Schreibkraft
Heiner Frost

Endspur – Besuche im Hospiz: Reportagepreis für Heiner Frost

Am 3. April wurde „Endspur – Besuche im Hospiz” im Rahmen des ‚Durchblick‘-Preises des BVDA in der Kategorie ‚Beste journalistische Leistung‘ mit einem dritten Preis ausgezeichnet. In der Begründung der Jury heißt es dazu unter anderem:

David Schraven (CEO CORRECTIV): „Eine emotional dichte Berichterstattung über einen der wenigen tabuisierten Lebensaspekten, der alle betrifft, über den aber nicht geredet wird. Der Autor erreicht damit vor allem die Realität vieler älterer Leser und gibt ihnen neue Einblicke und Orientierungen.“

Roman Portack (Geschäftsführer, Deutscher Presserat): „Die Niederrhein Nachrichten greifen mit großem Mut und viel Herz ein erschütterndes Thema auf: den Abschied einer Hospizpatientin. Das kostenlose Wochenblatt zeigt mit den Beiträgen, wie denn seine Berichterstattung dem Leben der Menschen vor Ort ist und wie sich auch schwere Themen in dem Format abbilden lassen.“

Endspur – Besuche im Hospiz

Last Christmas

Horst lächelt. Es ist ein offenes Lächeln – eines voll von Interesse für das Gegenüber. Und ich sitze da – am Rande der Sprachlosigkeit. Irgendwie eingehüllt in die Angst vor einer falschen Frage. „Es gibt nur einen Fehler“, sagt Horst: „Gar nicht fragen.“

Weihnachtswunder

Horst genießt sein Weihnachtswunder: Er lebt. Noch. Horst ist zum zweiten Mal an Leukämie erkrankt. Das erste Mal – es war vor 26 Jahren – hat er die Herausforderung gemeistert. Dieses Mal wird ‚die Sache‘ ein schlechtes Ende nehmen. Ich besuche Horst im Hospiz. Da sitzt er mit seiner Hoffnung: „Weihnachten zuhause“, heißt das Ziel. „Zuerst wollte ich das nicht“, sagt er. „Ich wollte nichts machen mit dem Gefühl: Es ist das letzte Mal.“ Weihnachten im Hospiz – ich spüre das hier – ist kein Widerspruch. Ja – das hier ist ein Ort des Abschiednehmens von der Welt, aber: Es ist kein dunkler Ort. Weihnachten, denke ich, ist für viele ein gigantischer Einsamkeitsverstärker. Dass es genau hier anders ist, würde man nicht erwartet haben. Aber es ist so.

Der Zügelhalter

Horst ist 62. Kein Alter eigentlich. Horst war früher Messdiener. „Spielt der Glaube eine Rolle für die letzte Reise?“ „Zwischendurch war es anders im Leben“, sagt Horst, „aber jetzt ist der Glaube zurück: ein Anker. Ein Halt. Manchmal bete ich. Und dass es mir – gegen alle Erwartungen – momentan den Umständen entsprechend gut geht, kann ja bedeuten: Da gibt es einen, der die Zügel in der Hand hält“. Die Nächte seien das Schlimmste, sagt Horst. Die Hilfe: eine Tablette zum Ein- und Durchschlafen.

Töne treffen

Während Horst und ich uns unterhalten, kommt einer der insgesamt vier Palliativärzte. „Horst, du müsstest jetzt mal kurz unterbrechen. Ich müsste dich mal piksen.“ Dann fügt er mit einem Lächeln hinzu: „Ich muss ja auch meinen Spaß haben.“ Horst ist einer, mit dem man so reden kann. Horst lacht. Menschlichkeit, denke ich, hat immer auch damit zu tun, richtige Töne zu treffen – Töne, die abgestimmt sind auf ihre Empfänger; Töne, die Mitdenken signalisieren und Mitfühlen. Mitfühlen ja. Mitleiden nein.

