Natürlich: Musik machen ist eine Kunst. Zuhören ist es auch. Wer je auf einer Bühne stand, weiß, dass es verschiedene Arten von Stille gibt. Nicht jedes Publikum versteht sich aufs kreative Zuhören. „Unser Publikum weiß wie‘s geht“, sagt Stefan Reichmann, „und glaube mir: Die Künstler merken das.“ Wir sitzen in der Pop Bar in Haldern. Der Anlass: ein Jubiläum: 15 Jahre – an die 700 Veranstaltungen. Happy Birthday.
Ein bisschen wie früher
Irgendwie ein bisschen wie früher denke ich. Über der kleinen Bühne in der Pop Bar: Das vergilbte Foto einer Kuh. Irgendwie ist die Zeit stehen geblieben ohne anzuhalten Wie ging es los mit der Pop Bar? Stefan Reichmann erinnert sich: „Damals gab es ja das Haldern Pop Festival bereits und wir waren auf der Suche nach neuen Räumen. Unser Festivalbüro war längst zu klein.“ Reichmann erfuhr, dass jemand die alte Gaststätte Koopmann gekauft hatte. „Koopmann – das war ein wichtiger Ort im Dorf. Gleich am Marktplatz.“ Der Plan des Käufers: Die Kneipe sollte einem Neubau weichen. Zeit zu handeln. Reichmann setzte sich mit dem Besitzer zusammen und erzählte von seiner Idee, eine Art Begegnungsstätte zu haben – einen Ort für Konzerte. Dazu eine Bar. „Und oben sollten dann die Büros sein.“
Idee und Elan
Der Besitzer ließ sich auf die Idee ein. Aus „Koopmann“ wurde die Pop Bar. Stefan Reichmann: „Eines aber war klar: Gastronomie gehörte nicht in unsere Kernkompetenz. Wir brauchten jemanden mit einer Idee und dem Elan, das auch durchzuziehen.“ Die Suche begann und endete bei David Priefer. Er wurde der „Gründungswirt“ der Pop Bar – das war im September 2009 und zur Eröffnung gab es einen Cocktail namens „Postbote“.
Damals – kurz vor der Eröffnung – waren die Nachbarn eingeladen und 15 Jahre später wiederholt sich das Szenario: Die Nachbarn sind zu einem Fest eingeladen. Erbsensuppe (vegan), Würstchen (nicht vegan) und Frikadellen (ebenfalls nicht vegan). Dazu – versteht sich: Getränke nach Wahl. Eingeladen sind außer den Nachbarn auch Bürgermeister und Geistlichkeit. Irgendwie ganz wie früher.
„Day-Off-Bar”
Zurück zur Idee von der Pop Bar. Stefan Reichmann spricht von der „Day-Off-Bar“. Das müsste erklärt werden: „Über unser Festival haben wir in all den Jahren viele Verbindungen zu Musikern geknüpft. Wenn die auf Tour sind und zwischendrin einen Tag frei haben, dann wird der nicht bezahlt. Die Musiker müssen sehen, wo sie bleiben.“ Die Idee: Man etabliert sich als guter Gastgeber und lädt die Musiker am Day-Off nach Haldern ein. Freizeit mit Familienanschluss. Die Familie: das Dorf. „Wir sind hier gute Gastgeber und so was spricht sich herum“, sagt Reichmann. Teil des Dorfaufenthaltes: kleines Konzert in der Pop Bar. Geben und Nehmen.
Etabliert heißt herumgesprochen
Eben diese Idee hat sich etabliert. Etabliert heißt auch: herumgesprochen.
„Du erlebst hier unglaubliche Dinge. Da sitzen die Musiker in der Bar – improvisieren einfach mal rum und das Konzert am Abend ist dann etwas ganz Besonderes – ein fast intimes Treffen von Musikern und Publikum. Genau das macht die Faszination aus. Und ich höre von den Musikern ganz oft, dass die Konzerte in unserer Pop Bar etwas sehr Besonderes sind. Natürlich sind wir darauf stolz. Und Haldern ist ja eine Art Schnittpunkts-Ort – eine Art Mittelpunkt, an dem sich die Linien schneiden. Wir liegen auf der Hälfte zwischen Amsterdam und Köln, Arnheim und Oberhausen. Eigentlich ein idealer Ort.“ Zuerst das Festival, dann die Pop Bar. Vielleicht hätte es in umgekehrter Reihenfolge nicht funktioniert. Aber: Wer will das sagen?
