Es geht um Museen in Amerika. Ein Museumsleiter begibt sich auf Kunstdienstreise.
Du warst in den Vereinigten Staaten und hast wahrscheinlich viele Museen besucht. Was – würdest du sagen – ist der Unterschied zwischen deutschen, respektive europäischen und amerikanischen Museen?
Kunde: Ich beginne mal so: Das ist eine Frage, die auf verschiedenen Ebenen höchst unterschiedlich beantwortet werden muss. Natürlich gibt es auch in den Staaten nicht nur diese weltbekannten Museen, die jeder hier kennt, von denen die allgemeine Wahrnehmung hier geprägt ist und zu denen es in Deutschland nur wenig Vergleichbares gibt. Die großen amerikanischen Museen verfügen über teils riesige Sammlungen und bieten – auch das gehört zu einer Antwort – Service-Leistungen an, die hier in den meisten Häusern außerhalb des Vorstellbaren liegen. Wenn wir von diesen großen Playern ausgehen …
…also beispielsweise das Metropolitan Museum oder dem MoMa oder dem Philadelphia Museum of Art …
Kunde: …dann sind das faszinierende Gehäuse, in denen sprichwörtlich die ganze Welt aufzufinden ist. Daraus folgt, dass man ohne Probleme mehrere Tage in diesen Häusern zubringen könnte.
Dasselbe könnte man aber auch für den Louvre oder die Eremitage sagen, oder?
Kunde: Ja, natürlich. Was bei diesen Häusern im Hintergrund steht, ist ein globales Sammlungskonzept, das über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte verfolgt wurde. Wir treffen da nicht auf ein eurozentristisches Konzept, sondern es findet sich da immer auch der Blick nach Asien, Afrika, nach Ozeanien. Mit anderen Worten: Es ist da immer alles gesammelt worden, was als kultureller Ausweis oder kulturelles Gütesiegel der Völker fungieren kann.
Das wären dann also Exponate, die hierzulande eher in Völkerkundemuseen zu finden sind.
Kunde: Ja. Dazu kommt: In Amerika gab es keine Weltkriege: Die Sammlungs-Tradition ist also ungebrochen. Das hat zu einer Anhäufung enormer Schätze geführt, die wiederum in aufwendigsten Präsentationen gezeigt werden. In großen Museen – so zum Beispiel in Philadelphia – werden komplette Mittelalter-Abteilungen aus europäischen Klosterbeständen nachgebaut. Da gibt es dann also komplette Kreuzgänge. So etwas findet sich auch im Metropolitan. Da gibt es ein eigenes Museum, das zum Met gehört – es heißt „The Cloister” –, wo man spürt, dass es den Amerikanern um eine Art kulturellen Nachholbedarf geht. Da geht es dann – überspitzt formuliert – darum, sich das eigene Mittelalter an der Nordspitze Manhattans zu schaffen. Koste es, was es wolle. Da finden sich Stücke vom Allerfeinsten oder auch komplette Klosteranlagen, die in Spanien oder Italien abgetragen wurden, weil sie dort leer standen. Da ist also zum einen diese ungeheuerliche Angebotsfülle und zum anderen die grundsätzliche Art der Finanzierung. Es ist ja, denke ich, bekannt, dass in Amerika sehr, sehr vieles über private Finanzierung läuft. Etwas wie ein staatlicher Auftrag, sich um Kunst und Kultur zu kümmern, wie es ihn hierzulande gibt, ist dort quasi nicht vorhanden.
Das ist einer der Punkte, die mich interessieren: die unterschiedlichen Strukturen. Du leitest ein städtisches Museum. Das bedeutet: Ein Teil des Etats – zum Beispiel die Personalkosten – muss nicht eingeworben werden. Wie stelle ich mir das beim MoMa vor?
