Mehr Poesie geht nicht, denkt man. Am Ende des Rundgangs ist da dieses stumme Brennen in der Seele. Man nimmt es mit nachhause. Vielleicht ist die Ausstellung mit Werken von Barry Le Va die lauteste leise Ausstellung …

Foto: Rüdiger Dehnen
Aufforderung zum Dialog
Barry Le Va (1941-2021) ist einer von denen, deren Schweigen unterbewertet wird. Bei seinen Werken spürt man, dass sich das Denken ändert. Das Empfinden. Dass da einer Farbe ins Denken trägt. Dass da einer die Seele zum Klingen bringt. Da hat einer den Staub seiner Tränen zurückgelassen – an den Wänden; auf den Böden.
„Barry Le Va – In the State of Flux“ ist eine Hausbesetzung der besonderen Art, denn sie mischt Theorie und Praxis, Denken und Handeln. Man will nicht spoilern – keine Pointen durch Beschreibung vernichten. Vielleicht also anfangen mit dem scheinbar Herkömmlichen: Zeichnungen – in unterschiedlichsten Formaten; manche fast unscheinbar – andere raum- und gedankengreifend. Da streckt einer die Hand aus – in den freien Raum. Da macht einer Angebote. Was scheinbar fertig an der Wand hängt, ist im Innersten eine Anleitung zur Wahrnehmung. Eine Aufforderung zum Dialog. Barry Le Va liefert Schaubares fernab der Beschaulichkeit. Irgendwie spürt man, dass es mit dem Genießen nicht getan ist. Irgendwie spürt man den Imperativ zum Mitgestalten, der in jedem Kunstwerk der Ausstellung mitschwingt. Da ist etwas, das keine Ruhe gibt. Da ist etwas in seiner Zurückgenommenheit und in seiner Leisheit wie ein gefrorener Schrei; wie der Staub von Tränen und der Staub des Schönen. Der Gang durch die Pinakothek: „überweltigend”. Irgendwie findet man sich im Auge eines Orkans, der niemals ausbrechen wird, was wiederum nicht geht, denn ein Orkan ohne Auge ist schwer denkbar. Irgendwie ist das Teil der Botschaft: Le Vas Kunst ist die Nachbereitung auf eine Vorbereitung. Ursache und Wirkung kreuzen die Wege.
Partituren
Und dann: die Skulpturen. Man begreift: Da hat einer Partituren angeliefert und sich in Abhängigkeiten begeben, denn wo Partituren geliefert werden, müssen Ausführende tätig werden. Glasscheiben werden gestapelt. Die Anweisung: eine Zeichnung. Die Ausführung: eine Art Konzert ohne Publikum. Die Besucher stehen am Ende vor Scherbenhaufen, aber es sind irgenwie Scherbenhaufen der Auferstehung. In den Splittern spiegeln sich die Räume – wird die Welt zur Gefangenen eines Augenblicks, der sich mit Sonnenstand und Lichteinfall ändert.
Scheibe, Kunst, Altglas
Die Glasskulpturen: Gedankenübertragungen der Endlichkeit. Während man dasteht, schlägt wie ein Blitz der Gedanke ein: Wenn diese Ausstellung beendet ist, werden die Scherben im Altglas landen. Die Transformationsgeschichte: Scheibe – Kunst – Scherben. Da wird ein Material zum Botschaftsträger und verschwindet am Ende – feiert an einem anderen Ort Wiederkehr: Auferstehung. Der Gedanke überlebt, während seine Manifestation endlich ist. An einem anderen Ort wird ein anderer „Klang“ entstehen. Die Werke: Aufführungen. Es ist wie mit der Musik: Du klappst den Notendeckel zu und die Punkte schweigen sich ein.
Der Staub der Tränen
Beile hocken in der Wand. Unterhalb der Staub, den der Einschlag hinterlassen hat. Dazu ein Zettel für die Putzkolonnen: „Weißer Putz am Boden bitte liegen lassen!” Nach der Eröffnung wird man die Anweisung nicht mehr sehen, obwohl sie eigentlich elementar – essentiell – ist. Der Staub vermittelt die Erinnerung an die Einschlagsenergie. Die Wandelhalle: ein Territorium, das nur am Boden bespielt wird. Die Situation gräbt sich ein. Scherben, Beile – wieder der Staub der Tränen. Alles in der Ausstellung wird zum Schrei – alles hier zeugt von gewesener Energie und erzeugt eben so eine Fortsetzung in der Seele des Betrachters.
