„Eigentlich“ ist ein richtungsänderndes Wort. Eigentlich, dachte ich, würden wir hier und heute über ein weihnachtliches Kunstwerk reden. Stattdessen jetzt also der heilige Hieronymus und dazu die Losung: „Gedenke, dass du sterblich bist.“ Wie geht das zusammen?
Kunde: Wir haben hier im Museum natürlich einige grafische Blätter, die Jesu Geburt darstellen. Zu nennen wäre da eine Arbeit von Henrik Goltzius, aber die ist schon häufig verwendet worden. Wir haben keine so große Auswahl typischer Weihnachtsthemen, aber wir haben sehr viele Bilder, die in einem weiterführenden Sinn mit Weihnachten zu tun haben – mit der Geburt eines Hoffnungsträgers oder auch ‚nur‘ mit einem intensiven Nachdenken über die Kondition des menschlichen Lebens. Dazu gehört dann eben ein starkes Bewusstsein für die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge, der irdischen Schönheit und somit auch des Lebens selbst.
Kein neuer Gedanke …
Kunde: Genau. Dieses Bewusstsein war im Mittelalter und in der Renaissance stark ausgeprägt, weil die Menschen damals offensichtlich ein starkes Gefühl und Gespür für die Gefährdung des Lebens hatten und weit entfernt von der Konsumorientiertheit des heutigen Lebens entfernt waren. Diese Momente des Nachdenkens über die eigene Bestimmung im Leben und die Einordnung der eigenen Existenz sind natürlich Gedanken, die in jeder Zeit Bedeutung haben. Daher habe ich an dieses sehr schöne Bild aus der Sammlung gedacht. Es ist ein Bild aus dem Umfeld von Jos van Cleve und ich denke, es ist ein guter Anlass für ein weihnachtliches Nachdenken.
Es handelt sich um ein Gemälde in Öl auf Holz des „Heiligen Hieronymus“ um 1510 aus der Schule des Joos van Cleve (geboren am Niederrhein um 1485/1490 – 1540/1541 Antwerpen). Das 38,3 x 29,2 cm große und überaus erlesene Bildnis zeigt eine Darstellung des Kirchenvaters in einer bekannten, auf Albrecht Dürer zurückgehenden Komposition. Der greise Heilige ist in einem enggefassten Brustbild zu sehen, den Kopf melancholisch sinnierend mit der rechten Hand aufgestützt, in Meditation vertieft. Umgeben von mehreren Vanitas-Motiven (wie der Uhr, dem Spruchband und der abgebrannten Kerze) streift der Zeigefinger seiner linken über einen gekippten Totenschädel, dem Sinnbild für die Vergänglichkeit schlechthin. [Quelle: Museum Kurhaus Kleve.]
Kunde: Es ist ein Bild, das den heiligen Hieronymus in seiner typischen Pose zeigt, wie er mit der Hand am Kopf nachdenkt und sich der Vergänglichkeit des Lebens bewusst wird. Hieronymus gehört zu den vier Kirchenvätern des Christentums und hat sich um die Verbreitung der Heiligen Schrift sehr verdient gemacht. Hieronymus hat um das Jahr 400 in einer Stadt namens Hippo – unweit von Tunis – im heutigen Algerien gelebt. Hieronymus hat erlebt, wie das Gebiet, in dem er lebte, von den Vandalen erobert wurde und in seiner unmittelbaren Umgebung Verwüstungen stattgefunden haben. Sein Bewusstsein für die Gefährdung des Lebens war also alles andere als zufällig. Und so viel ist sicher: Gerade heute ist das Bewusstsein für die Gefährdung der Welt nicht eben schwächer geworden. Hoffen wir, dass der Krieg noch nicht wirklich vor der Tür steht. Hieronymus hat in der christlichen Überlieferung diesen Gestus des „Memento Mori“ verkörpert. Dieser Bildtypus wurde von Albrecht Dürer erfunden und später von vielen Künstlern adaptiert. In diesem bildlichen Zusammenhang tauchen dann immer wieder bestimmte Symbole auf: Hier ist es unter anderem der Totenschädel, auf den Hieronymus zeigt. Da ist aber auch eine erloschene Kerze. Das waren damals auch für nicht Schriftkundige nachvollziehbare Symbole. Und in diesem Bild ist dann noch ein lateinischer Spruch zu sehen, der übersetzt bedeutet: „Erinnere dich an deine letzten Worte und du wirst nicht für immer sündigen.“ Man fragt sich natürlich, von welchen letzten Worten hier die Rede ist.
Gibt es da nicht auch von Dürer ein Hieronymus-Bild?
Kunde: Richtig. Es heißt „Hieronymus im Gehäus“. Hieronymus war ja ein Intellektueller, was sich auch daran zeigt, dass er fast immer beim Lesen oder Nachdenken gezeigt wird. Sein Symboltier ist ja der Löwe. Auf dem Dürer-Bild ist der Löwe im Gehäus mit anwesend. Hieronymus zog ihm einen Dorn aus der Tatze und zähmte ihn so. All das ist natürlich hochgradig symbolgeladen. Der christliche Glaube als Zähmung der wilden Triebe – die Kultivierung der Bestie Mensch.
