Schreibkraft
Heiner Frost

Vom Sammeln – ein post scriptum

Es gibt Nachholbedarf zum Thema Sammeln? Kunde: Ich würde es Fortsetzungsbedarf nennen.

Kunde: Ich würde es Fortsetzungsbedarf nennen.

Wie auch immer. Was gibt es zu ergänzen?

Kunde: Ich hatte das Gefühl, dass wir bei dem Thema einserseits noch nicht in der Gegenwart angekommen sind und andererseits die historischen Wurzeln noch näher betrachten könnten.

Beginnen wir dann also mit der Historie.

Kunde: Die historische Entwicklung des Sammelns ist ja eine wichtige Voraussetzung für den Umstand, dass wir hier und jetzt in einem Museum sitzen. Es geht ja bei der Geschichte des Sammelns um Fragen wie: Wer hat gesammelt? Wie wurde gesammelt? Was war ab wann öffentlich zugänglich? All das sind meiner Ansicht nach äußerst spannende Fragen.

Sammlungen – das wird mir gerade klar – sind ja wirklich keine Selbstverständlichkeit und die Entstehung der ersten Sammlungen ist ja dann tatsächlich eine Art Urfunkenschlag.

Kunde: Richtig. Es lässt sich ja an Sammlungen aufzeigen, wie Gesellschaften mit kulturellen Werten umgegangen sind und umgehen. Die meisten Sammlungen sind ja von Privatmenschen initiiert worden. Aber gibt es natürlich große Namen. Darunter sind dann auch Könige und Kaiser, die allein schon aufgrund ihrer Position Möglichkeiten hatten, von denen man heute nur träumen kann.

Ein Beispiel?

Kunde: Nehmen wir Rudolf II – einen verrückten habsburgischen Kaiser, der in Prag residierte. [Rudolf II,  geboren 1552 in Wien – gestorben 1612 in Prag.] Der hat ja über der Einrichtung seiner Kunstkammern vollständig die Regierungsgeschäfte vernachlässigt.

Eigentlich doch ein Idealzustand: Kunst statt Politik …

Kunde: Irgendwie mag ich diese Vorstellung von Sammlern, die irgendwann völlig abdriften und dann nur noch in ihren Schatz- und Kunstkammern leben und denen dabei quasi die Kriege und Konflikte gänzlich abhanden kommen.

Ich gehe jetzt mal davon aus, dass man diese Aussage relativiert sehen sollte, obwohl – zu Ende gedacht – ein König, der über das Sammeln die Welt aus den Augen verliert, allemal besser zu sein scheint, als eine Welt voller Kriege, in der die Kunst keine Rolle mehr spielt.

Kunde: All diese frühen Sammlungen – man nannte sie ja auch Wunderkammern – dienten als Grundstock für Häuser wie das Kunsthistorische Museum in Wien oder den Prado in Madrid. Sie wurden dann spätestens im 19. Jahrhundert in öffentliche Sammlungen überführt. Seitdem haben wir alle etwas davon.

Wie sah es mit privaten Sammlungen aus?

Kunde: Privatsammlungen und also Privatsammler gab es quasi ab dem 19. Jahrhundert dann gewissermaßen als Parallelerscheinung. Diese Sammler waren dann Menschen, die unglaubliche Reichtümer zusammengetragen hatten. Worauf ich hinaus will: Es geht um das Schicksal von Sammlungen. Dieses Schicksal wiederum spiegelt ja dann Kriegs- und Sozialgeschichten. Es ist eben – genau besehen – gerade nicht so, dass die Sammlungen eine Realität ausklammern. Sie sind – ganz im Gegenteil – untrennbar mit den äußeren Umständen verknüpft.

Wie wär`s mit ein paar Beispielen?

Kunde: Nehmen wir die beiden russischen Sammler Iwan Abramowitsch Morosov [geboren 1871 in Moskau – gestorben 1921 in Karlsbad] und Sergej Iwanowitsch Schtschukin [geboren 1854 in Moskau – gestorben 1936 in Paris]. Beide haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr früh französische Kunst vom Allerfeinsten gesammelt. Das war zu einem Zeitpunkt, als Cezanne und Picasso gerade an den Start gingen. Ohne diese beiden verrückten Russen hätte beispielsweise auch Matisse gar keine so glänzende Karriere hingelegt. Schtschukin hat ja Matisse eingeladen, in seinen Palais‘ in Moskau und St. Petersburg große Wandgemälde zu schaffen. Themen waren der Tanz und die Musik. Matisse wurde also von Schtschukin gewissermaßen mit Großaufträgen versorgt, die Matisse zumindest finanziell unabhängig machten. Schtschukin und Morosov konnten nicht wissen, wie sich alles entwickeln würde. Aus politischer Sicht der Oktoberrevolution stand aber fest, dass derlei Sammlungen eigentlich verboten werden mussten. Stichwort: Akkumulation von bürgerlichem Eigentum. Die beiden sind dann einerseits enteignet worden – andererseits entstand dann ein gesamtsowjetisches Museum, das seinerseits erst wieder unter Stalin geschlossen wurde. Es wurde als böser, kapitalistischer Kunstbetrieb gebrandmarkt. Für mich stellt sich da die Frage: Was macht das mit solchen Leuten? Schtschukin ist dann in den 20-er Jahren nach Paris gegangen und keiner der Künstler, um die er sich vorher kümmerte, hat sich mehr um ihn gekümmert.

