Wie gerinnt Erinnerung? Sonntag, 11 August: Abreisetag beim Haldern Pop Festival.
„Beneath the stains of time“* … Auf einer Wiese draußen vor dem Dorf: Störche beim Frühstück. Im Dorf: Rucksackträger auf dem Weg zum Bahnhof. Da ist es wieder: das melancholische Gefühl, das den Abschied mit Wehmut streicht.
Seelendusche
Man hat einen tollen letzten Abend erlebt: Seelendusche. Auf der Pressekonferenz sagt Stefan Reichmann: „Ich habe mich wieder in dieses Festival verliebt.“ Stefan ist ja einer von denen, die Haldern Pop erfunden, gegründet, erträumt und kleingroßgroßklein gemacht haben. Noch Wochen vor Festivalbeginn haben die Unken ein Konzert angestimmt. „Ich habe die Namen von Insolvenzverwaltern im Telefonbuch gesucht“, sagt Reichmann. Wer‘s glaubt. Aber: eine gute Geschichte.
Bei der finalen Pressekonferenz sagt Reichmann auch: „Die Jugend wird immer älter.“ Schon treten die Deuter an, um die gedachte Lufthoheit über diesen Satz anzumelden, der nicht mehr ist als … Vielleicht meint Reichmann … nein, man möchte nicht mitspielen in diesem Konzert der Exegese: „Beneath the stains of time the feelings disappear.“*
Organismus
Ob Haldern 2024 ein Erfolg war, hängt ja – wie immer – am Ende vom Standpunkt des Betrachters ab. (Macht man ein Festival, um Karten zu verkaufen, oder verkauft man Karten, um ein Festival zu machen? Es ist – natürlich – eine Mischung. Ein Entwederoder ist kräftezehrend: Immer.) HPF ist sinnstiftend. Ein soziales Festival. Reichmann spricht ja von der sozialen Plastik – begibt sich in beuys‘sche Nachbarschaft. Haldern, auch das hat Reichmann gesagt, sei ein Kunstwerk. Ja, vielleicht. Es ist jedenfalls nicht künstlich. HPF ist ein Organismus – über die Jahre gewachsen – erzogen.
Mut
HPF ist eine Idee – über die Jahre weiter gedacht. Man wünscht sich, dass es nie zu Ende gedacht ist, denn fertige Gedanken sind oft wie eine ausgepresste Orange: Der Saft wird getrunken, die Hülle vertrocknet. HPF besteht zu einem Teil aus Mut: Es ist der Mut, inmitten von Veränderungen einen Anker zu werfen. Vielleicht klingt das zu groß. Vielleicht sind es die Kleinigkeiten, die Haldern zum Ereignis machen. Es ist das Ganze, dessen Bedeutung die Einzelteile übertrifft, aber eben nicht überflüssig macht. Das Gute entzieht sich häufig der letzten Analyse. Irgendwie braucht es das Wunderbare. Vielleicht muss man die Kraft haben, einen Satz wie „Die Jugend wird immer älter“ ungedeutet stehen zu lassen.
Glauben
Und vielleicht muss man ein Wort einführen, dass stetig an Bedeutung verliert: Glauben. Glauben im Sinne von Erdung und Bodenhaftung; im Sinne von Überschaubarkeit. Dass da ein Dorf ist, dessen Festival sich auch in der Kirche abspielt, kommt nicht von ungefähr. Da entsteht für drei Tage ein eigener Kosmos, der die Ursprünge nicht ausklammert: er umarmt sie. Ein Gesamtkunstwerk entsteht.
Jesu, meine Freude
„Beneath the stains of time …“* Susan O‘Neill hat sich ins Hirn gegraben mit einer phantastischen Stimme, Texten, die nicht der Beliebigkeit geschuldet sind, unglaublichen Kompositionen, die man nicht einfach Lieder nennen mag. Dass einer wie Michael Wollny mit seinem Trio im Spiegelzelt Alban-Berg-Anklänge in den Sommer pflanzt, dass Chilli Gonzales („Meine Freunde nennen mich Gonzo. Also nennt ihr mich auch Gonzo.“) auf der Hauptbühne zum Tonfeuerwerker wird, dass ein Chor (Cantus Domus aus Berlin) „Jesu, meine Freude singt“ – all das ist Haldern.
Am Ende bleibt die Frage: Macht das Festival sein Publikum oder macht ein Publikum sein Festival? Wieder ist beides ein Teil der Wahrheit und wer das Nebeneinander nicht aushält, wird nicht Haldern-Fan sein oder werden. Werden? Vielleicht doch. Es lässt sich Vieles lernen. Hat Haldern eine Zukunft? Auf jeden Fall.
Lust auf Vielfalt
„Beneath the stains of time the feelings disappear.“* Ist Erinnerung ein Gefühl? Man möchte in die Köpfe der Abreisenden kriechen und erfahren, was sie mitnehmen. Was sie mitgebracht haben. Lust auf Vielfalt vielleicht. Lust darauf, ein Angebot an- und mitzunehmen.
* Zitat aus: „Hurt“ von Trent Reznor