Weihnachten ist ja heutzutage eher ein Konsumrauschfest – manchmal grenzt das fast schon ans Dekadente. Und das Memento Mori ist gewissermaßen das genaue Gegenteil. Da sucht also Harald Kunde dieses Bild zu Weihnachten aus. Muss man sich Sorgen machen, dass du Heiligabend in Selbstgeißelung zuhause verbringst?
Kunde: Nein, mache ich nicht. Aber ich finde es wichtig, über die tieferen Inhalte eines solchen Festes nachzudenken. Natürlich ist Weihnachten heute überdeckt von einer meterdicken Konsumschicht. Da geht es um Erwartungen. Wer feiert mit wem? Wie gestaltet man den Abend? Ursprünglich geht es beim Weihnachtsfest um das Gedenken an die Geburt Christi, die ja sozusagen ein neues Zeitalter eingeläutet hat. Die Zeit vor Christi Geburt war eine eherne und gnadenlose Zeit: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Christi Geburt war ja verbunden mit der Hoffnung, diesen Vergeltungsgedanken des alten Testaments abzuschütteln. Es ging und geht um Gnade – um eine Veränderung des Vergeltungsmusters. Aus Auge um Auge, Zahn um Zahn wurde: Wenn dir jemand auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin. Das war und ist für viele undenkbar und auch in vielen Konflikten heute findet dieses Denken nicht statt. Trotzdem bietet sich hier eine geistige Möglichkeit der Distanzierung von dem Auge-um-Auge-Denken.
Wir waren kürzlich zusammen im Kino und haben uns „Konklave“ angesehen. Ein Film, bei dem es um eine Papstwahl geht und irgendwie ist bei diesem Konklave doch auch alles voller Intrige. Ich dachte dann: Wenn es da so zugeht …
Kunde: Spannend an dem Film war doch, dass er einerseits diese Konflikte und Intrigen beim Konklave ausgeleuchtet hat, aber da war doch auch dieser Gedanke, dass sie alle – also die Kardinäle – immer noch diesem Glauben angehören. Da war niemand, der das System sprengen wollte. Trotzdem hat jeder von denen seine kleinen Sprengsätze verteilt. Aber da war – vor allem in der Person des Dekans, der ja das Konklave durchführen musste, diese tiefe Zuversicht, dass es am Ende einen würdigen Nachfolger geben würde und die Wahl nicht an den menschlichen Unzulänglichkeiten scheitern wird. Da war also diese Idee, dass der gemeinsame Glaube am Ende über die Erbärmlichkeit des Menschlichen siegt. Und der Papst, der am Ende gewählt wurde, ist doch ein Hoffnungsträger. Es geht also am Ende nicht um eine düstere Weltsicht. Es ist eine Weltsicht, die sich der Unzulänglichkeiten des Menschseins wohl bewusst ist, aber trotzdem darauf hofft, dass etwas Großes möglich ist. Es ist doch der wichtigste Teil des Menschseins, dass man versucht, besser zu werden.
Wie verbringt Harald Kunde seinen Weihnachtsabend?
Kunde: Im Kreis der Familie in Grimma – einem Ort in der Nähe von Leipzig. Da lebt die Familie meiner Frau, Da treffen wir uns jedes Jahr. Da ist dann auch mein Bruder mit seiner Frau, da ist mein Sohn mit seiner Frau und meinen beiden Enkelkindern. Es sind also verschiedene Generationen anwesend.
Ich komme gerade von einem Pressegespräch beim Landgericht. Weihnachten, sagten die dort, ist das Fest, an dem es am häufigsten zu häuslicher Gewalt kommt. Wahrscheinlich hat das auch mit dem enormen Erwartungsdruck zu tun, unter dem sich alle befinden. Meisten zerbricht schon am 1. Weihnachtstag das Erwartungsgebäude und es kommt zu Streit und Gewalt.
Kunde: Das ist – hoffentlich nicht mehrheitlich – traurige Realität. Ich kann mir das nur so erklären, dass da Menschen plötzlich Zeit haben und miteinander verbringen – Zeit, die sie sonst gar nicht haben.
Da hocken die Leute also ablenkungslos aufeinander und es entsteht eine Entfremdung. Nein – sie entsteht nicht: Sie tritt plötzlich offen zutage. Die Leute entdecken schlimmstenfalls, dass sie zwar zu selben Familie gehören, aber trotzdem vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe haben.
Kunde: Da bricht dann vieles auf, was ansonsten im Alltagsgefüge weggebügelt, totgeschwiegen oder eben nie thematisiert wird. Das ist dann eine traurige Realität. Trotzdem glaube ich, dass diese Momente gemeinsam verbrachter Zeit eine große Bedeutung haben. Aber sie müssen eben regelmäßig stattfinden.
Es geht also um Kommunikation – Kommunikation zu einem Zeitpunkt, wo sie noch möglich ist.
Kunde: So kann man es formulieren.
Gibt‘s ein Weihnachtsritual bei euch?
Kunde: Also es gibt da jetzt keine ausgefeilten Rituale, aber am 1. Weihnachtstag gibt es in aller Regel Gans. Ganz traditionell.