Schreibkraft
Heiner Frost

Kleinigkeit

15 Euro – du lieber Himmel. Ein Angeklagter sagt: „Wenn ich mir was zuschulden kommen lasse, steh ich auch dafür gerade, aber das hier …“

OWi

Mit „das hier“ ist eine Ordnungswidrigkeit (OWigemeint. Da fährt einer in der verkehrsberuhigten Zone „so circa“ 20 Stundenkilometer. Sagt wer? Sagt ein Polizeibeamter. Acht Jahre Diensterfahrung. Hat er‘s gelasert? Nein. Dass einer mehr als Schrittgeschwindigkeit fährt, dafür muss nicht gelasert werden. Das schafft er auch so, selbst wenn er gleichzeitig mit einem weiteren Verkehrsteilnehmer ein didaktisches Gespräch führt. Herr R. sieht es anders. Er war nicht zu schnell. Keineswegs. Er hat sich vorschriftsmäßig verhalten und – demzufolge – nicht gezahlt. Einspruch eingelegt. Anwalt genommen. Der Rechtsschutz macht‘s möglich.

Schrittgeschwindigkeit

„Bußgeldbescheid wegen nicht angenommener Verwarnung. Sie haben am … 2024 […] als Führer des PKW … folgende Ordnungswidrigkeit begangen: Sie hielten als Fahrzeugführer in einem verkehrsberuhigten Bereich die Schrittgeschwindigkeit nicht ein. Wegen dieser Ordnungswidrigkeit wird gegen Sie eine Geldbuße in Höhe von 15 Euro festgesetzt.“

Wir werden ja sehen

Herr R. war nicht zu schnell. Er wird nicht zahlen, sagt er dem Beamten und nötigenfalls klagen. „Wir werden ja sehen, wem vor Gericht geglaubt wird“ – das oder Ähnliches soll der Beamte geäußert haben. Jetzt also sitzt Herr R. nebst Anwalt beim Amtsrichter und fragt sich, wie wegen 15 Euro ein solcher Aufwand betrieben werden kann: Ein Richter muss richten, ein Anwalt verteidigen, der Beamte muss erscheinen. Man will ja gar nicht wissen, was all das kostet. Oder eben doch. Für einen solchen Aufwand ist Zeit – da darf man sich doch über nichts wundern …

Vier bis sechs

„In welchem Gang sind Sie gefahren?“, möchte der Richter wissen. „Im ersten.“ „Wenn Sie im ersten Gang ohne Gas zu geben rollen – wie schnell ist dann der Wagen?“ Herr R. kann das so genau nicht sagen. Er nutzt den Wagen nur alle naslang. „Vielleicht vier bis sechs Stundenkilometer.“ Der Beamte jedenfalls, da sind R. und sein Anwalt sicher, dürfte Schwierigkeiten haben, einerseits ein didaktisches Gespräch mit einem anderen Verkehrsteilnehmer zu führen und andererseits – also gleichzeitig – eine Geschwindigkeitsschätzung durchzuführen.

Verkehrsdidaktische Gespräche

Der Beamte sieht es anders. Erstens hat er Erfahrung (acht Jahre Polizei), zweitens hat er während seiner Geschwindigkeitesschätzung das verkehrsdidaktische Gespräch unterbrochen und drittens ist er sicher: „Der Herr R. war zu schnell unterwegs. Ich fahre Fahrrad. Da bin ich meist mit circa 20 Stundenkilometern unterwegs. Ich habe ein gutes Gefühl für Geschwindigkeit.“ Er will gar nicht übertreiben, aber irgendwas um die 20 – das war die Geschwindigkeit, die er für R. geschätzt hat. Ende der Beweisaufnahme.

Multitasking

Die Zeit der Verteidigung ist angebrochen. Ein Plädoyer für die Galerie – ein paar Zuschauer sind anwesend – und den Mandanten. Das Multitasking. Und dann die Schätzung. Wenn es um Geschwindigkeitsmessungen geht, gelten strenge Regelungen. Geeichtes Messgerät, geprüfte Bediener, Toleranzabzug – man kennt das. „Und hier schätzt einer mal eben die Geschwindigkeit?“ Das kann ja wohl nicht sein. Überhaupt: Alles in allem ist das alles hier völlig unangemessen. Bei Beleidigungen werden Prozesse reihenweise gar nicht erst geführt. Jetzt und hier geht es um 15 Euro und eine Geschwindigkeitsübertretung, die noch dazu auf einer Einschätzung beruht. Also bitte. Der Beamte hat die Geräuschentwicklung beim Anfahren aus dem Stand wohl als Beschleunigungsgeräusch missdeutet. Nicht nur die Polizei – auch die Bußgeldstelle hat doch wichtigere Aufgaben zu erledigen als die Aufklärung der Beeinträchtigung von Wahrnehmungen durch die Konzentration auf didaktische Gespräche. „Gerade deshalb hat der Gesetzgeber im Ordnungswidrigkeitsrecht den Opportunitätsgrundsatz nominiert. Die Behörde sollte sich dieses Instruments zum wirtschaftlichen Umgang mit staatlichen Mitteln und zu Verwirklichung der Verhältnismäßigkeit aber auch bedienen.“ Und schließlich: Wo, bitte, ist die Staatsanwaltschaft? Kein Vertreter ist anwesend. Das Verfahren also doch eigentlich nichtig … „Herr R., Sie haben das letzte Wort.“ Herr R. schließt sich den Ausführungen seines Verteidigers an. Danke.