Ergebnisse

Horst ist dem Tod schon öfter von der Schippe gesprungen: Leukämie, Herzinfarkt. Es sieht so aus, als wird ihm das Entkommen diesmal nicht gelingen. Wie geht man damit um? Horst spricht von Zerrissenheit. Er wartet er auf die Ergebnisse der letzten Blutuntersuchung. Der ganze Tag besteht aus dem Warten auf das Ergebnis. Horst spricht davon, dass er guten Nachrichten nicht trauen mag und sagt auch: „Vielleicht ist das eine deutsche Eigenschaft.“

Aufgehoben

„Ich wollte zuerst nicht ins Hospiz“, sagt Horst. Es ging ihm wie vielen anderen – auch Nichtkranken: Da war diese Vorstellung von einem traurigdunklen Ort. „Das Gegenteil ist der Fall.“ Da sitzt einer, der sich – angesichts dessen, was Sache ist – wohlfühlt: aufgehoben.
„Es geht ja, wenn du krank bist, nicht allein um die medizinische Versorgung. Es geht immer auch ums Zwischenmenschliche. Und das ist hier phänomenal.“ Wer an dem Punkt ist, an dem Horst sich befindet, muss nichts mehr schön reden. Für die zwölf Gäste des Hauses ist ihr Weihnachtsfest ein „Last Christmas“.

Zeit als Geschenk

Katrin Nienhaus-Wächter ist im Hospiz für die Sozialbetreuung zuständig. Eigentlich ist das fast schon eine Falschaussage, denn alle hier sind auch Sozialbetreuer – für die Gäste, für die Angehörigen, für alle anderen. Nienhaus-Wächter ist nicht in die Pflege eingebunden und hat also – mehr noch als die anderen – Zeit für die Gäste. „In der Weihnachtszeit bekommen wir Besuch von Chören und es finden kleine Konzerte statt.“

Last Christmas

„Wir haben einen Gast, der über 90 Jahre alt ist. Als es darum ging, welches Lied er sich wünscht, sagte er, dass er gern ‚Last Christmas‘ hören würde. Wir dachten alle: Das Stück von Wham kann der nicht meinen. Das wird der nicht kennen.“ So kann man sich täuschen. „Der Gast“, erzählt Nienhaus-Wächter, „war früher oft in Amerika. Der kannte das Stück. Und als der Chor es anstimmte, sang er alles textsicher mit.“

Normal

Im Haus: eine irgendwie entspannte Atmosphäre. Marlene Loth-Lohmann, die Einrichtungsleiterin, legt Wert auf eben diese Entspanntheit. „Natürlich verändert das Wissen um den Ort das Denken, aber genau deswegen ist Normalität ein wichtiger Bestandteil.“ Normalität hat nichts mit Verdrängung zu tun, sondern damit, den Gästen einen guten Ort zu bieten. Es geht nicht um das Mit-Leiden, es geht – das sagt auch Horst – ums Menschliche.

Zeit

Den zwölf Gästen stehen 28 Mitarbeitende zur Seite. Loth-Lohmann, auch das merkt man, ist stolz auf ihr Team. „Als wir hier angefangen haben, mussten alle erst einmal lernen, dass sie sich Zeit lassen dürfen und können. Auch Zeit ist ein Geschenk, denke ich. Beim Betreten des Hauses spürt man: Das Wort Hektik ist hier nicht Bestandteil des Tagesvokabulars.

Reisebegleiter

Und wie sieht der Heiligabend im Hospiz aus? Loth-Lohmann: „Am Heiligabend schauen alle aus dem Team rein.“ Und für die Gäste gibt es kleine Geschenke. Es geht nicht um die großen Gesten – es geht um das kleine Miteinander. Alle Mitarbeiter hier sind auch ‚Reisebegleiter‘. Sie sorgen sich um das Wohl ihrer Gäste.
Und was, wenn jemand einfach allein sein möchte? „Kein Problem“, sagt Loth-Lohmann: „Wir haben auch Schilder, auf denen ‚bitte nicht stören‘ steht.“ Im Gemeinschaftsraum: Ein Adventskranz, ein Weihnachtsbaum und gleich neben dem Baum: eine große Uhr an der Wand. Festlichkeit und Endlichkeit.

Danach

Wie weh tut das Wissen, dass der Tag kommt, an dem man am Leben der anderen nicht mehr wird teilnehmen können? „Das tut sehr weh”, sagt Horst. Man wird ‘vom Platz gestellt’ und dieWelt dreht sich weiter, als ob nichts passiert wäre.” Vor zwei Jahren ist Horsts jüngerer Bruder gestorben. Krebs. „Ich weiß also schon, wie sich das für die Zurückbleibenden anfühlt.” Plant man eigentlich die eigene Beerdigung? „Ich wusste, dass ich das irgendwann ansprechen muss. Für meine Frau war das sehr schwer.“ Es wird einen Gottesdienst geben – in Horsts Kirche. Um den Text der Traueranzeige wird sich Horsts Tochter kümmern. „Die wird ganz sicher den richtigen Ton treffen.”

