Schreibkraft
Heiner Frost

… nach Lukas

Fehlt eine, fehlen alle

Fehlt eine, fehlen alle Die Krippe ist rustikal. Aufgebaut hat sie ein Mohammedaner. Das Personal arbeitet in kleiner Besetzung. Josef, Maria, das Baby, zwei Schafe.

Der Tannenbaum ist groß gewachsen und reicht mit seinen wohl vier Metern bis unter die Decke. An der Stirnwand das Kreuz mit dem Plus und dem Minus. Der Altartisch ist vom Podium auf Höhe der ersten Stuhlreihe umgezogen. Auf der Empore haben sie das Schlagzeug aufgebaut. Und die Verstärker. Die Band probt. Es ist 8.50 Uhr. Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen. Noch. Um 8.58 Uhr haucht der Tannenbaum seine Seele aus. Eine der Kerzen explodiert. Ersatz ist nicht da. Der Fluch der Reihenschaltung: Fehlt eine, fehlen alle. Die Erleuchtung muss von innen kommen.

Fünfzig

Um neun soll der Gottesdienst beginnen. Heilig Abend findet im Knast morgens statt. Das Christuskind – ein Frühchen. Der Pastor kommt einen Tick zu spät. Wenn er da ist, geht das Signal an die Stationsbeamten. Jetzt werden die Häftlinge aus den Zellen geholt, die sich zum Gottesdienst angemeldet haben. Der Pastor begrüßt jeden am Eingang zur Kapelle mit Handschlag.
Der Aufmarsch der Kirchgänger. Manche klatschen sich ab. Im Knast sieht man sich selten. In der Anstaltskirche ist es wie im wirklichen Leben: Die letzten Reihen sind zuerst gefüllt. Die Parallele zur Wirklichkeit: Am Heiligen Abend wird es auch hier voll.
Da sitzen sie. Knapp fünfzig Kirchgänger. Die Zahl ist Programm. Rund Fünfzig Nationen sind vertreten. Einige werden den Pastor nicht verstehen. Egal. Die Band serviert das erste Stück: ‘Knocking on heavens door’. Lautstärke im unteren Bereich. Nichts fetzt – alles fließt. Der Sänger wianert und ist Atheist aus Überzeugung. Österreich meets Rock ’n Roll. Ob die Stimmung besonders ist, lässt sich nicht ausmachen. Man muss es ahnen. „Hier wird sich keiner was anmerken lassen“, sagt Jens. Er kennt sich aus. Für ihn ist es der dritte heilige Abend hinter Gittern. „Für mich hatte das auch draußen nie eine Bedeutung“, sagt er.

Bloß nicht weich werden

Heilig Abend im Knast – das ist so etwas wie das höchstmögliche Konzentrat an Einsamkeit. Einige haben übers Fest ‘Urlaub’. Sie stehen am Eingang und warten auf Verwandte, die sie abholen. Für alle anderen heißt es: Bloß nicht weich werden.
Der Pastor vermeidet Sentimentalitäten. Und trotzdem: Es liegt was in der Luft, als der Gottesdienst beginnt. Wenn Heilig Abend von Lukas die Rede ist, meint niemand den Lokomotivführer. Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt werde …
Die Weihnachtsbotschaft ist eine andere hier. Nach der Kirche geht keiner zum Festschmaus. Es wird keine Geschenke geben. Kein Telefonat mit den Lieben daheim. Kein Küsschen von Frau, Freundin, Mutter. Keine leuchtenden Kinderaugen. Stattdessen: Fernsehen in der Einzelzelle. Zeit totschlagen oder früh ins Bett.
Natürlich: Sie sind alle nicht grundlos hier. Den Kurzen haben sie mit sechs Kilo Gras erwischt. Gerade eben war der Prozess. Neun Jahre. Das ist ein kleiner Tod. Auch Josef zog von Galiläa aus der Stadt Nazareth … Der Wiener: Er wollte nur mal eben Koks holen. Wien Holland, Holland Wien. An der Grenze haben sie ihn erwischt. Rückreiseverzögerung. Fünf Jahre, acht Monate. Im Mai werden sie ihn abschieben. Mit der Religion hat er keinen Vertrag. Aber wenn die Band spielt, macht er mit: Gesang und Bass. Später, als sie ‘Little Wing’ spielen, wird klar: Hendrix woa a Wianer. Der Kurze an der Gitarre. Er hat den Blues, und er spielt ihn auch. In derselben Gegend waren Hirten auf freiem Felde und hielten Nachtwache bei ihrer Herde … Das freie Feld – hier und heute jedenfalls ist es nicht. Die Weihnachtsgeschichte trifft auf eine Stille der besonderen Art. Oder möchte man sich das nur einbilden?