Denkmitte
In jedem Fall ist auf dem „Koopmann“ von einst ein neuer Treffpunkt geworden – einer, der in der Dorfmitte liegt und irgendwie auch in der Denkmitte. Stefan Reichmann ist sicher: „Die Idee ist längst im Dorf angekommen.“ In der Pop Bar finden nicht nur Konzerte statt. „Wir bieten auch Lesungen an“, sagt Reichmann, aber natürlich haben die allermeisten der Veranstaltungen der letzten 15 Jahre ein musikalisches Zentrum und das Who is Who der Pop Bar Gäste ist allemal dazu angetan, den gedachten Hut zu ziehen. Die Pop Bar ist zusätzlich der Atem, den es in der Festivalpause braucht. Haldern ist seit 15 Jahren eben nicht nur Ort des Festivals. Es gibt jetzt ein Dazwischen – etwas, das den Geist wachhält, von dem das Festival lebt und seit 15 Jahren eben auch die alte Kneipe in der Dorfmitte. Und sucht man bei TripAdvisor nach der Pop Bar, finden sich Einträge wie dieser: „Lecker Bier in gemütlicher Atmosphäre: Der richtige Ort, um gute Musik und Getränke zu sich zu nehmen.“ Und würde es ein TripAdvisor für Musiker auf Tour geben – die Resonanz wäre vermutlich ebenso positiv. „Wenn ihr Glück habt, bekocht euch der Stefan“, könnte da stehen, oder vielleicht „Super Publikum. In Haldern wissen sie wie man zuhört.“
Und während unten eine Band [Bo Ningen] fürs Abendkonzert aufbaut, wird oben längst das Haldern Pop 2025 in Form gedacht.

Michael Kiwanuka. Foto: Christoph Buckstegen
Es gibt da diesen besonderen Ort in Haldern – spektakulär unspektakulär und irgendwie mittig. Zum Geburtstag: kleiner Empfang mit Nachbarn, Suppe und Getränken … ein Gespräch
15 Jahre Pop Bar. Was ist die Botschaft?
Reichmann: Tja – was sagt man zu 15 Jahren Pop Bar? Es ging ja damit los, dass wir neue Büroräume gesucht haben.
Für die Agentur?
Reichmann: Für alles. Für die Werbeagentur, für das Festival, für mein Büro, das ja immer auch Headquarter des Festivals war. Wir brauchten einfach mehr Platz. Das war der Zeitpunkt, an dem ich hörte, dass jemand den Laden hier [die Gaststätte Koopmann] gekauft hatte – und der wollte das Ganze abreißen; wollte hier Altenwohnungen bauen. Ich hab dann gedacht: Stopp mal. Das hier ist Koopmann. Das geht nicht, dass man das einfach abreißt. Die Gaststätte ist mitten im Dorf – hat noch diese alten Fenster. Die erste Idee war dann: Ich wollte immer eine Bar haben mit ’ner Kaffeemaschine – so eine Art Wohnzimmer, wo dann auch mal Musiker spielen können. Anfangs hatte ich dabei an unplugged gedacht.
Also akustisch.
Reichmann: Genau. Ich musste dann erst lernen, dass man auch Bands spielen lassen soll, die eben nicht nur akustisch unterwegs sind. Heute Abend spielt hier eine wunderbare Kapelle aus Japan [Bon Ningen]. Das wird hier unglaublich laut werden. Die Jungs werden während des Konzerts zu einem reißenden Strom.
Bleiben wir noch einen Moment bei den Anfängen der Pop Bar.
Reichmann: So eine Bar ist ja auch nichts anderes als ein reißender Strom mit vielen bunten Fischen. Also – zurück zu den Anfängen: Ich habe also, als ich von dem Abrissplan erfuhr, den Besitzer einfach mal angerufen. Zu der Zeit waren gerade Olli und Maik [Springer und Parker] hier. Die hatten sich frisch ins Festival verliebt. Ich habe also erst mal mit dem Eigentümer geredet und gesagt: „Pass auf: Nicht abreißen. Ich hab ’ne andere Idee für das Ding. Ich würde da gern oben mit den Büros reingehen und unten die Gaststätte ein bisschen umbauen und daraus so eine Art akustischen Live-Club machen. Ganz ruhig – mit Kaffeemaschine – so ’ne Bar eben.“ Dann sagte der: „Ich überleg mir das mal. Ich hab‘ eh genug Projekte. Eigentlich kann ich mir das gut vorstellen.“ Der hat sich dann gemeldet und gesagt: „Können wir machen“. Daraufhin haben wir mit dem Umbauen angefangen.
Klingt spannend.