Schon komisch. Irgendwie wirkt es auch undankbar.

Kunde: Ja, so würde ich das auch sehen. Trotzdem: Spannende, interessante Geschichte, die zu verfolgen sich lohnt. Und dann gibt es da auch die großen Geschichten. Nehmen wir den Ölmilliardär Paul Getty [geboren 1892 in Minneapolis – gestorben 1976 in Woking],der mit seinem irrisnnig vielen Geld etwas Wunderbares gemacht hat. Er hat global Kunstschätze von erlesenster Qualität gesammelt. Die hat er dann in Los Angeles konzentriert und man kann nur hoffen, dass da noch nicht alles durch das Feuer vernichtet worden ist. [Das Interview fand am 15. Januar zur Zeit der Brände in Los Angeles statt.] Es gibt also dort in Los Angeles auf einem Hügel das große Getty-Museum. Da kann man sich tagelang aufhalten. Und dann gibt es da noch die Villa, die Getty sich nach Vorbildern einer römischen Villa hat bauen lassen. Da sind kulturelle Transferleistungen, angesichts derer man sich die Augen reibt und sagt: Das ist doch Wahnsinn, dass Menschen solche Dinge umsetzen – sich im 20. Jahrhundert eine römische Villa nachbauen lassen. Und in dieser Villa gab es dann wiederum eine Sammlung von Kunstschätzen. Wichtig für uns: Irgendwann wurde all das öffentlich zugänglich gemacht. Die Kunst tritt also aus der Unzugänglichkeit einer privaten Sammlung wieder in den öffentlichen Raum ein. Öffentliche Häuser wären ja heutzutage gar nicht in der Lage, etwas derartiges zu begründen. Sie können allenfalls eine Tradition bewahren und fortsetzen.

Gehen wir noch ein Stück weiter in die Gegenwart?

Kunde: Kein Problem. Berichten wir von französischen Großsammlern. Zu nennen wären hier Francois Pinault [geboren 1936 in Les Champs-Géraux] und Bernard Arnault [geboren 1949 in Roubaix], die ihrerseits unfassbare Imperien errichtet haben. Pinault hat drei große Häuser – zwei in Venedig (Palazzo Grassi und die Punta della Dogana – eine frühere Zollstation) – allein diese Immobilien sind schon unbezahlbar – dazu kommt dann noch die historische Börse von Paris. Das sind Standorte für seine Sammlung, die er auch in Wechselausstellungen präsentiert. Pinault hat dafür eigene Kuratoren, die sich um die historische Arbeit kümmern. Bei Bernard Arnault ist das nicht viel anders. Der hat übrigens diese fantastische Ausstellung mit den Sammlungen von Schtschukin und Morosov gemacht. Das war ganz kurz vor dem Zeitpunkt, an dem das Verhältnis zu Russland eisig wurde – das war 2019. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wäre etwas derartiges nicht mehr möglich gewesen. Diese Ausstellung war ein absoluter Glücksfall und kein Mensch weiß, was Arnault an Putin oder wen auch immer sonst gezahlt hat, damit all diese Bilder nach Paris kamen. All diese Geschichten zeigen, dass man Kunst aus höchst unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann. Da gibt es die Perspektive des Künstlers. Die Kunstwerke beginnen aber spätestens, wenn sie das Atelier des Künstlers verlassen, ein Eigenleben – vielleicht dann in Sammlungen, die wieder eine neue Wahrnehmungsschicht addieren.