Kunde: Auch für ein städtisches Museum ist Geld natürlich kein Automatismus, aber es ist natürlich etwas grundsätzlich anderes, mit öffentlichem Geld – also dem städtischen Anteil – zu arbeiten. Von diesem Geld werden Haus und Gehälter getragen. Aber auch wir sind verpflichtet, Gelder einzuwerben. Das ist allerdings meistenteils auch wieder öffentliches Geld vom Land oder von Stiftungen oder vergleichbaren Körperschaften, die eben nicht mit privatem, sondern mit öffentlichem Geld arbeiten. Die Strukturen in Amerika sind anders. Da gibt es einen „Board” – bestehend aus mächtigen, einflussreichen und reichen Personen, die im Prinzip unter sich ausmachen, wie viel Geld zur Verfügung stehen kann und wofür es letztlich eingesetzt wird. Das kann für die Arbeitsweise hohe Flexibilität bedeuten, ist aber andererseits mit einem hohen Maß an Unsicherheit verbunden. Das sind die beiden Pole, zwischen denen sich Museum abspielt. Du bist also als Leiter eines Museums dem Wohlwollen des Boards direkter ausgeliefert als das bei uns der Fall ist, aber wenn du das Wohlwollen hast, lassen sich Dinge sehr viel schneller bewegen als wenn du in bürokratischen Strukturen unterwegs bist.
Natürlich ist klar, dass auch euch das Geld nicht hinterhergeflogen kommt, aber wenn du als Leiter oder Kurator sagst, du möchtest das Projekt XY umsetzen und auch die Finanzierung dafür hast, dann wird doch hier niemand kommen und sagen „Das möchten wir nicht”. Ich stelle mir aber vor, dass es in Amerika durchaus so sein kann, dass ein Direktor eine Idee hat, aber ein Veto seitens des Boards das Projekt letztlich unmöglich macht. Die sagen dann beispielsweise: „Unsere Kundschaft hätte lieber das und das.” Oder liege ich da falsch?
Kunde: Darüber müssten wir jetzt spekulieren, denn ich war noch nie bei einer Board-Sitzung dabei. Ich kenne aber einige Kollegen, die natürlich berichten, dass es mehr oder weniger immer nur in der Absprache funktioniert. Der Museumsdirektor muss – wie auch bei uns – die Dinge vorstellen, sie diskursiv begleiten und natürlich auch begründen können, warum etwas wichtig ist. In der Regel sind dann die Board-Mitglieder nicht gegen eine Ausstellung, sondern werden bestenfalls versuchen, ein Projekt zu unterstützen und notwendige Geldquellen zu erschließen. Das ist eine in Amerika tief verwurzelte Kultur: da werden dann beispielsweise Celebrity-Dinner veranstaltet, wo an einem Abend richtig viel Geld eingesammelt wird, das man anschließend ganz gezielt einsetzen kann. Inwieweit das Geld bestimmt, was letztlich ausgestellt wird, müsste in jedem Einzelfall hinterfragt werden. Es gibt natürlich immer wieder auch Projekte, bei denen die Widerstände zutage treten und wo das dann auch öffentlich wird. So etwas kann dann auch von Künstlern ausgehen. Nimm den Fall der amerikanischen Fotografin Nan Goldin. Die hat sich gegen eine Pharmafirma ausgesprochen: Diese Firma hatte Medikamente hergestellt, die viele Menschen in die Sucht getrieben haben. In einem solchen Fall kann es passieren, dass einem Museum erhebliche Gelder wegbrechen, weil eine Zusammenarbeit dann nicht mehr möglich ist. Das ist dann gewissermaßen ein Canceln in die Gegenrichtung. Da sagt dann also ein Museum: „Die Art und Weise, wie ihr euer Geld verdient, stimmt mit unserer Auffassung nicht überein.”
[Zu diesem Thema gibt es einen Dokumentarfilm von Laura Poitras aus dem Jahr 2022: „All the beauty and the bloodshed”. Er dokumentiert Nan Goldins Kampf gegen ein Unternehmen, das für die Opioidkrise in den Vereinigten Staaten mitverantwortlich gemacht wird.]