Vermessen

Die Weihnachtspredigt: Der Pastor spricht von einer Karrikatur des Festes. Er hat in der Zeitung gelesen, dass in den nächsten Jahren Milliarden Dollar aufgewendet werden sollen, um die Menschheit biometrisch zu vermessen. Alle gingen hin, sich eintragen zu lassen. Ein jeglicher in seine Stadt … „Sie wollen uns die Einzigartigkeit nehmen“, sagt der Pastor. Vielen hier ist sie längst genommen. Ihre Fingerabdrücke sind erfasst. Als sie ‘einfuhren’, hat man sie fotografiert.
Ralf, der sich von einer Freundin verraten fühlte, sie abends abholte, mit ihr in den Puff fuhr, um ihr mal zu zeigen, wie scheiße ein Leben laufen kann. Dann zurück nach Hause. Er trägt sie auf den Balkon und hält sie über die Brüstung. „So ist das, wenn dich jemand fallen lässt“, sagt er und graviert den Schrecken in ihre Seele.
Manni: Mit Koks gedealt, weil die Freundin Krebs hat und die Medikamente teuer sind. Sechs Jahre, acht Monate. Draußen hat Carola ihr Sterben begonnen. Nur ein Versprechen hält sie noch am Leben. „Sobald ich hier raus bin“, hat Manni ihr versprochen, „sobald ich hier raus bin, werde ich dich heiraten.“ Jetzt schiebt er die Regler am Mischpult. Nachmittags wird es Kino geben. Manni gehört auch zur Kinogruppe. Er wird den ganzen Tag über zu tun haben. Einsamkeit ist für die anderen. Der Engel aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch eine große Freude … Der Pastor hat die Predigt beendet. Zu den Fürbitten sollen alle aufstehen. Sie tun es. Dann, am Ende, das Gebet, „das der Herr uns zu beten gelehrt hat“. Der Chor der Gefangenen ist spärlich. Von den Fünfzig, die hier sind sprechen vielleicht vier oder fünf mit. Die Band holt ein letztes Mal zur Musik aus: Wonderwall. Irgendwo jenseits der Mauern gibt es für fast jeden von ihnen eine Heimat. Weihnachten ist der GaU. Ein größter anzunehmender Unfall auf der seelischen Ebene. Anmerken lässt sich hier keiner was. „Du darfst nicht als Weichei rüberkommen“, sagt Konni.
In der Anstaltskapelle haben sie damals nach der Renovierung einen Altartisch aufgestellt. Früher war das ein Überseekoffer. Seitlich im Koffer: ein Schlitz. Ein Briefkasten. Was hier eingeworfen wird, ist Post für Gott. Lesen wird die Briefe niemand. Der Koffer ist fest verschlossen, und er wird es bleiben. Hier landen Briefe, die keine Marke brauchen und keinen Stempel. Für die einen Gottes Postfach – für die anderen vielleicht ein Symbol der Möglichkeit, umgeben von Überwachung. Im Innern einer dunklen Kiste frei zu sein. Unberührbar. In Schmerz und Freude. Der Pastor verabschiedet die Gefangenen mit Handschlag. Ein paar haben sich stumm verdrückt. „Nimm das Elend mit auf die Zelle. Geh nicht anderen damit auf den Senkel“, sagt einer. Die Band trinkt nach dem Gottesdienst noch einen Kaffee in der Bücherei. Zusammen mit dem Pastor. Weihnachten – das ist im Kopf. Besser, du denkst nicht dran.