„Was ist denn eigentlich passiert“, fragt man sich nach 300 Gerichtsminuten. Was, wenn man einen Film drehen müsste über diese Tat?
Geschichten werden über Geschehenes erzählt und manchmal auch über die Lücken dazwischen. Was aber, wenn alles Lücke wird, Lücke ist, Lücke war? Was, wenn der Eisberg noch weniger ist als seine sichtbare Oberfläche?
Die Tat: Eine nicht klar definierbare Anzahl von Männern befindet sich in einem Raum. Zwei von ihnen geraten aneinander. Zurück bleiben ein Täter und ein Opfer. Falsch: Zurück bleiben ein Opfer und Männer, die Zeugen zu nennen vielleicht eine Übertreibung wäre. Der Täter: Er flieht. Später wird nicht klar sein, ob er die Restnacht „auf der Straße war“ oder ob sein Cousin ihn zum Schlafen zu einem Kumpel brachte. Das Opfer – verletzt mit mindestens zwei Messerstichen. Ein Lungenflügel kollabiert. Notoperation. Gesehen hat eigentlich niemand etwas. Gehört auch nicht. Einen Anlass für die Tat scheint es nicht zu geben. Keiner der Zeugen hat eine Erklärung. Der Täter könnte etwas erklären. Aber er will nicht sagen, was sich da – kurz vor dem Kerngeschehen – zugetragen hat. Eigentlich hat keiner der Zeugen die Tat gesehen. Eigentlich hatten sie alle dem Geschehen den Rücken zugewandt. Es waren Georgier und Russen im Raum. Die einen verstanden die anderen nicht. Das ist der Film. Zahl der Darsteller: Mindestens zwei.
Das Opfer: Ein Mann sitzt in einem Sessel. Er ist auf Krankenbesuch. Um 23 Uhr hat er seinen Besuch angetreten. Eine schräge Zeit für einen Krankenbesuch. Er sitzt im Sessel und spielt mit seinem Smartphone. Kurze Zeit später wird er angegriffen. Er weiß nicht warum. Er hat ja nicht einmal mitbekommen, was um ihn herum vor sich ging.
Das Gericht fragt sich ins Leben des Täters. Es ist einer dieser Echo-Prozesse: Frage, Übersetzung, Antwort, Übersetzung. Alles braucht seine Zeit. Ein Täter, der anfangs flüstert – und nur manchmal ins Laute durchbricht. Eine Übersetzerin, die zwischen Gericht und Täter ihr Bestes gibt. Ein Täter, der Auskunft geben möchte – aber über sein Leben möchte er nicht sprechen. Das ist nicht wichtig. Das Gericht fragt beharrlich nach: Eltern, Schule, Ausbildung. Warum macht sich einer auf und verlässt die Heimat, um nach Deutschland zu gehen? Es geht „um ein besseres Leben“. Fußball spielen in Deutschland. Der da sein Leben erzählt ist, so scheint es, einer von denen, die schon am Start verloren haben. Der Vater: Ein Trinker. Das sagt der Angeklagte nicht selbst – das sagt später sein Cousin. Der Angeklagte hat einen Bruder. Eine Mutter. Er verlässt die Schule nach der neunten Klasse. „Wegen eines Vorfalls.“ Er möchte darüber nicht sprechen. Einmal ist er in seiner Heimat mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Betrunken hat er irgendetwas mit einem Geldautomaten angestellt. Von der Polizei ist er geschlagen worden. Gemeint ist die Polizei in Georgien. Das erzählt später der Cousin und die Dolmetscherin ergänzt: „Das machen die Polizisten bei uns.“ Der Angeklagte hat Fußball gespielt. 1. Liga. Dann hat er aufgehört. Bis heute weiß er den Grund nicht. Er kommt nach Deutschland. Dortmund ist die erste Station. Da gefällt es ihm nicht. Das Asylbewerberheim – zu voll. Er macht sich davon, landet in Kleve. „Ich war mal hier, mal dort“, sagt er. Heute hier, morgen dort. Er hat viel getrunken. Auch Drogen hat er genommen. Dies und das. Er hat keine Arbeit und man fragt sich, wie er den Rausch finanziert.
Man möchte all die Lücken ausfüllen, die das Erzählen lässt. Was gehört in die „mal-hier-mal-da-Lücke“? Welcher Vorfall hat in Georgien dazu geführt, dass Schluss war mit der Schule?