Überlebensdiagonale
Da ist noch dieser Raum, der mit Mehl „ausgelegt“ ist: Mehl von einer Ecke zur anderen. Es entsteht: eine Überlebensdiagonale aus Reinheit und Unberührbarkeit. Das Gefühlserlebnis übersteigt die Sachlichkeit der Rezeptur um ein Vielfaches. „In the State of Flux“ ist ein Blick hinter die Kulissen des Denkens ohne Anlieferung einer Gebrauchsanweisung. Die Ausstellung (für Kleve von Susanne Figner kuratiert) ist in ihrer sprachlosen Beredsamkeit famos und zeigt, wozu Kunst in der Lage ist, wenn sie sich verungegenständlicht und trotzdem Präsenz zeigt. Am Ende bleiben das Brennen in der Seele und der Staub von ungeweinten Tränen. Unbedingt ansehen.
Barry Le Va – In the State of Flux ist bis zum 20. Juni zu sehen.
Aus der Eröffnungsrede von Harald Kunde, Direktor des Museums Kurhaus Kleve
[…] Es ist die erste umfassende Ausstellung von Barry Le Vas Werk seit seinem Tod 2021. Wir verdanken diese großartige Ausstellung der Kooperation mit dem Kunstmuseum Liechtenstein in Vaduz und der Zusammenarbeit mit der Fruitmarket Gallery in Edinburgh.
Barry Le Va ist trotz seiner Erfolge zu Lebzeiten eigentlich nur Insidern bekannt und das ist eigentlich merkwürdig, denn er hatte drei documenta-Teilnahmen: 1972, 1977 und 1982. Er war dank Rolf Kricke auch hier im Rheinland gut vertreten durch die erste Ausstellung 1970 in Köln. Es folgten dann auch in unserem Umfeld Ausstellungen im Museum Abteiberg in Mönchengladbach und im Kröller-Müller Museum bei Arnheim. Eigentlich also gut vertreten und doch ein Geheimtipp. Insofern war es für uns besonders spannend, diesen Geheimtipp näher in Augenschein zu nehmen und die Spezifik der Skulpturen von Barry Le Va zu untersuchen, denn spezifisch sind sie.
Was sofort ins Auge fällt: Es gibt keine Sockel. Es gibt immer einen intensiven Raumbezug – vor allem zu den Böden und zu den Wänden. Es gibt das Zusammenspiel zwischen Gesetz, Konzept, Struktur und Zufall – da, wo bestimmte Prozesse initiiert werden, deren Ergebnis man vorher nicht genau wissen kann. Es findet ein Hineinhorchen statt in das, was das Material selber will – wie es fällt – wie es sich im Raum verteilt. Das Material selbst: Mehl, Filz, Kugeln, Glas – das alles sind ja keine klassischen skulpturalen Materialien.
Sie erinnern sich im Umfeld Arte Povera vieler anderer Bewegungen, die zum Beispiel 1969 in der großen Ausstellung von Harald Szeemann „When attidudes become form” [Kunsthalle Bern; Anm. d. Red.] vorgestellt wurden. Das war ein völlig anderer Materialbegriff. Da kamen karge und bis dahin ungewöhnliche Materialien zum Einsatz. In diesem Umfeld hat Barry Le Va seine Position entwickelt. Im Katalog ist zu lesen, das Rolf Ricke erklärt, wie man mit den Materialien nach Ausstellungsende umzugehen hat: Sie werden nämlich zusammengefegt und aufgesogen. Also: Überhaupt kein Denken an materielle Prozesse oder vielleicht sogar Verkäuflichkeit. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Mit dieser Kunst waren Haltungen verbunden, die in keiner Weise kommerziell abgesichert waren. Daher ist Barry Le Va einer der großartigsten nicht-kommerziellen Künstler dieser insgesamt großartigen Zeit des Aufbruchs.
[…] Sie sehen zertrümmerte Glasscheiben. Sie sehen Einschüsse in eine Wand. Sie sehen in die Wand gehackte Fleischermesser. All das sind Aktionen, die Barry Le Va seinerzeit natürlich selbst ausgeführt hat und die heute von Technikern ausgeführt werden. Da wird eine Grundaggression angedeutet. Es sollte eben nicht nur schön und lieblich sein – es sollte durchaus auch weh tun.
Barry Le Va war sein Leben lang fasziniert von Sherlock Holmes und hat oft gesagt: „Ich inszeniere Tatorte und Besucher haben die Möglichkeit, anhand der zurückgelassenen Indizien zu rekonstruieren, was da passiert ist.” Insofern sind Sie jetzt mit den Ergebnissen dieser scheinbar aggressiven Handlungen konfrontiert und wer das Glück hatte, dabei zu sein, weiß auch, dass bei der Entstehung natürlich nicht nur Aggression eine Rolle spielt, sondern auch Präzision.
