschiedene Dinge zusammen: Es war Geld vorhanden, es war Geschmack vorhanden und dazu kamen Euphorie, Leidenschaft und eine profunde Kenntnis. Diese Dinge sind nur selten parallel vorhanden. Bei den Ludwigs war aber genau das der Fall. Das hat sich unter anderem dadurch geäußert, dass die beiden im Umgang mit dem Kosmos, den sie da zusammengetragen haben, niemals an dem Punkt waren, wo es darum ging, irgendetwas aus der Sammlung gewinnbringend zu veräußern. Der Impuls war dieser: So viel wie möglich an guten Dingen zusammenzutragen und sie anschließend in öffentliche Sammlungen zu überführen. Das ist natürlich ein hehrer Anspruch, der viel mit dem früheren Stiftungsgedanken zu tun hat, dass man sozusagen als irdischer Mensch etwas stiftet, um sein Seelenheil zu retten. Das war bei diesen beiden – sie waren durchaus katholisch – gar nicht so weit hergeholt. Gute Werke zu schaffen, um davon in der Unendlichkeit zu profitieren …
… also durch die Sammlung ein Überleben zu sichern.
Kunde: Genau. Das ist ein ganz wichtiger Impuls. Es geht natürlich auch darum, ein Gedenken zu erzeugen.
Wie wichtig sind heute Sammler für Museen?
Kunde: Die sind sehr, sehr wichtig, weil sie ein Teil des Rückgrats eines hochkomplexen Kunstbetriebs sind und damit zu dessen Erhaltung beitragen. Klar ist natürlich, dass es ohne die Künstlerinnen und Künstler überhaupt nicht geht, aber die Sammler sind quasi immer die ökonomische Basis dieses ganzen Betriebes. Wenn es niemanden mehr gibt, der Kunst wirklich kauft, dann gibt es infolgedessen auch keine Galerien, die die Kunst anbieten und verkaufen und dann gibt es keine Messen. Mit anderen Worten: Dann bricht das gesamte System zusammen. Das ist ja immer mal wieder die Gefahr. Da wird dann von großen Kunstblasen gesprochen, weil die Preise astronomische Höhen erreichen, wo dann jemand wie du und ich sich fragen: Wie kann das sein? Wieso ist das derart irrsinnig teuer? Und wieso gibt es Leute, die so viel Geld haben? Der Kunstbetrieb spiegelt also auf äußerst drastische Weise auch die wirtschaftliche Weltentwicklung und die Veränderungen im Großsammlungskaufverhalten. Da sind wir dann beim klassischen Sammler von früher, dem wenig bis keine Spekulationsabsichten unterstellt wurden. Heute finden sich größtenteils andere Typen auf dem Parkett.
Parkett ist irgendwie ein gutes Stichwort, denn nicht selten ist ja heute im Zusammenhang mit Kunst von der „Wandaktie” die Rede.
Kunde: Natürlich darf man auch hier nicht generalisieren. Es gibt ihn auch heute noch: den klugen, feinsinnigen Sammler, der Dinge haben möchte, weil er sich zutiefst mit ihnen verbunden fühlt und nicht darüber nachdenkt, wie die Wertsteigerung sich in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird. Leider ist aber genau das der Typus, der die öffentliche Wahrnehmung des Sammelns dominiert. Die Preisentwicklungen bei Auktionen, die dann ihrerseits sehr medienträchtig das Bild von Kunst bestimmen, sind ja das, was alles andere überlagert. Es findet sich ja keinerlei rationale Erklärung für die Tatsache, dass ein bestimmtes Bild heute 100.000 Euro kostet und in fünf Jahren dann drei Millionen oder zehn. Das sind Marktmechanismen, die letzten Endes um den simplen Effekt von Angebot und Nachfrage kreisen. Die Auktionatoren sagen natürlich: „Wenn es Menschen gibt, die so viel zu zahlen bereit sind, dann ist es wohl auch so viel wert.” Dem kannst du kaum etwas entgegensetzen.
Den Ferrari kann sich jeder, der über das entsprechende Kleingeld verfügt, leisten. Beim Kunstwerk beginnt die Einmaligkeit. Es bietet die Chance, sich abzusetzen in die Einmaligkeit. Da kann also einer sagen: „Ich besitze van Goghs Portrait des Doktor Gachet.” Das Bild ist seit ja Jahrzehnten verschollen – in einer unbekannten Sammlung verschwunden. Niemand weiß, wo es steckt. Das ist dann die extrem negative Seite des Sammelns. Der einstige Besitzer des Bildes – ein japanischer Papierfabrikant – soll ja gesagt haben, er werde das Bild mit ins Grab nehmen. Das ist doch dann pervertierte Sammler-Allmacht.Wie verrückt soll es denn noch werden?