Der Bügel

Da ist noch diese eine Geschichte, die Horst erzählen will. Sie muss raus. „Als ich hier ankam, hat meine Frau nach und nach meine Anziehsachen in den Schrank gehängt. Das habe ich nicht so wirklich mitbekommen.“ Dann kam der Tag, an dem Horst, um in den Gruppenraum zu gehen, was zum Anziehen brauchte. Er bat eine Mitarbeiterin des Hospizes, ihm „die graue Jacke” zu geben. „Da sagt die zu mir: Die graue Jacke können Sie nicht meinen. Das ist doch die für die letzte Reise.“ Horst weint noch jetzt, wenn er diese Geschichte erzählt. Es gibt einen besonderen Kleiderbügel in jedem Schrank. An diesem Bügel hängen kleine Kränze und was auf diesem Bügel hängt, ist „Reisekleidung”. „Die Frau hat bestimmt nicht gewusst, dass ich das mit dem Kleiderbügel nicht wusste. Es hat trotzdem sehr weh getan.“ Horst hat noch eine Frage: „Kommt das, was wir hier erzählen, tatsächlich in die Zeitung?” „Ja“, sage ich: „Titelseite.” Ein Lächeln zieht über Horsts Gesicht.

Abgereist

Das Hospiz: ein bisschen wie eine Gruppenreise. Da treffen sich Menschen, die sich vorher nicht kannten. Was sie eint: die Destination. „Es tut schon weh, wenn du morgens merkst, dass einer nicht mehr dabei ist”, sagt Horst. Weiter vorne im Haus: Gläser mit Steinen. Ein Stein für jeden, der abgereist ist …

Einmal winken

„Ich habe gehört, Sie sind Musiker. Was machen Sie so?”, fragt Horst. „Am 28. gibt’s ein Konzert: Chor und Orchester”, sage ich und Horst sagt: „Ich  würde gern kommen. Mit meiner Frau.” „Ich bringe Ihnen zwei Karten. Morgen. Es würde mich riesig freuen, wenn Sie es schaffen.” „Ich werde es versuchen. Und dann winke ich oder ich halte ein Schild hoch: Hallo Frost.” Horst lacht. „Wehe!”, sage ich.

Tschö

„Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen“, sagt Horst und ich zerbeiße innerlich eine Träne. „Ich habe zu danken. Wissen Sie, ich wusste, als ich herkam, nicht, was ich fragen kann und was nicht.“ Horst sagt: „Nur gar nicht fragen ist falsch.“ Er hat erlebt, wie sich im Lauf der letzten Reise, die Spreu vom Weizen trennt. Wie sich die Reihen der Freunde lichten. „Manche melden sich einfach nicht mehr. Das tut weh, aber das musst du abhaken.” Die anderen, die kommen, stellen Fragen. Fragen sind wichtig. Danach soll es normal sein. „Man kann nicht die ganze Zeit vom Sterben sprechen.“ Ach ja: Horst heißt in Wirklichkeit anders. „Wie möchten Sie heißen in diesem Text?“ Er lächelt: „Am liebsten Horst Schlämmer.“

Nachsatz

Wenn die Trauer verklungen ist, nimmt die Erinnerung ihren Platz ein. Erinnerung ist ein Bild im Kopf. Es ist das Bild der Menschen, die gegangen sind. Wenn die Erinnerung verblasst, verschwindet der Mensch, den wir liebten. Erinnerung ist das Band, das uns mit ihm verbindet. Erinnerung ist der Klang des Menschseins. Erinnerung ist ein Denkmal in der Seele.