Ich höre die ganze Zeit zu und bin einerseits fasziniert von diesen Geschichten und kämpfe gleichzeitig mit einem Widerwillen gegen etwas – ich nenne es mal etwas Elitäres –, das mir Schwierigkeit macht. Wir reden da von Menschen, die mit ihrem Geld nicht mehr wissen wohin und dann sagen: Ich sammle jetzt. Das ist natürlich eine fast unzulässige Verkürzung, aber ich habe neulich Ridley Scotts Film „Alles Geld der Welt” gesehen, bei dem es um die Entführung von Gettys Enkel ging. Getty, der Sammler von Schönem, der Erbauer der Kopie einer römischen Villa war einer, der das Lösegeld nicht zahlen wollte und dann einen Weg fand, es von der Steuer abzusetzen; Getty, der mit seinem Enkel Bittbriefe las von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren. Ich erinnere mich an einen dieser Briefe, in dem ein Mann um Geld für die Operation seines Kindes bat. Gettys Antwort – frei übersetzt: Würde ich Ihnen das Geld geben, wäre ich bald auch ein armer Schlucker wie sie. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie viel davon Drehbuchwirklichkeit ist, aber es legt sich in meiner Wahrnehmung irgendwie ein Schatten auf diesen Mann.

Kunde: Der Begriff des Elitären ist für mich nicht negativ besetzt. Es bedeutet ja zunächst einmal: Da hat jemand mehr Geld als andere – wodurch auch immer.

Ich denke, ‚elitär‘ ist tatsächlich nicht das richtige Wort ist. Vielleicht sollte ‚zynisch‘ sagen oder – noch besser: dekadent.

Kunde: Natürlich ist zu hinterfragen: Woher kommt das Geld? Wenn das Geld einmal vorhanden ist, kann der Besitzer es ja so oder anders ausgeben – da findet ja eine Entscheidung statt. Unsere Großmilliardäre von heute – nehmen wir mal Elon Musk – … von dem weiß ich nicht, ob er irgendwas sammelt. Waffen vielleicht. Es gibt da eine kulturstiftende Schicht. Es werden Entscheidungen getroffen, Kapital in Kunstwerke zu investieren und eben nicht in Waffen oder Drogenhandel. Das Sammeln ist für mich per se eine nobilitierende Tätigkeit …

Das war jetzt auch nicht als Generalangriff auf Sammler gedacht, aber ich habe trotzdem immer diesen Superreichtum im Kopf. Da heißt es dann oft: Wenn jemand so viel Geld hat, wird er es wohl auch verdient haben. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wenn jemand in Armut lebt, hat er es eben nicht besser verdient. Da wären wir dann beim Zynismus. Eben da taucht also eine Schuldfrage auf. Reicht es aus, dass einer irgendwann sagt: „Seht her, ich habe tolle Kunst für euch gesammelt.” Andererseits führt ein solcher Gedanke schnell zum Culture Cancelling nach dem Motto: Ist das Bild eines Mörders weniger wert als das eines Priesters? Letztlich sollte es ja um das Bild gehen und nicht um den Autor, oder? Vielleicht muss man auch über Sammler so denken, aber ich merke, dass mir dieser Gedanke Schwierigkeiten bereitet. Geht es also auch um die mögliche Schuld der Sammler oder geht es nur um das Was und nicht um das Wie des Sammelns? Wenn man das zu Ende denkt, müsste man vielleicht die Malereien in der Sixtinischen Kapelle übermalen.

Kunde: Das ist natürlich ein äußerst komplexes Thema. Mich interessiert die Frage, ob sich jemand von einer ursprünglich gewinnorientierten Sicht löst und sich im besten Sinn in Schönheit verliert, ob er Feuer fängt; da geht es dann darum, mit dieser Schönheit der Kunst leben zu wollen. Es geht um die Offenheit – um das Aushalten dessen, was Kunst mit uns macht. Da sagt dann einer: „Es ist mir nicht egal, ob dieses Bild irgendwo hängt oder bei mir zuhause.” Das ist – natürlich – ein großer Unterschied. Man kann, je länger man mit Kunst lebt, immer wieder neue Dinge entdecken. Man kann die Kunst als Lebensbegleiter erleben.

Das Gefühl kenne ich nur allzu gut. Es ist – wenn man Kunst zuhause hat – immer wieder schön, sich mit den Werken in Dialog zu setzen. Da entstehen immer neue Unterhaltungen fernab der Eintönigkeit. Man baut eine Beziehung auf und aus. Ich habe immer große Schwierigkeiten, Bilder im Haus durch andere zu ersetzen. Damit beende ich ja quasi eine Beziehung. Andererseits gibt es viele Bilder, die auf das Gesehen-Werden warten. Es gibt ja die Ansicht, dass nicht der Sammler sich das Bild aussucht, sondern dass sich jedes Bild auf die Suche nach einem Zuhause macht. Das mag pathetisch klingen, aber ich denke, da ist was dran. Ich komme aber noch mal auf den ersten Teil unseres Gespräches zurück. Da hast du gesagt, dass es Sammler gibt und Anleger. Ich denke, das ist eine wichtige Unterscheidung. Heute wird von vielen Reichen Kunst als Aktie gesehen. Es geht dann nicht mehr darum, mit einem Kunstwerk zu leben. Schlimmstenfalls lagern die Kunstwerke in zollfreien Depots, wo sie einfach nicht mehr gesehen werden und also dem Dunstkreis öffentlicher Wahrnehmung entzogen werden. Das ist dann meiner Ansicht nach die Perversion der Idee des Sammelns. Es geht nur noch um Anhäufung von Werten, aber diese Werte sind Zahlen auf Konten.