Dann die Tat: Der Täter – ein Betrunkener. Bier, Wodka. Vielleicht auch Drogen – am Tag davor. Nie erzählt er vom Essen. Immer vom Trinken. Die Tat? Ein Ausraster. „Es ist etwas passiert.“ Er möchte nicht darüber sprechen, was da passiert ist. „Ich könnte mir einfach etwas ausdenken“, sagt er, „aber das tue ich nicht.“ Alles Fragen hilft nichts. „Wurden Sie beleidigt?“ „Hat man sie angefasst?“ Alles wird zur Lücke. Irgendwann hat der Angeklagte ein Messer. Er schlägt das Opfer mit der Faust. Das Messer hat er schon in der Hand. Das Opfer steht auf. Hat – Sekunden später – mindestens zwei Stichverletzungen. Der Täter: „Ich dachte, ich hätte ihn nur einmal getroffen.“ Schaden wollte er dem Opfer. Töten wollte er – Gott weiß das – bestimmt nicht. Man denkt: Wenn dieser Täter betrunken war und sich an nichts erinnert, werden die Zeugen Licht ins Dunkel bringen.
Das Opfer: Der Mann hat Angst, sagt er. Er weiß nicht, was passiert ist. Er weiß auch nicht, warum es passiert ist. Auch er sagt mit Dolmetscherin aus. Jetzt wird Russisch gesprochen. Das Echo wird größer, denn was der Russe sagt, muss die Übersetzerin des Täters in Georgische stemmen. Das Opfer: Es gibt keine Erklärung. Das Opfer erzählt eine andere Geschichte als der Täter. Nein, nichts ist vorgefallen und wenn der Täter ein Mann ist, dann wird er das bestätigen. Er wird bestätigen, dass nichts war. Er, das Opfer, hat nichts gesagt. Niemanden beleidigt. Zwischendurch steht der Mann auf, hebt das T-Shirt und zeigt seine Narben. Sieben. (War in der Anklage nicht von nur zwei Messerstichen die Rede?)
Der Richter regt an, in der Pause die Narben des Angeklagten zu fotografieren, damit der Arzt, der für den zweiten Verhandlungstag geladen ist, das erklären kann. Der Staatsanwalt stellt sein Smartphone zur Verfügung. Fotografiert wird im Beratungszimmer. Das Opfer ist einverstanden. Als die Zeit der Tatzeugen gekommen ist, ändert der Angeklagte sein Verhalten. Plötzlich beginnt er, laut zu reden, wirkt wirr. Diese Männer – er meint die Zeugen – sollen nicht in den Saal kommen. Er spricht auf die Übersetzerin ein, auf den Richter, auf den Anwalt. Die Luft im Gerichtssaal beginnt sich mit Energie aufzuladen. Man hat Mitleid mit der Übersetzerin, die zwischen das Gericht und den Angeklagten gerät und irgendwie zerrieben wird. „Der Angeklagte sagt, dass er nicht hören möchte, was diese Männer sagen“, erklärt sie dem Gericht. „Muss ich trotzdem übersetzen?“, fragt sie. „Übersetzen Sie weiter und sagen Sie dem Angeklagten, er soll sich die Ohren zuhalten“, sagt der Richter, der zwischendurch mehrmals laut wird.
Immer wieder fragt der Richter den Angeklagten nach dem Grund für die Tat. Immer wieder verwehrt der Angeklagte den Zugang zu seinen Gründen. „Es gab einen Grund. Ohne einen Grund würde nur ein Verrückter so etwas tun“, sagt der Angeklagte und der Richter antwortet: „Dann haben wir jetzt zwei Möglichkeiten.“ Angeklagter: „Es gab einen Grund, aber ich werde ihn nicht nennen.“
Keiner der Zeugen kann sich einen Reim machen. Irgendwie ist alles Gesagte nur ausgemaltes Schweigen. Am Ende bleibt eine sekundenschnelle Tat, für die niemand eine Erklärung hat. Wo ist der Subtext? Wenn es keinen Subtext gibt, kein verschwiegenes Motiv, dann bleibt ein Ausgerasteter, der betrunken zum Täter wurde – quasi grundlos. Irgendwie ferngesteuert. Man fragt sich, ob hier ein Inneres Chaos seinen Weg nach außen findet oder ob es umgekehrt ist – ob da einer das Chaos, in dem er lebt, internalisiert hat. Vielleicht ist beides eins.
Der Angeklagte – zwischenzeitlich wirkt er wie ein gehetztes Tier, wie einer, der sich fürchtet. Dann wieder wirkt er wie einer, mit dem man nicht allein sein möchte, wenn er von seinen Dämonen geritten wird. Aber: Gibt es Dämonen? Ist all das hier eine Art Aufführung? Am Ende ist der Saal gefüllt mit Hilflosen – jeder in seiner Rolle. Was ist eigentlich passiert an jenem Tag im Januar? Schon die Antwort auf diese Frage wird zum Problem. Bei der Frage nach dem „Warum“ ist Scheitern vorprogrammiert.
Justizia trägt einen Augenverband. Manchmal, denkt man, geht es ihr nicht darum, ohne Ansicht der Person zu urteilen – manchmal, denkt man, gibt es einfach für sie nichts zu sehen.