 

Nachsatz: Am 29. März ist Horst gestorben. Ich habe ihn zwischen Dezember 2024 und März 2025 des öfteren besucht. Mein letzter Besuch fand ungefährt eine Woche vor seinem Tod statt. Horst war guter Dinge und voller Hoffnung. Ich erzählte ihm, dass meine Hospiz-Reportage für einen Journalistenpreis nominiert ist, der heute – am 3. April– in Berlin vergeben wird. Vorgestern erreichte mich eine Nachricht von Horsts Frau: „Guten Morgen Heiner, ich bin die Frau von Horst und muss leider die traurige Nachricht überbringen, dass Horst am Samstag verstorben ist.
Ich möchte mich nochmal ganz herzlich für deinen Artikel bedanken. Das ist eine schöne Erinnerung, die bleibt. für Horst war der Kontakt zu dir eine große Bereicherung. Das Konzert war dazu noch eins seiner Highlights im letzten Jahr. Für Berlin hat er dir feste die Daumen gedrückt.”

Die Party

Martina Iland hat eingeladen: kleine Party. 30 Leute. Kaffee, Kuchen. Die Gäste kommen aus vielen Ecken der Republik. Es gibt Sachen, die können sein und solche, die sein müssen. Martinas Feier ist eine Muss-Sache: ein Treffen unter ganz besonderen Bedingungen …

Schon bald

Die Party: Eine Abschiedsparty, aber Martina zieht nicht in eine andere Stadt – sie geht auch nicht ins Ausland. Ihre Reise geht weiter: Martina wird sterben. Vermutlich schon bald.
Aber jetzt ist da dieses Strahlen: Das ist die Vorfreude. Martina hat sich diese Party gewünscht – schon seit der Zeit im Krankenhaus in Wesel: „Da ist der Plan entstanden.“ Einmal noch der große Bahnhof.

Die Welt: ein schräger Ort.

Was danach kommt? Nicht mehr viel. „Ich bin jetzt 60“, sagt Martina. „Der Abschied wird mir nicht schwer fallen.“ Die Welt, sagt sie, sei längst ein schräger Ort geworden. „Ich bin froh, dass ich nicht 20 bin. Mit 20 habe ich Angst vor dem Tod gehabt. Jetzt nicht mehr. Ich habe alles erreicht. Ich bin willensstark und was ich wollte, habe ich immer bekommen.“

„Ein bisschen Spaß muss sein.”

Da sitzt sie im Rollstuhl in ihrem Zimmer im Hospiz: ein glücklicher Mensch. Irgendwie. „Ich hatte Brustkrebs. Dann Hautkrebs. Und jetzt ist mein ganzer Körper voll mit Metastasen.“ Martina bekommt Morphium. „Ich habe keine Schmerzen“, sagt sie. Gerade war sie draußen – zum Rauchen. „Ein bisschen Spaß muss sein.“ Sie hat ihr Leben bei jeder Diagnose umgebaut. Jetzt ist es genug.

Hubschrauberlandeplatz

Dann zeigt Martina auf die kleine Terrasse vor ihrem Zimmer. „Mein Hubschrauberlandeplatz“, sagt sie und schaltet Lichterketten ein. „Das solltest du mal abends sehen, wenn da hinten die Sonne untergeht.“
Tagelang stand der Termin mit Martina fest: Sie hatte angerufen und gebeten, dass jemand was schreibt über ihre Abschiedsparty. Tagelang hat man den Kopf voll gehabt mit dieser diffusen Erwartung. Tagelang hatte man sich überlegt, wie man dem Tod begegnet … und dann sitzt da Martina und schwärmt vom Sonnenuntergang und ihrem Hubschrauberlandeplatz mit Lichterketten.

Zwölf Gäste

Neben ihr: Carmen Aldenhoven-Jenster, die stellvertretende Pflegedienstleiterin. Sie hat zuerst einmal durchs Haus geführt. Schon die Begrüßung: ein Strahlen, das alle Trübnis wegradiert.
Zwölf „Gäste“, 27 Angestellte – dazu Ehrenamtliche. Das ist das Hospiz Donsbrüggen. Martina sagt: „Genau der richtige Ort für mich. Alles passt und du glaubst nicht, wie gut es mir hier geht.“ Nein – hätte ich nicht geglaubt. Aber jetzt erleb ich’s. Muss nichts glauben. Es ist ja da. Apropos Glauben: Nicht Martinas Ding. Nie gewesen. Der Tod: ein Ende ohne ein Danach?