Kunde: Es wird auch Fälle geben, wo Geldgeber sagen: „Diese Ausstellung passt uns nicht.” Dann werden sie also das Projekt nicht fördern, aber dann springen vielleicht andere in die Bresche, die nur auf diesen Moment gewartet haben. Wir reden aber letztlich von komplizierten und auch langwierigen Abstimmungsprozessen. Da geht es um Angebote, Realisierbarkeiten und nicht zuletzt auch um einen Blick aufs Publikum. Das ist in Amerika ein wichtiger Punkt. Es geht um die Frage: Wie viele Leute sehen sich eine Ausstellung an? Wie wird etwas angenommen? Ist das, was da stattfindet, ein Nischenprogramm? Und für alles gibt es spezielle Formate, die dann auch in großen Häusern parallel umgesetzt werden.
Es gibt ja bei uns die vier klassischen Grundpfeiler der Museumsarbeit: Sammeln, Erhalten, Bearbeiten, Präsentieren. Wie ist das in Amerika? Gibt es da auch diesen Vierklang?
Kunde: Den gibt es auf alle Fälle auch. Das sind natürlich Entwicklungen, die aus Europa kommen und dort übernommen wurden. Amerika hat im Vergleich zu Europa – rund gerechnet – eine dreihundertjährige Geschichte. Alle amerikanischen Museen sind nicht zuletzt deswegen immer an Partnerschaften mit europäischen Häusern interessiert – und das möglichst auf Augenhöhe.
Klartext: Das MoMa wird keine Partnerschaft mit dem Kunstverein Kühlungsborn eingehen.
Kunde: Genau.
Das klingt jetzt alles erst einmal so, als wäre ich da einer falschen Vorstellung auf den Leim gegangen. Es ist die Vorstellung, dass amerikanische Museen aufgrund anderer Finanzierungskanäle wesentlich abhängiger sind als Häuser hierzulande.
Kunde: Der grundsätzliche Unterschied liegt tatsächlich zunächst einmal in der anderen Art der Finanzierung. Der museale Grundgedanke ist aber dort natürlich kein anderer als hier in Europa. Es geht um die Schaffung von Angeboten für Bildung und Unterhaltung. Und es geht um einen hohen Aufenthaltsqualitätsfaktor.
Manchmal entsteht hierzulande bei einem Museumsbesuch der Eindruck, dass Faktoren wie Aufenthaltsqualität und Wohlfühlfaktor eher hintanstehen.
Kunde: Dieser Eindruck kann mitunter entstehen, aber es ist ja oft auch die – wie soll ich sagen – Dokumentation einer Bedürftigkeit in diesen anderen Bereichen.
Man bekommt es also, schlicht gesagt, nicht auf die Reihe?
Kunde: Nehmen wir doch mal unser Museumscafé: So wichtig das ist, so schwierig ist es, zu den Öffnungszeiten einen durchgehenden Cafébetrieb anzubieten. Das wiederum hat verschiedene Ursachen. Da entstehen Kosten, die gedeckt werden müssen. Es braucht Personal. Da kommt eins zum anderen. Immerhin schaffen wir es derzeit, das Café an den Wochenende zu öffnen. Bei den großen Museen in Amerika wird die Aufenthaltsqualität sehr ernst genommen. Sie ist natürlich Teil eines erfolgreichen Marketings. Wie es aber in den kleinen Museen dort aussieht, könnte ich jetzt auch nicht sagen. Bei den großen Häusern ist natürlich auch die personelle Ausstattung eine ganz andere. Das lässt sich mit einem Haus wie dem unseren nicht wirklich vergleichen. Hier arbeitet ein kleines Team – alle sind Allrounder. In Amerika sind da hunderte Leute angestellt, die dann den Service-Gedanken an das Publikum weitergeben. Da sagt man dann: Ein Museum ohne erstklassiges Restaurant kann nicht funktionieren.
Unsereiner wäre ja schon zufrieden, wenn es tatsächlich ein gemütliches Café gäbe – eines, wo man – vor, während oder nach dem Besuch – gern sitzt. Ich glaube tatsächlich auch an die Bedeutung eines solchen Ortes, der den Wohlfühlfaktor erhöht.
Kunde: Vielleicht noch mal ein Wort zu den Big Playern. Da ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Im MoMa war ich beispielsweise enttäuscht von der Sammlungspräsentation. Das hing vielleicht aber auch damit zusammen, dass das noch nicht abgeschlossen war. Da gab es Räume, die waren noch in der Mache. Man ist also an einem falschen Punkt eingestiegen. Ich dachte jedenfalls: Da ist ein Haus mit derart großartigen Beständen – warum präsentieren die das 20. Jahrhundert quasi von hinten durch die Ecke?