15 Euro

Fünf Minuten später verkündet der Vorsitzende, dass Herr R. die 15 Euro zahlen muss. Na-tür-lich lässt sich ohne Messung einschätzen, dass einer mit mehr als der Schrittgeschwindigkeit unterwegs ist. „Man kann sehr wohl beurteilen, ob man neben einem Fahrzeug herlaufen oder aber nebenherjoggen müsste.“ Und dass wegen Beleidigungen keine Prozesse geführt werden würden – ein Irrtum seitens der Verteidigung. Natürlich gäbe es da eine Möglichkeit der Beschwerde, aber der Vorsitzende sieht das als relativ aussichtslos an. Herr R. ist entrüstet. Dem Polizisten wurde geglaubt. Typisch irgendwie. R. ist zum Opfer einer einseitig urteilenden Macht geworden. So sieht er es. Ein Skandal eigentlich. Man denkt an einen Satz von Hanna Arendt: „Bürokratie ist das Niemandsland der Demokratie.“

Wie einer sich fühlt

15 Euro – du lieber Himmel, denkt man wieder. Aber letztlich geht es hier ja nicht ums Geld. Es geht darum, wie einer sich fühlt, wenn er bestraft wird ohne sich schuldig zu fühlen. Es geht darum, dass einer sich im Recht glaubte. Ob er es war oder nicht, wird sich kaum feststellen lassen. Vielleicht, denkt man, geht es ums Kommunizieren – darum, dass der Ton die Musik macht.

Ein Leerstand

Es geht um den Leerstand zwischen Gesetz und Gefühl. Herr R. ist kein Rowdy. Er wird mit angemessener Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein. Aber der Straßenverkehrsordnung geht es um Klarheiten. Verkehrsberuhigt bedeutet: Schrittgeschwindigkeit – auch morgens um vier.
Zwei Menschen glauben sich im Recht. Ja – man kann durchaus einschätzen, ob ein Fahrzeug mit Schrittgeschwindigkeit oder schneller unterwegs ist. Da ist der Beamte. Er beobachtet eine Ordnungswidrigkeit. Und da ist Herr R. – er war (vielleicht) nicht vorschriftsmäßig unterwegs, aber – aus seiner Sicht – situationsangemessen.

Reibungsflächen

Zwei Welten stoßen aneinander: Reibung entsteht.
Was, denkt man. wäre denn gewesen, wenn sich am Tag X. zwei Männer auf Augenhöhe unterhalten hätten? „Herr R., ich hatte den Eindruck, sie waren schneller unterwegs als erlaubt.“ „Ich dachte eigentlich, ich wäre im Limit gewesen.“ „Vielleicht achten Sie beim nächsten Mal bewusster auf die Geschwindigkeit. Ich bin nicht da, um sie zu belehren. Ich wünsche weiterhin gute Fahrt.“

Herr R. und der Beamte: Zwei Gleichberechtigte, die an der Sicherheit der anderen interessiert sind: Das wäre die Lösung. Es geht am Ende nicht um 15 Euro. Es geht um Einsicht auf beiden Seiten. Vielleicht war Herr R. mit angemessener Geschwindigkeit unterwegs. Vielleicht war er einen Tick zu schnell. Schrittgeschwindigkeit ist etwas, das die wenigsten einhalten.

Verkehrsberuhigte Zone

In einer verkehrsberuhigten Zone sind Fußgänger und Fahrzeuge gleichberechtigt. Fußgänger, egal ob klein oder groß, müssen nicht am Fahrbahnrand gehen, sondern dürfen die gesamte Straße nutzen. Wenn nötig, müssen Fahrzeuge warten. Kinder dürfen hier spielen, allerdings dürfen Fußgänger ihrerseits den Fahrverkehr nicht behindern. Fußgänger müssen zur Seite gehen, wenn ein Fahrzeug vorbeifahren möchte. Die Straße darf nicht blockiert werden, etwa durch große Gegenstände, Spielzeug oder Ähnliches. Motorisierte Fahrzeuge und Fahrräder müssen allerdings besondere Rücksicht auf Fußgänger nehmen und dürfen maximal Schrittgeschwindigkeit fahren. In der Rechtsprechung werden teilweise 7 km/h und teilweise 10 km/h als Schrittgeschwindigkeit angenommen. [Quelle: ADAC]