Clemens Reinders nimmt sich Zeit. Antworten sind bei ihm nichts Spontanes. Da sitzt einer, der sich über das Gewicht der Worte im Klaren ist; einer, der 25 Zeitzeugen interviewt und Geschichte(n) aufgeschrieben hat. Der Titel seines neuen Buches kommt wie aus dem Off – eine Art beschreibende Regieanweisung: „Zeitzeugen 1939-1945. Interviews und Berichte zu Geschehenem.“
Nachgeordnete Besuche
Kann man sich mehr zurücknehmen? Wahrscheinlich nicht. Reinders, Jahrgang 1962, ist von Beruf Lehrer. Und wie sieht es mit der Berufung aus? „Nein”, sagt er, „ich bin” kein Historiker. Vielleicht ist er ja eine Art Protokollführer – in jedem Fall ist Reinders ein Neugieriger. Man muss seine Neugier beschreiben: Reinders ist keiner, der es auf das Spektakuläre abgesehen hat. Seine Interviews: Nachgeordnete Besuche in einer vergangenen Zeit. Reinders‘ Gespräche mit Zeitzeugen: Erleben über Bande. Erleben an der Bruchkante einer Zeit, die mit dem Tod der letzten Zeitzeugen vollends ins Theoretische gleiten wird. Die den Zeitraum 1939-1945 miterlebt haben, sind Aussterbende. Sie sind Menschen, die – zumindest zum Teil – durch das Nacherzählen des Gewesenen eine neue Wertung vornehmen.
(Aus dem Vorwort: „Im Fokus stehen weniger geschichtliche Zusammenhänge, sondern mehr subjektive erlebte Situationen und Lebensabschnitte einzelner Personen.”)
Der Lohn: ein Orden
Da ist einer, der ein britisches Flugzeug abgeschossen hat. „Da war eine Rollbombe an Bord“, erzählt Reinders. „Die war dazu gedacht, eine Staumauer zu sprengen.“ Dann überlegt er. „Nein, ich glaube, der Flieger war schon auf dem Rückweg.“
Aus dem Original-Interview: „Das war ein englischer Bomber, er kam zurück aus der Richtung Rees/Haldern, flog parallel zum Rhein, zog seitlich an uns vorbei. Und der Unteroffizier brüllte: ‚Schieß!‘ Dann hab‘ ich draufgehalten.“ Der Lohn: ein Orden.
Eine gute Tat?
Plötzlich ist da dieser Gedanke: Da wird ein Flugzeug abgeschossen. Man wird Zeuge eines Todesfalls und irgendwie ist alle so erschütternd sachlich. Beim Leser taucht die Frage auf: Wäre der Abschuss des Fliegers, der die Bombe nach an Bord hat, eine ‚gute‘ Tat gewesen? Es hängt von der Perspektive des Betrachters ab. Wer Geschichte mit dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert erlebt, hat gut reden.
Geschichte ist nicht die Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern die Beschäftigung mit der Veränderung. Die Geschichte zeigt uns, was unverändert bleibt, was sich verändert und wie sich Dinge verändern. (Aus: Yuval Noah Harari: Nexus)
Kein Ankläger
Ohnehin: Reinders ist nicht als Bewerter angetreten. Er ist nicht Ankläger. Er ist auch nicht Verteidiger. Er ist ein Dokumentar. Reinders nimmt sich zurück – lässt seinen Gesprächstpartnern den Raum, ihr Leben zu bespiegeln. „Vor einem Interview habe ich natürlich einen Plan. Ich weiß ja, um welche Zeit, um welches Thema es gehen soll“, beschreibt er seine Vorgehensweise. Dann beginnt das Gespräch: Leinen los für die Erinnerung. Die Regel: Wenn einer zu viele Fragen hat, lässt er dem Zufall keinen Platz. Erinnern ist ein diffuser Vorgang.
„Die Schilderungen wollen als Dokumente verstanden werden, als dokumentarisches Material, das zunächst noch nichts bewertet, sondern lediglich zur Kenntnis genommen werden will. Wie eine immer noch durchscheinende Begeisterung eines ehemaligen Hitlerjungen für die damaligen Geländespiele und Segelflugübungen zu bewerten sind, soll anderen vorbehalten bleiben.” Aus dem Vorwort.