Blaumann

„Ich werde im Blaumann verbrannt“, sagt sie und Carmen Aldenhoven-Jenster sagt: „Das müssen wir jetzt erklären. Wenn einer unserer Gäste stirbt, dann lassen wir es uns nicht nehmen, ihn zu waschen und vorzubereiten. Im Vorfeld haben wir dann den ‚Last Dress‘ besprochen. Das ist ein letzter Abschiedsdienst. Das ist uns wichtig.“
Martinas ‚Last-Dress-Wunsch: im Blaumann verbrannt zu werden. Und danach? Es gibt keine Angehörigen. Martinas Bestattung wird ein Fall für das Ordnungsamt. „Weißt du was: Ich wollte meinen Körper der Forschung spenden. Keine Chance. Die haben für zwei Jahre genug.“ Martina – so viel scheint sicher – wird so lange nicht warten können.

Am Meer

„Du musst keinen Trauertext schreiben“, sagt sie, die in Essen Straßenbahnfahrerin war und 16 Jahre in Tunesien gelebt hat. Was sie dort gemacht hat? „Augensex mit dem Meer“, sagt Martina. Übersetzung: Da gesessen und aufs Meer geschaut. Und wovon gelebt? „Wenn man keine großen Ansprüche stellt, ist das Leben nicht teuer“, sagt Martina.
Es ging ihr nicht gut in der letzten Zeit. Jetzt, da der Termin für die Party fest steht: ein Energieschub. Ein letztes Ziel. Die Freude darauf, die Freunde zu treffen – sie umarmen zu können: zu reden. „Was dann kommt, werden wir sehen“, sagt Martina und fragt: „Kommst du zur Party?“ „Leider nicht. Da ist ein anderer Termin, den ich nicht absagen kann. Leider.“

Aber gar nicht

Dann die Frage: „Haben du was gegen ein Foto?“ „Aber gar nicht. Sag einfach, wie du mich haben willst. Mit Mütze? Ohne Mütze? Mit Perücke?“ „Das entscheidest du.“ „Also dann: mit Mütze und draußen.“ (Der Hubschrauberlandeplatz.)
Während wir dasitzen und reden, wird klar, dass der Tod ein Teil des Lebens ist – nichts, das man ausklammern oder auslagern sollte. Man hatte das ganze Vokabular des Trauerns in Stellung gebracht und jetzt sitzen da Martina und Carmen und irgendwie strahlt alles.

Ohne Gewicht

Irgendwie haben alle dunklen Gedanken ihr Gewicht verloren. Irgendwie ist das hier ein Ort, an dem das Normale seine Bedeutung geändert hat. Was bleibt, ist diese unglaubliche Freundlichkeit. Das hier ist ein unglaublicher Ort des Positiven. „Ich komme vorbei, wenn der Text fertig ist“, sage ich. „Das ist schön“, sagt Martina. Wenn Martina endgültig abgereist ist, wird gleich im Eingangsbereich eine Kerze brennen und Martinas Name wird auf einem Kieselstein stehen und in einem der Gläser liegen – neben den anderen Steinen: Erinnerungen.

Natürlich bleibt etwas.

Natürlich bleibt etwas, denke ich. Wenn die Trauer verklungen ist, nimmt die Erinnerung ihren Platz ein. Erinnerung ist ein Bild im Kopf. Es ist das Bild der Menschen, die gegangen sind. Wenn die Erinnerung verblasst, verschwindet mit ihr der Mensch. Erinnerung ist das Band, das uns mit den verbindet. Erinnerung ist der Klang des Menschseins. Erinnerung ist ein Denkmal in der Seele.

Wiedersehen  mit Martina

Whatsapp-Nachricht von Martina: „Du wolltest doch noch mal zu Besuch kommen.“ Stimmt, denke ich. Und dann denke ich: Die lebt noch. Es ist der Wahnsinn. „Wie wär‘s morgen um 14.15 Uhr?“ „Passt. Freu mich.“

Neulich

Ein Rückblick: Martina hat eingeladen: kleine Party. 30 Leute. Kaffee, Kuchen. Es gibt Sachen, die können sein und solche, die sein müssen. Martinas Feier ist eine Muss-Sache: ein Treffen unter ganz besonderen Bedingungen …Die Party: Eine Abschiedsparty, aber Martina zieht nicht in eine andere Stadt – sie geht auch nicht ins Ausland. Ihre Reise geht weiter: Martina wird sterben. Vermutlich schon bald. (Das war vor mehr als vier Wochen.) Martina war im Fernsehen – sie wurde im Sozius spazierengefahren … und … lebt noch. Und wie.