Kunde: Wir sprechen da natürlich von Auswüchsen. Letztens habe ich gelesen, was Ultrareiche heute sammeln. Die sind angeblich weg von Gegenständen. Auch Kunst ist kein Unikat mehr – damit befassen sich schon viel zu viele Ultrareiche – es geht jetzt darum, sich letztverbliebene Refugien zu kaufen, um der drohenden ökologischen Katastrophe zu entkommen. Die kaufen jetzt also ernsthaft irgendwo, wo noch etwas verfügbar ist, Inseln oder Gebiete, um dort ihre Parallelwelt aufzubauen, die dann wahrscheinlich auch wieder mit Kunst angefüllt werden wird. Das jedenfalls war der Tenor in dem Text, den ich gelesen habe: Theoretisch ist alles relativ bald am Ende, aber der Reiche versucht, bis dahin noch möglichst viele Originalerlebnisse zu haben und einen Ort, an dem er – länger als die anderen – die Apokalypse überlebt. Das ist, denke ich, an Zynismus nicht zu übertreffen.
Vorhin hast du in einem Nebensatz erwähnt, dass es beim Sammeln nicht nur um das Geld geht, sondern vor allem auch um ein Konzept, das auf Kenntnis und – wie immer wir es definieren – auf Geschmack basiert. Sammeln im besten Sinne bedeutet – so habe ich dich verstanden – jedenfalls nicht, dass man mit prall gefülltem Geldbeutel Galerien aufsucht und dann kauft, was gerade an der Wand hängt und teuer ist.
Kunde: Der gute Sammler ist immer nah an dem, was neu entsteht. Der gute Sammler ist nicht einer, der irgendwo lesen muss, was gerade empfohlen wird oder angesagt ist. Der gute Sammler hat in aller Regel eine sehr direkte und enge Verbindung zur aktuellen Kunstproduktion und hat für sich Schwerpunkte des Sammelns entwickelt. Der gute Sammler kauft in der Regel immer zu einem sehr frühen Zeitpunkt, an dem die Dinge materiell noch überschaubar sind. Natürlich geht es nie ohne Geld, aber derjenige, der erst einsteigt, wenn ein Name längst bekannt ist, ist in diesem Sinne kein Sammler, sondern eher eine Art Anleger – ein Investor. Der qualifizierte Sammler – der Aficionado [begeisterter Anhänger, Liebhaber] – ist in einer gewissen Weise der beste und engste Wegbegleiter der Künstler. Der steht im Austausch mit dem Künstler und sieht ihn nicht als Lieferanten, sondern entwickelt manchmal sogar auch Projekte mit ihm.
Wir waren ja anlässlich der Geburtstagsfeier von Art bei einer Sammlerin [Lauffs-Wegner], wo ich den Eindruck hatte, dass der direkte Kontakt zu den Künstlern sehr wichtig ist.
Kunde: Wir sprechen von Andrea Lauffs-Wegner – einer sehr klugen Sammlerin, die ihrerseits aus einer sehr kunstsinnigen Familie stammt … mit anderen Worten: ideale Bedingungen, die da zusammengekommen sind. Ein anderer Sammler, der mich sehr beeindruckt hat, ist Axel Haubrok aus Düsseldorf. Haubrok hat über lange Zeit mit konzeptionell arbeitenden Künstlern Projekte entwickelt, bei denen er den Künstlern völlig frei gestellt hat, was am Ende dabei heraus kommt. Da sind wir ja quasi auf der Ebene des Mäzenatentums der alten Prägung. Da ist also einer, der dir sagt: „Ich stelle dir im Jahr den Betrag X zur Verfügung und du gibst mir am Ende das, was deiner Meinung nach dem entsprechen könnte.” Ein wunderbares Modell.
Wie wichtig sind gute Galerien?
Kunde: Fast schon eine rhetorische Frage. Den Galerien kommt eine enorme Bedeutung zu, denn sie sorgen für die Vertretung der Künstler. Nicht alle Künstler sind gut bei der eigenen Vermarktung, aber eben die ist für deren Unabhängigkeit unabdingbar. Eine gute Galerie setzt vor allem auch auf Reinvestition. Gute Galerien schaffen den Freiraum für die Künstler. Dafür gibt es dann zwischen Galeristen und Künstlern Vereinbarung, die beispielsweise besagen, dass Verkäufe ausschließlich über die Galerie laufen. Da kannst du als Interessent nicht einfach in ein Atelier gehen und Bilder – – quasi von der Staffelei weg – kaufen. Wenn solche Vereinbarungen gut funktionieren, haben beide Seiten etwas davon. Es entstehen also Win-Win-Situationen. Der Künstler kann sich auf seine Arbeit konzentrieren und die Galerie kümmert sich um alles andere. Der Sammler bezahlt dann den so entstandenden Aufpreis mit.