Ist die Ausstrahlung eines Museums auch abhängig von seiner Verortung – ist es also gewissermaßen auch an die Ausstrahlung seines Standortes gebunden?
Kunde: Auf jeden Fall. Das spielt eine unglaublich wichtige Rolle. Da sind die Hotspots wie New York, Chicago oder Los Angeles natürlich im Vorteil. Nehmen wir aber mal ein wirklich sehr gutes Museum – nämlich das St. Louis Art Museum. Da war ich hauptsächlich wegen der fantastischen Beckmann-Bestände. Als das Museum in den 1920er Jahren gegründet wurde, war – flapsig gesprochen – die Welt in Ordnung. Niemand dachte an eine Krise. Die kam in den 50er Jahren. Da brachen in dieser Region ganze Industriezweige weg. Als ich das Museum jetzt besucht habe, war es schon fast abenteuerlich, mit der U-Bahn von Downtown dorthin zu fahren. Es war noch abzulesen, wie damals dieses Museum auf einem Berg über den Vierteln der Reichen thronte – mit einem großen See davor. Alles auf dem Weg dorthin befand sich in großer sozialer Armut. In den U-Bahnen traf man ausschließlich auf Schwarze. Die Menschen, die das Museum besuchen, fahren mit dem Auto hin. Da ich kein Auto hatte, bin ich ziemlich hautnah mit dieser Realität in Berührung gekommen. Ich glaube, es ist nicht vermessen zu behaupten, dass von den Menschen, die ich dort in der U-Bahn getroffen habe, wohl mehr als 90 Prozent dieses Museum nicht besucht haben. Das Museumspublikum – das sind die weißen Bildungsbürger zwischen 50 und 80. Diese Unterschiede sind eklatant und sie sind deutlich stärker ausgeprägt als bei uns, weil dort ein viel engeres Miteinander verschiedener Ethnien vorzufinden ist. Das wiederum hat mit der Gesamtstimmung im Land zu tun. Ich kann nur bestätigen, dass die soziale Zerrissenheit in Amerika dramatische Ausmaße angenommen hat. Ich wüsste nicht, welcher Politiker oder welche Politikerin es hinbekommt, diese Gegensätze wieder anzunähern.
Kommen wir noch mal auf die Aufenthaltsqualität. Um darüber zu sprechen, muss man ja nicht nach Amerika reisen – da reicht ja ein Blick in die niederländische Museumslandschaft. In niederländischen Museen – so jedenfalls habe ich es erlebt – ist das Café sehr häufig ein zentraler Punkt und fast immer herrscht dort – auch mitten in den Woche – reger Betrieb. Warum kann das bei uns nicht funktionieren? Liegt das daran, dass hierzulande die Aufenthaltsqualität nicht zu den Schwerpunkten gehört? Herrscht hierzulande noch eine Art medizinischer Grundeinstellung nach dem Motto: Medizin muss bitter schmecken?
Kunde: Ich weiß nicht, ob das so ist, was ich aber weiß: Auch hier merkt das Publikum sehr wohl, wo schöne Orte sind. Im Kanon der Aufenthaltsqualität ist das Café ja nur ein Aspekt. Es gehören ja auch Elemente wie Park, Wasser oder Skulpturengärten dazu und die bestärken ja ein solches Gefühl der Aufenthaltsqualität. Unter den amerikanischen Museen finden sich einige, die all diese Faktoren gewissermaßen in strahlender Präsenz ihr Eigen nennen. Das sind dann die Orte, an denen die Besucher nicht das Gefühl haben, sich einem Bildungsauftrag zu unterwerfen. Da sind alle diese Aspekte gleichwertige Teile eines Lebensgenussprogramms: gute Kunst anschauen, gutes Essen, gute Getränke, gute Atmosphäre – am See sitzen oder – im Pasadena Art Museum – unter Bambus. Letzteres heißt allerdings nicht mehr Pasadena Art Museum. Mittlerweile hat es den Namen eines Sponsors. Da hat ein reicher Menschen ein bankrottes Museum aufgekauft und jetzt heißt es Simon Norton Museum.