Jetzt

Hospiz Donsbrüggen: Martina sitzt mit ein paar Frauen draußen am Tisch: Hoodie, dunkle Sonnenbrille, Fläschchen Bier, Zigarette. „Hättze nicht gedacht, oder?“, lacht sie. „Nee, hätt ich nicht gedacht.“ „Ich muss dir was erzählen“, sagt Martina. Was sie erzählt, handelt von allem, was sich getan hat in den letzten Wochen – nach der Abschiedsparty.
„Ich habe jetzt Follower“, sagt Martina. 16.000 sind es. Und dann wären da noch … „Ist nicht wahr?“ „Doch, ist wahr.“
Da sitzt mir also eine Totgesagte gegenüber und strahlt vor Energie. Martina ist eine, die den ganzen Laden in Schwung hält. Dass „der Laden“ ein Hospiz ist, hat man schnell vergessen. „Demnächst werden sie für dich Vergnügungssteuer zahlen müssen“, sage ich. „Kann passieren“, sagt Martina.

Demnächst

Und: „Ich habe ein neues Ziel: Demnächst habe ich Geburtstag.“ „Wann ist demnächst?“, frage ich. „5. Juli. Trag dir das mal ein. Es gibt Freibier und Würstchen.“ „Im Ernst?“ „Jo. Echt.“ Da sitzt Martina, auf deren Leben kaum noch jemand gesetzt hätte. Krebs im Endstadium. Dann kam das Fernsehen. Presse kam auch. Geschichten über eine, die – irgendwie den Tod vor Augen – das Leben feiert. Dann: die Follower. Martina als eine, die Eindruck hinterließ. „Freut mich, dass es dir wieder besser geht“, sagt sie und ich denke: War ja nur eine Erkältung. Stimme weg. Und sie sitzt da: Alleinunterhalterin. Wenn sie erzählt, wird positive Energie frei. Es darfkannsollmuss gelacht werden.

Mindestens ein Lächeln

„Weißt du“, sagt sie – und für einen Moment kehrt ein Hauch von Trauer ein – „weißt du: Seit ich hier bin, sind einige gegangen. Eine junge Frau– keine 40.“ Wenn Martina „gegangen“ sagt, ist „gestorben“ gemeint. Das muss ich mir immer wieder klar machen. „Das hier ist meine Familie“, sagt Martina. Menschen, die sich auf ihre Abreise vorbereiten und andere, die ihnen zur Seite stehen. Die Währung an diesem Ort: Mindestens ein Lächeln.
Das hier, denke ich, ist doch eigentlich ein Ort des Abschieds. Und dann sitzt da Martina und genießt es, dass Menschen sie zur Kenntnis genommen haben. Das erzeugt Auftrieb, denke ich. Da ist plötzlich eine Kraft, die niemand auf dem Zettel hatte. Wahrscheinlich nicht mal Martina selber. Am Tisch: Martinas Nachbarin von früher. Sie hat Martina im Fernsehen gesehen und Kontakt aufgenommen. Ein Gast aus der Vergangenheit.

Ich zeig’s dir

Martina schaut mich an, lacht: „Soll ich dir was sagen? Ach was – komm mal her: Ich zeig‘s dir.“ Und dann das kleine Wunder: Martina, die beim letzten Mal, als ich sie sah, kaum etwas allein tun konnte, steht aus dem Rollstuhl auf. „Hättest du nicht gedacht, was?“ Nein, hätte ich nicht gedacht. Echt nicht.“ „Ich kann auch ein bisschen mit dem Rollator rumfahren. Und allein aufs Klo.“ So klingen Erfolgsmeldungen, denke ich. „Lass dich mal umarmen“, sagt sie und breitet die Arme aus …
„Du wirst den Blaumann noch nicht brauchen“, sage ich. Als ich Martina zuletzt besuchte, erzählte sie von ihrem letzten Wunsch. Der letzte Dress: Ein Blaumann. In den Hosentaschen: Maiskörner. „Ich will’s am Ende noch mal richtig krachen lassen.” Jetzt aber geht es um Grillwürstchen und Geburtstag. Niemand weiß, ob Martina es bis zum 5. Juli schaffen wird. Irgendwie spielt das auch keine Rolle. Es dauert, so lange es dauert. „Du kommst wieder, oder?“ „Klar.“