Reichmann: Ja – aber woran niemand gedacht hatte: Wir brauchten ja auch einen Wirt. Ich bin ja kein Wirt – also kein Gastronom. Ich habe mit tausend anderen Sachen zu tun. Olli und Mike – jetzt kommen wir zu den beiden zurück – Olli und Mike kannten also damals einen Typen von der 100-Tage-Bar während der documenta in Kassel. Das war Daniel Priefer. Stopp – nicht Daniel, David: David Priefer. Den haben wir also kontaktiert und der ist tatsächlich gekommen und wir haben mit dem geredet, haben ihm das Projekt vorgestellt und irgendwie war klar: Der muss hier hin ziehen. Das war natürlich ein Riesending, denn ehrlich gesagt – du musst ja einen Menschen dazu bringen, seinen Lebensmittelpunkt zu verlassen, um ganz woanders so ein irres Projekt zu machen. David war genau so ein Typ. Der sagte: „Komm, ich zieh‘ hier also in die Baustelle und dann haben wir dem unser Vertrauen geschenkt und der aber vor allen Dingen uns auch seines. Der ist also hier in die Baustelle gezogen und wir haben angefangen umzubauen. David ist dann hinterher in die Wohnung von unserem alten Büro gezogen und wir sind schon mal in die Büros hier eingezogen. Dann gab es noch Dirk Brauner mit seinen Mikrofonen. Ich wollte ja immer irgendwie alles unter einen Hut bekommen. Da war auch Christoph [Buckstegen] mit seinen Fotografieen – wir waren ja alle irgendwie unterwegs. Der eine macht tolle Fotos, der andere hat Werbeideen und einer baut tolle Mikros. Wir haben ein tolles Festival und irgendwie – dachten wir – würde dieser Ort seine Ausstrahlung bekommen. Das mit der Ausstrahlung hat ja funktioniert. Der David hat das gemacht – in den ersten beiden Jahren. Es ging ja darum, dass eine Idee Halt findet.
Was meinst du damit?
Reichmann: Es ging darum, dass die Idee und das Konzept von den Leuten angenommen wurden. Irgendwann hat es David dann weiter getrieben. Man muss einfach sagen: Der war für uns damals unglaublich wichtig. Wir sind dem alle dankbar. Den Mut musst du ja erst mal haben, aus Kassel nach Haldern zu ziehen – kann auch Göttingen gewesen sein. Ich bin nicht sicher. Wir haben das dann hier Stück für Stück entwickelt. – haben Bands eingeladen …
… an Kontakten wird es nicht gefehlt haben, oder?
Reichmann: Richtig. Wir unterschätzen gern unsere Kontakte. Das sage ich mal ganz kleinlaut. Ich hatte ja immer die Vision, dass wir hier eine Day-Off-Bar werden. Eigentlich befinden wir uns ja im Nirgendwo – aber wenn man sich das mal genau ansieht, ist es doch ganz anders. Wir sind zwischen Paris und Berlin oder zwischen Amsterdam und Köln, Kopenhagen und Zürich. Darüber haben wir damals alle gelacht. Die Leute, die wir hier gehabt haben, die waren doch alle auf der Reise von A nach B.
Das mit dem Day-Off müsstest du vielleicht mal kurz erklären.
Reichmann: Day-Off bedeutet: Wenn du als Künstler auf Tournee gehst, dann musst du an dem Tag, an dem du abends nicht spielst, quasi alles selber bezahlen. Das ist für große Bands eher nicht das Problem – die verdienen Kohle genug und nehmen sich dann bewusst auch mal einen freien Abend, um sich zu erholen. Aber für die kleinen Bands sieht die Sache anders aus. Die kommen beispielsweise aus Australien und sind dann hier mit sechs Leuten im Sprinter unterwegs. Die sind dann einfach kaputt. Die fahren kreuz und quer und irgendwie nimmt ja auch niemand Rücksicht darauf. Da ist dann dieser Mythos, dass einer, bevor er Erfolg hat, erst mal Dreck fressen muss. Die Leute müssen aber auch mal Pause machen. Die müssen – bildlich gesprochen – die Pferde tauschen. Das ist wichtig. In Haldern war immer klar: Wir sind gute Gastgeber. Wir freuen uns, wenn wir Besuch bekommen. Wir hatten mit dem Festival längst unsere Gastgebertauglichkeit bewiesen. Das haben wir auch den Leuten im Dorf erklärt: Wenn wir Menschen einladen, dann meinen wir das ernst. Wir kümmern uns. Es haben ja längst alle verstanden, dass uns als Dorf das gut getan hat. Und unser Publikum ist doch längst die Größe, die unser Festival ausmacht. Alle Künstler sagen mir immer wieder, es sei phänomenal, wie die Leute hier zuhören. Genau das macht unser Publikum aus. Die Bar ist dafür eine Art Trainingszentrum – und einmal im Jahr ist es dann das Festival. Die Leute hören auch bei ganz, ganz ruhigen und leisen Sachen einfach zu. Zuhören, das ist mir klar geworden, ist auch eine Kunst.