Das ist dann wie hier bei den Fußballstadien … Noch mal zurück zur Aufenthaltsqualität. Ist die für normale Menschen denn überhaupt bezahlbar? Was kostet der Eintritt im MoMa?
Kunde: Das sind um die 20 Dollar. [Auf https://www.attractiontickets.com (Tickets mit Bestpreisgarantie) kostet ein Erwachsenen-Ticket 34 Euro.] Aber es ist ja nicht das Ticket allein. Da summieren sich die Dinge. Zum Beispiel sind Sonderausstellungen meist noch ein bisschen teurer. Es gibt aber auch großartige Einrichtungen, die es sich auf die Fahnen geschrieben haben, dass der Eintritt zu den Sammlungen kostenlos ist. Beim Cleveland Art Museum ist das beispielsweise der Fall. Übrigens auch ein fantastischer Ort in einer schwierigen Umgebung. Auch da merkt man: Die großen Zeiten sind vorbei und die großen Museumstanker stehen da wie Übriggebliebene. Da sind diese gigantischen Bildungstanker, aber niemand weiß, wie lange sie noch schwimmen werden.
Ist in den Staaten die Publikumsstruktur eine andere? Ich war gerade bei der Richter-Ausstellung in Düsseldorf. Es war hemmungslos voll, aber weit über 90 Prozent der Besucher waren über 60. Übrigens lohnt sich auch hier ein Vergleich mit den Niederlanden, wo ich den Eindruck habe: das Publikum ist wesentlich jünger.
Kunde: In der Regel ist auch in Amerika das Hauptpublikum weiß und zwischen 50 und 80 und wahrscheinlich mehr oder weniger wohlhabend. Ich war aber auch in Ausstellungen, die ein gänzlich anderes Publikum angesprochen und angezogen haben. In Los Angeles beispielsweise gibt es „The Broad” – da haben sich Eli und Edith Broad 2015 ein Museum gebaut. Das ist ein Ort für die Reichen und Schönen. Dort gab es eine Ausstellung einer schwarzen und queeren Malerin – eine Künstlerin, die also alle woken Kriterien erfüllt. Da gab es dann schrille Malerei – häufig unter Bezugnahme auf europäische Kunstgeschichte. Da wurden dann Frauen, die in der europäischen Malerei zu sehen waren, durch schwarze Frauen mit viel Strass und Glitzer ersetzt. Bei dieser Ausstellung war ein signifikant anderes Publikum zu sehen. Da waren 80 Prozent der Besucher schwarz und jung. Da fühlte man sich dann als Alterweißermann wie im Spiegel: Es geht also auch andersherum. So fühlen sich sonst die anderen, die da sagen: „Was sollen wir mit euren alten, europäisch geprägten Kunstgeschichten? Wir wollen ein hohes Identifikationspotential mit dem Dargestellten. Was wir sehen wollen, sind Dinge, die uns abbilden: Unser Leben, unsere sexuelle Ausrichtung.” Ich hatte den Eindruck: Da sind jetzt viele, die vielleicht sonst nicht in Ausstellungen gehen. Die waren jetzt da, weil sie genau dort die Identifikationspunkte gefunden und gesehen haben, die ihnen sonst fehlen.
Erschließt man so neue Publikumsschichten?
Kunde: Das mag so sein. Natürlich versuchen Ausstellungsmacher immer, ein Publikum zu finden, aber wenn du neue Schichten erschließen willst, ist das ein schwieriger und auch langwieriger Prozess. Bei manchen Projekten gelingt so etwas. Siehe oben. Aber was ist mit dem Kernpublikum? Das soll ja nicht geopfert werden.
Wenn du Kernpublikum sagst, dann ist das klassische Bildungsbürgertum gemeint, oder?