Bis neulich

Martina, die Frau aus dem Fernsehen. Die Frau, die ihre Freunde zur Abschiedsparty einlud. („Noch mal richtig feiern.“) Martina, die sich jetzt über ihre Follower freut und die Anteilnahme und Wärme, die ihr entgegenschlagen. Quatsch: Schlagen ist das falsche Wort. Entgegenströmen – das ist besser. Martina, denke ich, dreht den Tod auf links. Sie schwätzt dem Sensenmann noch ein Kotelett an die Backe. Jetzt müsste noch jemand kommen und ein Drehbuch schreiben. Martina – der Film. Selten so wenig traurig gewesen wie in dieser Gegenwart. „Dann bis neulich“, sage ich. „Freu mich“, sagt Martina und beim Weggehen wird gelacht an ihrem Tisch. Schlückchen Bier und ab damit …

Die Vorgeschichte

Wieder mal einer dieser „Aufträge”: „Du, da hat jemand angerufen – aus einem Hospiz. Es geht um eine Geschichte. Kannst du dich kümmern?” Man ruft an – flaues Gefühl im Magen und erfährt: Da ist diese Frau, die eine Abschiedsparty feiern möchte. Sie wird in Kürze sterben und jetzt möchte sie Freunde und Bekannte einladen. („Kannst du dich kümmern?”)

Besuch im Hospiz. Irgendwie reist man sprachlos an und trifft … Martina. Urplötzlich wird klar: Das hier wird keine Geschichte über das Sterben. Es geht ums Leben. Um Martina. Um einen letzten Willen der anderen Art. Martina möchte im Blaumann ins Krematorium. Sie sollen ihr Maiskörner in die Hosentaschen stecken. „Ich will`s am Ende noch mal krachen lassen”, sagt sie. Es entstehen: zwei Geschichten eines zu erwartenden Abschieds.

Zwischen und nach den Geschichten: Martina schreibt Whatsapp-Nachrichten. Gegen Ende, als ihre Finger nicht mehr mitmachen: Sprachnachrichten. Dann, an einem Montag, die Nachricht von einer Freundin Martinas. „Sie ist heute friedlich eingeschlafen.” Ich hatte hingehen wollen. Am Ende hab‘ ich mich nicht getraut …

Whatsapp-Nachricht von Martina: „Du wolltest doch noch mal zu Besuch kommen.“ Stimmt, denke ich. Und dann denke ich: Die lebt noch. Es ist der Wahnsinn. „Wie wär‘s morgen um 14.15 Uhr?“ „Passt. Freu mich.”

Whatsapp-Nachricht von Martina: „Du wolltest doch noch mal zu Besuch kommen.“ Stimmt, denke ich. Und dann denke ich: Die lebt noch. Es ist der Wahnsinn. „Wie wär‘s morgen um 14.15 Uhr?“ „Passt. Freu mich.“

Neulich

Ein Rückblick: Martina hat eingeladen: kleine Party. 30 Leute. Kaffee, Kuchen. Es gibt Sachen, die können sein und solche, die sein müssen. Martinas Feier ist eine Muss-Sache: ein Treffen unter ganz besonderen Bedingungen …Die Party: Eine Abschiedsparty, aber Martina zieht nicht in eine andere Stadt – sie geht auch nicht ins Ausland. Ihre Reise geht weiter: Martina wird sterben. Vermutlich schon bald. (Das war vor mehr als vier Wochen.) Martina war im Fernsehen – sie wurde im Sozius spazierengefahren … und … lebt noch. Und wie.

Jetzt

Hospiz Donsbrüggen: Martina sitzt mit ein paar Frauen draußen am Tisch: Hoodie, dunkle Sonnenbrille, Fläschchen Bier, Zigarette. „Hättze nicht gedacht, oder?“, lacht sie. „Nee, hätt ich nicht gedacht.“ „Ich muss dir was erzählen“, sagt Martina. Was sie erzählt, handelt von allem, was sich getan hat in den letzten Wochen – nach der Abschiedsparty.
„Ich habe jetzt Follower“, sagt Martina. 16.000 sind es. Und dann wären da noch … „Ist nicht wahr?“ „Doch, ist wahr.“
Da sitzt mir also eine Totgesagte gegenüber und strahlt vor Energie. Martina ist eine, die den ganzen Laden in Schwung hält. Dass „der Laden“ ein Hospiz ist, hat man schnell vergessen. „Demnächst werden sie für dich Vergnügungssteuer zahlen müssen“, sage ich. „Kann passieren“, sagt Martina.