Kunde: Das stimmt leider und ist natürlich ein Auswuchs des Kapitalismus in Reinkultur. Diese Lagerstätten existieren ja mittlerweile zu Tausenden. Da lagern unglaublich viele Kunstwerke, die aber von niemandem gesehen werden können. Das sind dann die sogenannten Wandaktien.

Wenn sie denn wenigstens das wären – ich meine: Wenn sie denn wenigstens sichtbar an Wänden hingen. Aber genau das ist ja nicht der Fall. Kunst als Aktie im Unsichtbaren.

Kunde: Der feinsinnige Sammler will sich ja mit den Dingen umgeben und möchte, dass auch andere, die ihn besuchen, diese Dinge sehen können …

und bestaunen.

Kunde: Das sicherlich auch, aber daran ist ja nichts Anrüchiges. Das Zeigen der eigenen Sammlung verbindet sich auch mit der Aufwertung der eigenen Person.

Auch hier noch mal ein Rückgriff auf den ersten Teil. Da sprachen wir über die Sammlung Lauffs-Wegner, die wir ja zusammen besucht haben. Die Sammlerin hat uns und den anderen Gästen ja nicht einfach Kunst gezeigt. Da ging es auch um die Geschichten, die mit den einzelnen Werken verbunden sind. Da entstand dann ein ganz eigener Kosmos.

Ich denke, das ist es, was du vorhin meintest, als es darum ging, dass eine Sammlung die Kunst in einen zusätzlichen Wahrnehmungszusammenhang einbettet. Es wurde bei dieser Führung sehr deutlich, wie viel Engagement und Wissen im Idealfall die Basis einer guten Sammlung ist. Es müssen ja – auch da bin ich wieder beim ersten Teil – viele Dinge zusammenkommen. Geld allein ist keine Basis. Geschmack allein reicht für den Erwerb von Kunst auch nicht aus.

Kunde: Dann kommt der schöne Satz zum Einsatz: Meinen Geschmack kann ich mir leider nicht leisten. Andrea Lauffs-Wegner ist eines dieser guten Beispiele, aber ich könnte an dieser Stelle auch die Sammlung Viehof erwähnen. Viehof ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie Sammler gesellschaftlich orientiert mit ihrer Sammlung umgehen. Im Fall Viehof wurde ganz bewusst die Entscheidung getroffen, kein eigenes Museum zu bauen wie das bei vielen anderen Sammlern der Fall ist. Hier war der Gedanke: Es gibt doch genügend öffentliche Häuser, die über die erforderliche Infrastruktur und entsprechende Kenntnisse verfügen. Wir möchten also mit ausgewählten Häusern eng zusammenarbeiten, indem wir unsere Sammlung für bestimmte Projekte unentgeltlich zur Verfügung stellen – abgesehen natürlich von anfallenden Transport- und Versicherungskosten. Keine Leihgebühren – sehr direkter Zugang zu allem, was da digital erfasst ist. Jedes Haus weiß also um die Bestände und kann sich dann entscheiden, was gezeigt werden soll. Wir als Museum haben mit diesem Modell sehr gute Erfahrungen gemacht. Da findet also ein Abrücken vom Eigentumsdenken statt –es geht nicht um den Gedanken: Das ist meins und niemand sonst darf es haben. Die Dinge werden freigegeben und verbleiben trotzdem im Besitz des Sammlers.

Wir haben ja kürzlich im Wallraf-Richartz-Museum die Ausstellung über das Ausstellen besucht. Wie hast du das erlebt? Ich fand es unglaublich interessant und spannend.