Irgendwie muss ich gerade an Adorno und das Wort von der Kulturindustrie denken. Ist der Kunstmarkt eine Industrie?
Kunde: Adorno hat sich auf die spätrömische Antike bezogen und dann auf seine Zeit projeziert. Adorno hatte längst gemerkt, dass sich Dinge wie beispielsweise der Geniebegriff grundlegend verändert hatten. Der einsame Schöpfer, der in seinem Studio die Welt neu erfindet – das hat wahrscheinlich nur in den seltensten Fällen gestimmt. Es gab immer ein dichtes Geflecht von Auftraggebern, geistigen Beratern und Abnahmeprozessen. Auch Michelangelo und Leonardo haben nicht einfach Kunst erschaffen, weil sie mit ihrer Genialität nicht wussten wohin. Die waren eng eingebunden in ein Geflecht von Auftraggebern – Fürsten und Geistlichkeit. Aus diesen Spielräumen haben sie dann fantastische Freiheiten entwickelt. Diese Bindungen an Kirche und Fürstentum waren spätestens im 19. Jahrhundert erloschen und an ihre Stelle ist das Bürgertum getreten. Das ist für die Entwicklung der Moderne und der Avantgarden enorm wichtig gewesen, dass es jetzt Personen gab, die diese Entwicklungen mitgetragen und dafür richtig Geld ausgegeben haben, ohne zu wissen, ob es sich rentieren würde. Wir sprechen also im besten Sinne des Wortes von Besessenen, die alles oder vieles auf eine Karte gesetzt haben. Man kennt viele Geschichten von Sammlern, die sich immer bis zum Limit verschuldet haben. Da haben dann die engsten Betroffenen – Frauen und Familien – die Hände überm Kopf zusammengeschlagen. Wenn es dann gut ging, sind diese Sammler – ich will nicht sagen als Sieger – als Beglückte vom Platz gegangen.
Ich lerne: Wir unterteilen in gute Sammler und Anleger.
Kunde: Das noch: Dieser Begriff der Industrie spiegelt ja auch, dass ganz viele arbeitsteilige Prozesse bei erfolgreichen Künstlern gang und gäbe sind – dass also mittelständische Unternehmen daraus entstehen und je nach Auftragslage zehn bis fünfzig Assistenten am Werk sind, die sich um die industriellen Vorfertigungen kümmern. Bestenfalls setzt dann einer wie Jeff Koons am Ende nur noch seine Unterschrift unter das fertige Produkt.
Das war ja beispielsweise bei Rembrandt nicht anders.
Kunde: Richtig. Dem liegt eine lange historische Entwicklung zugrunde und es hat auch damit zu tun, das bestimmte Dinge bei der Produktion nur noch von Spezialisten ausgeführt werden können. Der Künstler ist also der kreative Ideengeber, der vielleicht eine Skizze anfertigt oder vielleicht auch nur im Gespräch eine Vorstellung entwickelt, die dann von anderen umgesetzt wird. Die letzte Entscheidung liegt immer bei dem, der die Idee entwickelt hat. Daher ist es im Rahmen der Konzeptkunst so weit gekommen, dass es bestimmte Manifeste gibt – von Lauwrence Weiner bespielsweise die Punkte zur Concept Art –, wo es gar nicht mehr nötig wird, dass ein Kunstwerk tatsächlich ausgeführt wird. Es würde – in Weiners Sinne – völlig ausreichen, nur die Idee zu haben. Die kannst du dann zwar im eigentlichen Sinne nicht mehr teilen und schon gar nicht verkaufen, aber es ist sozusagen die letztmögliche Entmaterialisierung. Es gab dann später viele Künstler, die sagten: „Die ganze Welt ist voller Überproduktion. Warum sollten wir uns daran beteiligen? Wir können doch einfach drosseln und sozusagen durch eine planvolle Rückführung der Kunstbestände mehr zum Erhalt der Welt beitragen als in der fortgesetzten Produktion.” Also: radikaler Werkverzicht. Das wäre das Stichwort. Da ist einer der hierzulande bekanntesten Vertreter Tino Sehgal. Der macht nur Performances, bei denen keinerlei materielles Produkt entsteht. Sehgal hat auch per Definition festgelegt: keine Filme, keine Videos. Es geht nur um den flüchtigen Moment der Begegnung. Das hat natürlich schon etwas Radikales.
Ich muss dabei gleich an Musik denken. Musik war früher ein flüchtiges Medium. Man konnte nichts festhalten. Töne wurden gespielt, Töne verklangen – es gab keinerlei Speichermedien. Es ging um das Erlebnis des Augenblicks. Manchmal habe ich den Eindruck, dass eben dieses ursprüngliche Erleben uns längst abhanden gekommen ist.