Hast du einen Überblick darüber, wie viele Veranstaltungen hier stattgefunden haben?
Reichmann: Ich hätte den nicht. Ich bin da nicht so der Statistiker, aber mir hat jemand aufgeschrieben, dass es bis heute circa 700 Lesungen und Konzerte gegeben hat. Das sind Zahlen – nicht falsch verstehen –, die mich überhaupt nicht interessieren … zur Statistik gehört auch, dass bei uns in der Bar mehr Frauen aufgetreten sind als Männer. Aber solche Zahlen sind keine Pressemeldungen. Natürlich ist der Großteil der Veranstaltungen mit Konzerten abgedeckt, aber es hat immer auch Lesungen hier gegeben. Die Bar ist ein Experimentierfeld. Das ist hier ein Ort, der den Leuten das Gefühl vermittelt: Du musst nicht ständig auf dein Handy gucken und stehst trotzdem im Leben. Du hast hier nicht das Gefühl, etwas zu verpassen. Die Band Bo Ningen – das sind die, die gerade unten proben – diese Band wollte also unbedingt hierhin. Die sind schon zum vierten Mal hier. Die nehmen diesen Ort bewusst wahr. Für gewisse Musiker ist das hier ein richtig wichtiger Ort. Dieser Ort zieht seine Kraft paradoxerweise aus der Tatsache, dass er vollkommen unspektakulär ist. Font hat hier gespielt. Es war ein wunderschöner Tag. Die kamen rein, haben das Klavier entdeckt und Musik gemacht. Die haben den ganzen Nachmittag irgendwie gebastelt. Einer hat gelesen. Dann haben die langsam aufgebaut. Ich habe in der Küche was gekocht – es roch nach Thymian und Majoran … Ich hatte denen in Italien versprochen: Wenn ihr nach Haldern kommt, dann koche ich für euch. Dann haben die also langsam mit dem Soundcheck angefangen und irgendwann kamen die ersten Leute. Der Sänger kam und fragte ich, ob die Band schon früher mit dem Spielen anfangen könnte. Der sagte: „Wir würden jetzt gern improvisieren.“ Die wollten also bis 21 improvisieren und dann das eigentliche Konzert spielen. Er meinte, der Raum und die Zeit – eben alles würde sich gerade jetzt gut anfühlen. Ich hab‘ dann natürlich gesagt: „Macht einfach. Ist doch super.“ Ich weiß noch, dass ich damals dachte: Jetzt ist die Bar eigentlich am tollsten. Alle waren wie beseelt: Die Band, das Publikum. Das war an einem Dienstagabend und es war einfach magisch. Die Band ist dann am nächsten Tag nach Paris weitergefahren. Am Ende wollte niemand weg. Alle fanden das so schön und trotzdem waren wir alle wie paralysiert. Es war der Tag nach der US-Wahl: Trump, der President elect. Das war für alle ein totaler Schock. Die Band – das waren alles junge Texaner. Die kommen aus Austin. Austin ist eine Uni-Stadt. Das ist nicht wirklich Texas. Die haben da eine großartige Musik- und Literaturszene. Am anderen Tag hat Erika gespielt. Die Festwoche, die wir geplant hatten, war einfach wunderbar – total schön. Und dann hatten wir den Samstag, an dem wir die Nachbarn eingeladen hatten. Das war ein unglaublicher Abend. Wir haben bis 2 Uhr morgens hier gesessen. Zünftig. Unkompliziert. Schnaps, Bier und ein paar Weinchen – dazu Erbsensuppe.
Irgendwie ein bisschen wie früher denke ich. Über der kleinen Bühne in der Pop Bar: Das vergilbte Foto einer Kuh. Irgendwie ist die Zeit stehengeblieben ohne anzuhalten. Das hier, denke ich, ist nicht der Versuch, ewig im Gestern zu bleiben, aber es ist der Versuch, das Davor nicht einfach zu vergessen. Das hier, denke ich, ist ein starker Ort – einer von denen, die es nicht mehr oft gibt. Einer von denen, der – ein bisschen nur – mit der Melancholie des Vergänglichen tapeziert ist. Es macht Spaß hier zu sein – im Herzen von Europa. Der Ort, an dem man – während der langen Reise – die Pferde wechselt. Die Pop Bar ist der Ort zwischen den Festivals und irgendwie auch Teil des Festivals. Etwas im wahrsten Sinne des Wortes Erwachsenes. Gewachsenes. Etwas ganz und gar unspektakulär Besonderes. Happy Birthday. Pop Bar.