Demnächst

Und: „Ich habe ein neues Ziel: Demnächst habe ich Geburtstag.“ „Wann ist demnächst?“, frage ich. „5. Juli. Trag dir das mal ein. Es gibt Freibier und Würstchen.“ „Im Ernst?“ „Jo. Echt.“ Da sitzt Martina, auf deren Leben kaum noch jemand gesetzt hätte. Krebs im Endstadium. Dann kam das Fernsehen. Presse kam auch. Geschichten über eine, die – irgendwie den Tod vor Augen – das Leben feiert. Dann: die Follower. Martina als eine, die Eindruck hinterließ. „Freut mich, dass es dir wieder besser geht“, sagt sie und ich denke: War ja nur eine Erkältung. Stimme weg. Und sie sitzt da: Alleinunterhalterin. Wenn sie erzählt, wird positive Energie frei. Es darfkannsollmuss gelacht werden.

Mindestens ein Lächeln

„Weißt du“, sagt sie – und für einen Moment kehrt ein Hauch von Trauer ein – „weißt du: Seit ich hier bin, sind einige gegangen. Eine junge Frau– keine 40.“ Wenn Martina „gegangen“ sagt, ist „gestorben“ gemeint. Das muss man sich immer wieder klar machen. „Das hier ist meine Familie“, sagt Martina. Menschen, die sich auf ihre Abreise vorbereiten und andere, die ihnen zur Seite stehen. Die Währung an diesem Ort: Mindestens ein Lächeln.
Das hier, denke ich, ist doch eigentlich ein Ort des Abschieds. Und dann sitzt da Martina und genießt es, dass Menschen sie zur Kenntnis genommen haben. Das erzeugt Auftrieb, denke ich. Da ist plötzlich eine Kraft, die niemand auf dem Zettel hatte. Wahrscheinlich nicht mal Martina selber. Am Tisch: Martinas Nachbarin von früher. Sie hat Martina im Fernsehen gesehen und Kontakt aufgenommen. Ein Gast aus der Vergangenheit.

Ich zeig’s dir

Martina schaut mich an, lacht: „Soll ich dir was sagen? Ach was – komm mal her: Ich zeig‘s dir.“ Und dann das kleine Wunder: Martina, die beim letzten Mal, als ich sie sah, kaum etwas allein tun konnte, steht aus dem Rollstuhl auf. „Hättest du nicht gedacht, was?“ Nein, hätte ich nicht gedacht. Echt nicht.“ „Ich kann auch ein bisschen mit dem Rollator rumfahren. Und allein aufs Klo.“ So klingen Erfolgsmeldungen, denke ich. „Lass dich mal umarmen“, sagt sie und breitet die Arme aus …
„Du wirst den Blaumann noch nicht brauchen“, sage ich. Als ich Martina zuletzt besuchte, erzählte sie von ihrem letzten Wunsch. Der letzte Dress: Ein Blaumann. Und jetzt geht es um Grillwürstchen und Geburtstag. Niemand weiß, ob Martina es bis zum 5. Juli schaffen wird. Irgendwie spielt das auch keine Rolle. Es dauert, so lange es dauert. „Du kommst wieder, oder?“ „Klar.“

Bis neulich

Martina, die Frau aus dem Fernsehen. Die Frau, die ihre Freunde zur Abschiedsparty einlud. („Noch mal richtig feiern.“) Martina, die sich jetzt über ihre Follower freut und die Anteilnahme und Wärme, die ihr entgegenschlagen. Quatsch: Schlagen ist das falsche Wort. Entgegenströmen – das ist besser. Martina, denke ich, dreht den Tod auf links. Sie schwätzt dem Sensenmann noch ein Kotelett an die Backe. Jetzt müsste noch jemand kommen und ein Drehbuch schreiben. Martina – der Film. Selten so wenig traurig gewesen wie in dieser Gegenwart. „Dann bis neulich“, sage ich. „Freu mich“, sagt Martina und beim Weggehen wird gelacht an ihrem Tisch. Schlückchen Bier und ab damit …

 

P.S. Martina ist im August gegangen. Ich habe sie nicht mehr besucht.