Kunde: Letztlich ist aber die Musik am Ende auch an die Materialität der Ausführenden gebunden. Du brauchst Musiker – du brauchst gegebenenfalls den Dirigenten – du brauchst eine Partitur und du brauchst Menschen, die Geld ausgeben, um diesen flüchtigen Moment zu erleben.
Das Schöne aber war – bis zur Erfindung der Tonträger – das Flüchtige. Das Entschwinden des Augenblicks, das am Ende die Zuhörer als sich Erinnernde zurückließ. Die Aura des „Nur Jetzt” ist uns abhanden gekommen.
Kunde: Es ist natürlich richtig: Die Erlebnisse, die man bestenfalls mit Kunst hat, sind immaterieller Natur. Sie sind nicht greifbar. Wir können sie nicht ins Regal stellen.
Es ist ja auch bei Ausstellungen längst so, dass man manchmal vor lauter hochgehaltener Smartphones die Bilder nicht mehr zu sehen bekommt. Ich war kürzlich in der Richter-Ausstellung in Düsseldorf und da war es genau so: Lauter fotografierende Menschen, die nicht mehr die Bilder direkt angesehen haben, sondern nur deren Abklatsch mit dem Smartphone eingefangen haben. Gruselig eigentlich. Man hat den Eindruck, dass die Herausforderung heutzutage darin besteht, das Smartphone in die Tasche zu stecken, sich auf die Bilder einzulassen und das, was dann im Kopf entsteht, als die eigentliche Erinnerung mitzunehmen. Da liegt der eigentliche Luxus des Hinsehens – die eigentliche Qualität.
Kunde: Dieser ganze Hype um Gerhard Richter, den ich als Künstler sehr sehr schätze … Da entsteht ja jetzt durch die Medien das Bild vom teuersten lebenden Künstler der Republik. Auch da geht es nicht mehr um die Bilder. Da entsteht eine schräge Perspektive, die Richter nicht gerecht wird. Er will das auch nicht, aber er kann ja nichts dagegen tun. Und diese Ausstellung in Düsseldorf – gemacht von geschätzten Kollegen in Düsseldorf – bei der es darum geht, Richter-Werke aus Privatsammlungen ans Licht der Öffentlichkeit zu holen, ist letztlich eher beschädigend und beschämend für einen Künstler wie Richter, weil dort keine von den wichtigen Arbeiten zu sehen war. Richters Kunst wurde also zum Privatissimum eingeschrumpft. Dem Werk Richters hat das meiner Meinung nach nicht gut getan. Seine Person ist sakrosant und davon nicht mehr betroffen.
Was ich meinte, war gar nicht die Ausstellung als solches, sondern das Verhalten des Publikums. Mein Eindruck ist der vom Verlust des Eigentlichen – des Urgenusses.
Kunde: So etwas ist ja zum Glück noch immer möglich, aber es ist ja auch so, dass unsere Mediengesellschaft den Hang hat, bestimmte ikonische Höhepunkte zu schaffen. Dabei wird dann das Smartphone zum Instrument, mit dem sich das Individuum in Relation zu dem Heiligtum abbilden kann …
…das Selfie vor der Mona Lisa. Die Kunst wird zur Staffage für das Ich im Mittelpunkt.
Kunde: Früher war das einfach nicht möglich. Da gab es die stille Beschäftigung. Man setzte sich vor das Kunstwerk, um es abzumalen …
… eine andere Form des in Relation-Setzens. Etwas Ursprüngliches.
Kunde: Das Abzeichnen als intensiver Wahrnehmungsprozess. Aber wir können uns natürlich auch den Möglichkeiten der modernen Technik nicht komplett verweigern. Ich fürchte, wenn du jemandem empfehlen würdest, Skizzen seiner Ikone anzufertigen, würdest du schnell als Ewig-Gestriger apostrophiert. Ich denke, man muss diese Dinge nicht gegeneinander ausspielen. Man kann etwas mit dem Smartphone fotografieren und trotzdem versuchen, eine Zeichnung zu erstellen. Das Wichtige ist, dass wir die Fähigkeit des genussvollen Erlebens nicht verlieren. Wir müssen lernen auszublenden, was an Medienschrott über die Dinge gestülpt wurde. Wir müssen es schaffen, den Dingen unbekümmert und quasi jungfräulich zu begegnen. Am besten gelingt das dort, wo versteckte Meisterwerke in Kapellen oder kleineren Sammlungen auf einen warten – wo kaum ein Mensch ist und man sich fragt: Warum sind die nicht alle hier? Solche Orte zu entdecken und keinem davon zu erzählen, macht großen Spaß.
Auch eine Art Sammelleidenschaft, oder?
Kunde: Auf jeden Fall. Es gibt Dinge – da ist man vor lauter Schönheit betäubt. Ja – das sind Orte, die zu sammeln sich lohnt.
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