Es darf nicht jeder einfach auf eine Wand schießen. Das musste bei uns schon ein staatlich geprüfter Schießstandsachverständiger sein.* Und es wurde natürlich auch darauf geachtet, dass beim Zertrümmern der Glasscheiben Schutzbrillen getragen wurden, damit niemand Splitter in die Augen bekam. All das zeigt: Es geht nicht um unbeherrschte, sondern um genau kalkulierte Prozesse. Das ist wichtig. Das zeichnet das gesamte Werk von Barry Le Va aus: dieses Verhältnis gibt zwischen Chaos und Kalkül. Le Va hat in Zeichnungen genau vorgeschrieben, wie die Dinge liegen sollen. Das ist als Ergebnis eines Immer-Wieder-Aufbau-Prozesses gar nicht anders möglich. Das ist das vielleicht entscheidende Kriterium von Le Vas Skulpturen: Er selber tritt nicht mehr in Erscheinung, aber die Skulpturen können jederzeit anhand seiner Partituren aufgebaut werden. Die Abstände und Positionen der Dinge sind genauestens festgelegt und beschrieben, beziehungsweise bezeichnet. Es handelt sich also um ein höchst präzise festgelegtes Spiel der Materialien und ihrer Verhältnisse zu- und untereinander.

Foto: Rüdiger Dehnen
*Der Kunstschütze im Kurhaus
Die Handlung würde für einen Krimi taugen: Ein Mann geht ins Museum und Minuten später sind Schüsse zu hören. Fünf an der Zahl. Der Schütze – er heißt Erwin Ramacher – wird nicht festgenommen. Nachdem er die Schüsse abgefeuert hat, packt er seinen Revolver ein und verlässt das Haus, als ob nichts gewesen wäre.

Kuratorin Susanne Figner. Foto: Rüdiger Dehnen
Schlechtes Drehbuch? Nein. Verrückte Wirklichkeit. Die Schüsse im Museum Kurhaus sind Teil der Vorbereitung einer Ausstellung, die am kommenden Sonntag um 11.30 Uhr eröffnet wird: Barry Le Va – in the state of flux. La Va (1941-2021) gilt, liest man, als Erneuerer der Skulptur nach 1960. Kuratorin der Ausstellung ist Susanne Figner. Das Kunstwerk, bei dessen „Herstellung“ der Schießstandsachverständige Erwin Ramacher behilflich war, heißt „Shots from the End of a Glass Line“. Figner zeigt Le Vas Skizzen und beginnt zu erklären. „Dass wir das Werk zeigen können, gestaltete sich schwieriger als ich zunächst angenommen hatte.“ Klar – du kannst nicht einfach in einem Museum fünf Schüsse mit einem Revolver abfeuern. Es braucht eine Ausnahmeerlaubnis gemäß Paragraph 12 Absatz 4, Satz 3a zur „Durchführung von 5 Schüssen auf eine Vorsatzschale vor der Beschusswand“. Punkt 3a regelt die Zulässigkeit des Schießens außerhalb von Schießstätten für Mitwirkende an Theateraufführungen und diesen gleich zu achtenden Vorführungen. „Sinn und Zweck dieser Erlaubnis ist es, das Kunstwerk des Künstlers Barry Le Va gemäß den künstlerischen Vorgaben naturgetreu darzustellen. […] Es handelt sich hierbei nicht um eine interaktive Ausstellung, auf der im Beisein von Besuchern geschossen wird. Das Kunstwerk ist mit Hilfe des Schießstandsachverständigen und die zu platzierenden Schüsse einmalig zu erstellen.“ Jetzt endlich weiß man also, was unter einem Kunstschützen zu verstehen ist. Montag, 24. März, 16 Uhr. Erwin Ramacher hat – gemäß der Ausnahmeerlaubnis – ab jetzt 60 Minuten Zeit, um die genehmigten fünf Schüsse abzugeben. „Die hierzu verwendete Waffe nebst Munition wird vom Erlaubnisinhaber bereitgestellt. Die zum Beschuss übliche Schutzausrüstung ist ausnahmslos zu verwenden. Beim Beschuss ist darauf zu achten, dass sich keine Besucher oder Mitarbeiter des Museums im gleichen Raum befinden.“ So also klingt Verwaltung, wenn Kunst und Gesetz „zum Zwecke der naturgetreuen Darstellung eines Kunstwerks“ eine Allianz eingehen. Auf der Seite des Künstlers klingt die Sache anders: „Glassline endet, wenn die Röhre aufhört eine Röhre zu sein und zum Punkt auf der Wand wird (perspektivische Entfernung).“ Eigentlich sollen also die Schüsse auf die Wand durch eine gläserne Röhre abgegeben werden. Figner: „Das ließ sich so nicht realisieren.“ Die Kugel könne abprallen und Menschen gefährden, sagt Ramacher. Außerdem sei der Abstand zu groß, um mit einer Handfeuerwaffe mitten ins Rohr zu treffen. Ramacher schießt also fünf Mal „daneben“, anschließend wird das Metallrohr (kein Glas) angeschraubt. Das Kunstwerk ist fertig. Laut war‘s. Ramacher hatte gewarnt.

Foto: Rüdiger Dehnen