Kunde: Ja, genau. Und noch ist es ja so, dass wir da von eben der Schicht reden, die weltweit Museen trägt. Die anderen sind aber auch wichtig. Sie sorgen dafür, dass der Betrieb nicht erstarrt. Aber es kann und wird nicht funktionieren, nur auf die anderen Publikumsschichten zu bauen. Fest steht doch, dass auch das Kuratieren bestimmten Zeitströmungen unterworfen ist. Schon seit längerem ist festzustellen, dass sich da der Wind dreht. Es geht nicht mehr nur um den europäischen Kanon. Die Biennale in Venedig wäre ein mögliches Beispiel. Der Anteil der indigenen Künstler dort liegt bei 80 Prozent. Da sind Leute dabei, deren Namen man noch nie gehört hat. Ein ähnlicher Trend ist auch in den amerikanischen Museen zu spüren …
… oder kommt vielleicht sogar von dort …
Kunde: Vielleicht. Im Hammer Museum in Los Angeles – von dort kam damals unsere Lynn Folks-Ausstellung – habe ich eine Ausstellung gesehen, mit der ich vergleichsweise wenig anfangen konnte. Ich kannte keinen einzigen Namen und das, was ich da gesehen habe, würde ich – um es mal frech zu formulieren – bestenfalls als „gut gemeint” einstufen. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass es sich da um künstlerische Praxen handelt, die mit meinem Leben überhaupt nichts mehr zu tun haben. Da bilden außerkünstlerische Aussagen wie sexuelle Orientierung, ökologisches Gleichgewicht den Schwerpunkt der Bearbeitung und es geht nicht mehr um die Frage nach den künstlerischen Mitteln, nach Innovation oder nach Prägnanz. Was ich da gesehen habe, war eine sehr inhaltistische Kunst, bei der es darum zu gehen scheint, auf der richtigen Seite zu stehen. Am Ende stellt sich dann die Frage: Ist es Kunst oder ist es eine Art Propaganda?
Keine unwichtige Frage.
Kunde: Ganz genau. Wir berühren da zentrale Fragen, die natürlich auch für das Programm unseres Museums eine große Bedeutung haben.
Als da wären …
Kunde: … nun – es geht um die Frage der Positionierung innerhalb eines Geflechts aus dem Kanon, den es ja nicht ohne Grund gibt und dessen möglichen Erweiterungen. Der Erweiterungsprozess des Grundkanons ist momentan so intensiv, dass die Fundamente kaum noch erkennbar sind. Mir bereitet es dann bisweilen ein altväterliches Vergnügen, durch gut eingerichtete Sammlungen zu gehen – also solche Sammlungen, die den Kanon bestätigen oder überhaupt erst herstellen. Viele amerikanische Museen sind dazu in der Lage. Man muss ja sehen, dass die amerikanischen Museen von den europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts profitiert haben. All das, was die Nazis als „entartet” gebrandmarkt haben und was teils zu Schleuderpreisen verkauft wurde, ist nach Amerika gegangen. Insofern befindet sich dort eine Art großer Spiegel der europäischen Entwicklung mit phantastischen Beständen, die eben nicht mehr in Europa sind. Und bei vielen Bildern, die auf diese Weise nach Amerika gelangt sind, steht das auch dran. An eine Rückführung ist aber nicht zu denken. Diese Schätze sind als Folge des Nazi-Regimes nach Amerika gekommen. So sind die amerikanischen Museen durch diesen enormen Zugewinn nach dem 2. Weltkrieg zu ihrer dominierenden Deutungshoheit gekommen. Da gab es dann mit einem Mal Bestände, von denen man vorher nicht zu träumen gewagt hätte. Dadurch ist dann auch die amerikanische Kunst zu einer Kenntlichkeit gelangt, die vor den beiden Weltkriegen nicht – oder sagen wir: kaum – vorhanden war. Plötzlich wurden die Formate riesengroß und plötzlich war alles, was mit abstraktem Expressionismus zu tun hatte, originär amerikanisch und nicht aus Europa importiert oder nachempfunden. Es fand ein entscheidender Wandel statt und der hält bis heute an.
Und hat sich das auch auf die Museumsbauten ausgewirkt?