Kunde: Ich war eine zeitlang total fasziniert von solch manieristischen Spätrenaissance-Wunderkammern. Da haben Fürsten alles, was irgendwie wertvoll war, zusammen_´getragen. Es gab Naturalien, es gab Kunst und es gab auch Kuriositäten wie Walrosszähne und dergleichen. Das hatte ja mit einem wissenschaftlichen Museumsbegriff noch gar nichts zu tun, aber diese Wunderkammern waren Orte des Staunens über die Vielfältigkeit der Schöpfung und die Schönheit der Materialien. Das Staunen ist immer das Zündfeuer für den Sammlungsimpuls. Später wird es dann systematisiert: Da werden dann Einteilungen – beispielsweise nach Regionen oder Materialen oder Epochen – vorgenommen. Das ist die eine Seite …

…und was passiert auf der anderen?

Kunde: Da konstatieren wir dann den Verlust des anfänglichen Zaubers. Am Anfang das geradezu kindliche Verlangen nach dem Erbeuten von Trophäen – später dann eine Systematisierung.

Heute sind Museen meist hochspezialisierte Herbergen für genau definierte Dinge. Kunstmuseen konzentrieren sich gegebenenfalls auf Epochen oder gar Künstler. Glaubst du, dass man heute eine Chance hätte, wenn man etwas wie eine Wunderkammer anböte?

Kunde: Es gibt ja Sammler wie zum Beispiel Thomas Olbricht [deutscher Sammler – geboren 1948 in Wernesgrün], der genau diesen Wunderkammergedanken verfolgt und ihn ganz bewusst ins Zentrum seines Sammelns stellt. Olbricht hat immer versucht, nicht so systematisch wie Museen zu sammeln, sondern hat es auf erlesene Kuriositäten abgesehen. Die zeigt er und hat sich in Berlin in der Auguststraße ein opulentes Haus bauen lassen, in dem dann solche Ausstellungen stattfinden. Sein Thema ist hoch und groß zwischen Leben und Tod aufgespannt. Er hat besipielsweise faszinierende kleine „Tödlein” oder Skelette aus dem süddeutschen Raum im 16. und 17. Jahrhundert gesammelt – dazu anatomische Modelle … alles Dinge, die nicht unbedingt im engeren Sinne zur Kunst gehören, die aber ein Staunen evozieren und die etwas von der Vielfältigkeit der Erscheinungen transportieren, die einem wohlgeordneten Museum dieser Tage eher nicht zu finden sind. Auch dafür gibt es natürlich entsprechende Kunsthändler wie zum Beispiel Georg Laue in München. Er gehört zu den Bekanntesten und bietet ganze Kunstkammern an. Das kann man auf der „tefaf” in Maastricht sehr gut sehen. [Die tefaf wirbt im Internet mit Sätzen wie diesem: „Discover 7.000 years of art from ancient to contemporary.”] Es gibt am Ende nur sehr wenige Menschen, die so etwas erwerben können. Es gibt also auch heute noch Kunstkammern voller edelster Dinge. Du gehst zu einer solche Messe und hast das Gefühl, es hätte nie Kriege und Verheerungen gegeben. Alles scheint erhalten. Du siehst dich einer kulturellen Blütenlese all dessen, was übrig geblieben ist, gegenüber.

Kommen wir zum Schlussgedanken …

Kunde: Der Abschluss kann natürlich nur das Museum Kurhaus Kleve sein – ganz logisch –, weil hier ja auch der schöne Umstand zu beobachten ist, dass es verschiedene Sammlungsschichten gibt. Wir sind kein Mittelalter-Museum – wir sind aber auch kein Beuys-Museum oder nur für die Gegenwartskunst zuständig. Hier treffen sich verschiedene Sammlungsschichten, die sich bestenfalls gegenseitig inspirieren und die immer auch von der Verbindung zwischen lokaler und internationaler Kunstgeschichte erzählen. Darin – finde ich – gründet sich neben der Architektur und der Anbindung an die historischen Parkanlagen ein ganz großer Zauber dieses Hauses. Unsere Sammlung lebt diese lebendigen Fäden aus. Man kann sie verfolgen oder auch nicht. Verfolgt man die Sammlungsfäden, entstehen Zeitbrücken. Und man trifft auf gegenwärtige Fragenstellungen: Wie ist mit dem Werk und Nachlass von Johann Moritz umzugehen? Und dann sind da noch all die wunderbaren spätgotischen Skulpturen: Die verbringen ja das Kunststück, zum Teil grässlichste Leidengeschichten der Märtyrer darzustellen und wir empfinden es trotzdem als wunderschön. Wir spüren nicht die Pfeile des heiligen Sebastian – wir sehen aber eine Skulptur, die uns anspricht. Wie kann das gehen? Das ist eine magische Transformationsleistung, die nur die Kunst vollbringen kann. Nur die Kunst vermag es, Schmerz in Schönheit zu verwandeln. Mehr kann man nicht verlangen.