Protokolle
Alle Gespräche, die er geführt hat, sind aufgezeichnet. In der Übertragung hat Reinders im ersten Anlauf, jede Geste, jedes Räuspern, jede Pause beschrieben. Es geht um die Präzision der Rückschau. Reinders im Vorwort: Die Texte basieren auf genauen Gesprächsprotokollen, die in einem zweiten Arbeitsschritt sprachlich behutsam bearbeitet wurden. Dabei sollte der ursprüngliche Wortlaut möglichst nicht verändert werden, damit die Schilderungen so nah wie möglich beim Sprachduktus des Erzählers bleiben.“ Da ist einer akribisch – behutsam akribisch. Da ist einer auf Besuch bei Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Was Reinders als Buch vorlegt ist – mit Martin Walser zu sprechen – Seelenarbeit.
„Ich wäre darauf eingegangen.”
Alle Gesprächspartner haben die fertigen „Protokolle“ ihrer jeweiligen Gespräche gelesen, „und natürlich wäre ich darauf eingegangen, wenn jemand mich gebeten hätte, etwas wegzulassen“, sagt Reinders. Was da zwischen den Buchdeckeln gelandet ist, sind am Ende Vertrauensbeweise. Da blicken Menschen zurück auf ihr Leben – teils unter Tränen. Da geht es um Tod und Überleben.
Ändert eine Arbeit am Vergangenen den Blick auf das Gegenwärtige? Reinders überlegt. Er überlegt lange. Vielleicht, denkt man, wird der Blick geschärft.
„Keine Geschichtsschreibung, sondern dokumentarisches Material wollen diese Erlebnisschilderungen liefern. Der Leser kann sich in die Todesangst eines jungen Rekruten einfühlen, der desertiert, und in die Scham, die der Soldat Walter Günther empfindet, als er in englischer Kriegsgefangenschaft zum ersten Mal Filmmaterial aus deutschen Konzentrationslagern sieht.“ (Aus dem Klappentext des Buches.)
Unglaublich wichtig
Vielleicht fühlt sich Reinders nicht als Geschichtsschreiber, weil er das Gehörte nicht einordnet. Man kann das so sehen. Was man sehen muss: Da leistet einer einen unglaublich wichtigen Beitrag – liefert Denkmaterial. In Reinders Buch kommen keine Wissensschaftler zu Wort: Da sprechen Menschen über eine Zeit in ihrem Leben und man kann nachvollziehen, wie der Abstand die Dinge verändert. Man kann lernen, dass vorschnelles Urteilen eher zu Spaltungen führt als zu Kommunikation. Man muss aber auch begreifen, dass alles Lesen über den Krieg das Nacherleben eines Zustandes ist, den es am Ende zu vermeiden gilt.
Infos
Herausgeber des Buches sind der Emmericher Geschichtsverein e. V. und der Heimatverein Haldern e. V.. Gefördert wurde das Projekt durch Firma „Katjes Fassin GmbH & Co. KG” sowie durch die Sparkasse Rhein-Maas.
Reinders‘ Buch ist im „Agenda Verlag“ erschienen (ISBN 978-3-89688-849-5); 287 Seiten; Preis: 23,90 Euro.
Clemens Reinders studierte von 1982 bis 1989 Film und Fotografie an der Kunstakademie Münster sowie Sozialwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität. 1988 erhielt er für seinen Beitrag „Die Klärung am Hof“ beim Filmfestival Münster einen Förderpreis beim deutschsprachigen Kurzfilmwettbewerb. Ab den 1990er Jahren arbeitete Reinders als freier Autor und erstellte als Auftragsproduzent für den WDR Kurzfilmreihen, unter anderem zu lokalhistorischen Themen. 1991 drehte er in Zusammenarbeit mit dem WDR den Film „Wo die Linden rauschen“ über seinen Geburtsort. 2000 veröffentlichte er sein erstes Buch mit heimatkundlichen Reportagen über den Niederrhein. Inzwischen arbeitet Reinders als Lehrer (Quelle: Wikipedia).