Kunde: Ja, auf jeden Fall. Auch in Bezug auf die Bauten fand eine ungeheure Expansion statt. Es begann mit Gründungsbauten – dann folgten Erweiterungsbauten: Nach 40 Jahren der erste und so weiter … In aller Regel lässt sich an der Architektur die Sozialgeschichte eines Hauses wunderbar ablesen und nachverfolgen. Dazu kommt, dass die Häuser untereinander natürlich in einem Wettbewerb stehen. Jedes Haus will sein Meisterwerk haben und Künstler, die in New York zu sehen sind, müssen mindestens auch in Los Angeles vertreten sein.
Und umgekehrt.
Kunde: Of course.
Apropos Museumsbauten: Ein besonderes Spannungsfeld in Museen ist ja – so sehe ich es jedenfalls – das Gegen- oder Miteinander von Sammlungspräsentation einerseits und Wechselausstellungen andererseits. Hattest du den Eindruck, dass sich der amerikanische Ansatz vom europäischen unterscheidet?
Kunde: Das lässt sich natürlich so einfach nicht sagen, zumal ich ja – wie du dir denken kannst – nur einen Teil der Museen besucht habe. Es ist richtig, dass es immer ein Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen gibt. Stell dir vor, ein bekanntes Museum ist fest mit einem bestimmten Werk verbunden …
…Louvre und Mona Lisa …
Kunde: … von mir aus. Nehmen wir dieses Beispiel. Du bist also Kunstfan und gehst in den Louvre, um die Mona Lisa zu sehen …
… und dann ist sie ist nicht da …
Kunde: Genau. Du bist dann enttäuscht. In großen amerikanischen Häusern gibt es, so mein Eindruck, Flächen, die für die ständige Präsentation der Sammlung unantastbar reserviert sind. Wechselausstellungen finden in anderen, eigens dafür geschaffenen Räumen, statt. Das ist dann eine luxuriöse Situation und zudem eine, die sowohl für die Macher als auch für die Besucher befriedigend ist.
Aber eine Sammlung ist – wie soll ich sagen – auch eine Art Organismus: etwas, das ständig wächst und sich auch beständig verändert.
Kunde: Das ist richtig. Auch diesem Umstand muss man Rechnung tragen. Nehmen wir ein Haus wie das unsere – das Museum Kurhaus Kleve. Ein wunderschönes Haus, aber wie sieht es mit dem Platz aus? Wie geht man damit um? Welches Gewicht misst man der Sammlungspräsentation bei und wie wichtig sind Wechselausstellungen?
Gerade zeigt ihr eine sehr große Mataré-Ausstellung – ihr bespielt praktisch die gesamte Museumsfläche …
Kunde: … mit kleinen Ausnahmen, aber im Prinzip ist das richtig. Die Frage ist: Was kommt danach? Es soll ja im Anschluss an die Ausstellung – wie es vorher auch bereits der Fall war – Mataré gezeigt werden. Wir hatten dafür einen eigenen Bereich. Jetzt ist das Mataré-Konvolut angewachsen und es stellt sich die Frage: Was wird demnächst wo zu sehen sein. Da sind verschiedene Varianten möglich, über die noch entschieden werden muss. Fest steht aber: Wenn das, was wir künftig von Mataré zeigen, mehr Raum braucht, dann wird eben dieser Raum an anderer Stelle verloren gehen. Mataré ist ja nur ein kleiner Teil der Sammlung. Im Prinzip könnten wir, ohne je wieder eine Wechselausstellung zu zeigen, einfach nur unsere Sammlung präsentieren …
…was ja auch irgendwie „langweilig” wäre…
Kunde: Das würde ich so nicht sagen. Es kommt ja immer auf die Perspektive an. Ich hatte schon den Fan erwähnt, der wegen eines bestimmten Werkes ein Museum besucht: Das könnte bei uns die Sylvia von Gertsch sein. Die ist aber nicht immer zu sehen. Das ist für den Besucher, der eigens dafür anreist, eine herbe Enttäuschung. Auf der anderen Seite sind da die Menschen vor Ort, denen wir als Museum auch aktuelle Positionen zeigen möchten. Nicht nur eine Sammlung ist eine Art von Organismus – auch die Kunst entwickelt sich und es ist Teil unserer Aufgabe, auch diese Entwicklung abzubilden.
Da entsteht also ein Zwiespalt?
Kunde: Ich würde es nicht Zwiespalt nennen. Es ist eine Frage der Setzung und die hängt – siehe oben – nicht unwesentlich mit den räumlichen Verhältnissen zusammen.
Noch mal die Frage: Wie wird das in Amerika gehandhabt?
Kunde: Noch mal die Antwort: Ich habe nur einen Bruchteil gesehen, aber es ist nun einmal so, dass die großen Museen über ganz andere räumliche Ressourcen verfügen und also den Spagat zwischen Sammlungspräsentation und Wechselausstellungen leichter schaffen können.
Wie man hört, soll das Museum Kurhaus ein neues Depot bekommen. Das hat ja – siehe oben – damit zu tun, dass eine Sammlung im besten Fall immer weiter wächst. Hat der Chef denn Ideen? Ich wäre ja noch an einem kurzen Blick in die Traumwelt des Harald Kunde interessiert.
Kunde: Psychoanalyse?
Iwo. Wie sehen deine Vorstellung von einem Depot aus? Los … einfach mal ein Brainstorming …
Kunde: Natürlich habe ich Ideen. Als ich ein paar Jahre hier war, habe ich immer, wenn ich aus dem Fenster meines Büros geschaut habe, auf der anderen Straßenseite dieses kleine Tor gesehen und mich gefragt: Wohin führt das eigentlich? Irgendwann habe ich dann die – zugegeben – utopische Antwort gefunden. Da unten, dachte ich, da unten im Park – auf der anderen Straßenseite – könnte man ein Schau-Depot bauen, das dann über eine Brücke mit dem Museum verbunden würde …
Also ein bisschen so wie das Depot von Boijmans van Beuningen in Rotterdam?
Kunde: Ja – so ähnlich. Das wäre dann auch verspiegelt und würde, wenn man davor stünde den Park zeigen. Diese Vorestellung geisterte durch meinen Kopf …
Bleiben wir also in der Traumwelt.
Kunde: Besser ist das. So ein Schau-Depot ist ja im übrigen auch keine neue Idee. Es hat den enormen Vorteil, dass dort Sammlung und Präsentation Hand in Hand gehen können und im eigentlichen Haus dadurch räumliche Kapazitäten für Wechselausstellungen geschaffen werden.
Also eigentlich ideal, oder?
Kunde: Natürlich. Aber realistischerweise nicht zu realisieren. Und wir freuen uns jetzt auf das Depot, das wir bekommen werden. Da gibt es ja auch eine Menge gestalterischer Möglichkeiten. Es ist ja nicht so, dass das jemand ohne unser Zutun ein Depot hinsetzt und wir dann einziehen. Wie gesagt: Wir werden das mitgestalten und darauf freue ich mich.
Zurück nach Amerika: Da würde in einem solchen Fall eine Sponsering-Maschine anlaufen. Da würde dann richtig Geld eingesammelt …
Kunde: … Geld einsammeln tun wir hier auch. Da spielt der Freundeskreis eine enorm wichtige Rolle. Das muss erwähnt werden.
Klar – aber ich denke mal, dass der Traum von einem Schaudepot die momentanen Möglichkeiten überschreiten würde.
Kunde: Das ist richtig.
Da gibt es, denke ich, in Amerika, andere Instrumente. Das ist dann eine Mischung aus Breiten-Sponsering einerseits und – wahrscheinlich – einem Multimillionär andererseits. Der würde dann einspringen und anschließend dem Museum seinen Namen überstülpen …
Kunde: Ja. Vielleicht. Aber das wäre ja auch gerechtfertigt.
Letzte Frage: Wird es eigentlich in Kleve demnächst ein Ausstellungsprojekt geben, das von deiner Reise inspiriert ist?
Kunde: Das wird es in der Tat geben. Zunächst werde ich aber etwas darüber schreiben. Ein Ausstellungsprojekt ist ja von ungeheurer vielen Faktoren abhängig. Aber hier und jetzt schon einmal so viel: Es wird demnächst eine Schenkung geben. Darüber dann mehr, wenn es so weit ist.