Der Kammer die Kondition abzusprechen wäre eine üble Unterstellung. Beginn: 9.06 Uhr. Um 16.28 Uhr könnte die Beweisaufnahme abgeschlossen sein, wenn …
… da nicht noch Anträge der Verteidigung wären. Einer – er bezieht sich auf die Aussagetüchtigkeit des Opfers – müsste noch geschrieben werden. Richter zur Verteidigerin: „Wie lange werden Sie brauchen?“ „Eine Stunde.“ „Okay, wir machen eine Stunde Pause.“
Um was ging es? Körperverletzung, Vergewaltigung, Bedrohung. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in der Zeit vom 25. Oktober 2016 bis 8. Februar 2017 in sieben Fällen gegen eine durch das Amtsgericht Kleve beschlossene Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin verstoßen und hierbei weitere Straftaten verübt haben. (Siehe unten.)
Aus dem Pressespiegel des Landgerichts: Strafverhandlung gegen einen 31-Jährigen aus Kleve wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz in sieben Fällen und zugleich wegen Körperverletzung in vier Fällen, Vergewaltigung, Bedrohung und Dieb-stahls.
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte in der Zeit vom 25.10.2016 bis 08.02.2017 in 7 Fällen gegen eine durch das Amtsgericht Kleve beschlossene Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin verstoßen haben und hierbei weitere Straftaten verübt haben:
Am 25.10.2016 soll er die Mutter seiner ehemaligen Lebensgefährtin, die den Angeklagten in dem zur Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin gehörenden Keller angetroffen haben soll, in den Schwitzkasten genommen, zu Boden gedrückt und mit der Faust gegen den Arm und ins Gesicht geschlagen haben.
Mitte November 2016 soll der Angeklagte sich sodann Zutritt zur Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin verschafft haben und dort eine Sparkassenkarte aus ihrer Geldbörse entwendet haben.
Am 24.11.2016 soll er an der Wohnungstür seiner ehemaligen Lebensgefährtin geäußert haben: „Ich kann dich nicht vergessen und werde dich nie in Ruhe lassen“
Am 20.01.2017 soll sich der Angeklagte erneut Zutritt zur Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin verschafft haben und im Rahmen einer zunächst verbalen Auseinandersetzung ihr grundlos mit der Faust auf den linken Oberschenkel geschlagen, ihr sodann ein Buch auf diesen geworfen und schließlich den rechten Arm auf den Rücken gedreht ha-ben.
In der Nacht zum 04.02.2017 soll der Angeklagte wiederum unerlaubt die Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin aufgesucht haben und – während sie schlief – sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen haben sowie sie – als sie erwachte – unter Drohung mit einem empfindlichen Übel zum Beischlaf genötigt haben. Am nächsten Morgen soll er die Frau grundlos zweimal massiv gewürgt haben.
Am 05.02.2017 soll der Angeklagte sich erneut unerlaubt in der Woh-nung seiner ehemaligen Lebensgefährtin aufgehalten haben. Im Rahmen eines Streites soll der Angeklagte der Zeugin auf den linken Arm und den Kopf geschlagen und sie mit einem 31 cm langen Messer bedroht haben.
Auch noch aus der Untersuchungshaft heraus soll der Angeklagte am 08.02.2017 Kontakt zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin aufgenommen haben.
Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Zur Hauptverhandlung am 17.07.2017 sind 19 Zeugen geladen
Besitzstandswahrung?
Faustschläge werden genannt, ein Buch ist geworfen worden (Titel und Inhalt bleiben unerwähnt), von erzwungenem Beischlaf ist die Rede, von Würgen ohne Grund, von Bedrohung mit einem Messer und davon, dass der Angeklagte noch aus der Untersuchungshaft mit dem Opfer über Facebook Kontakt aufgenommen hat. „Du gehörst mir“, soll der Angeklagte gesagt haben. Das Vorurteil spricht: Wieder einer dieser Typen, die neben Haus und Auto auch die Frau als Besitz ansehen. Entfernt sie sich, drohen Prügel und Schlimmeres.
Ein Kind haben der Angeklagte und das Opfer – ein weiteres wurde in die aufkeimende Neubeziehung (angebahnt im weltweiten Netz) eingebracht. Der Angeklagte: Ein von Eifersucht Getriebener. Geht es um Diebstahl, wenn die Frau sich einem anderen hingibt? Schließlich kommt Eigentum abhanden.
Der Angeklagte ist kein unbeschriebenes Blatt. Drogen, Bedrohung, Fahren ohne Führerschein – Urteile gibt es reichlich. Bewährungen wurden ausgesprochen, Verstöße fanden statt. Knast hat es gegeben. Der Mann hat das Zeug zum Dauergast der Justiz. Dabei stand am Anfang ein weißes Leben. Die Mutter des Angeklagten spricht von einem herzensguten Jungen. Das hat, sagt sie, damals auch die Lehrerin gesagt. Die Lehrerin, sagt sie, als sei das eine Art Beschwörungsformel, sei Frau eines Richters gewesen. So einen Jungen wünsche sie sich auch, habe die Lehrerin gesagt. Später wird die Mutter des Angeklagten aussagen, dass der Facebook-Kontakt zum Opfer von ihr gekommen sei. Über den Account des Sohnes habe sie geschrieben, nicht der Sohn …
Und was wurde aus dem weißen Leben? Der Angeklagte hat die Grund- und Realschule besucht, war Lagerarbeiter in Holland, hat Fußball gespielt. Dann: Drogen. Schluss mit Fußball. Stattdessen: Beschaffungskriminalität. Irgendwann sitzt Benny (Name geändert) 14 Monate in Moers Kapellen ein. Vorher hat er Linda (Name geändert) kennengelernt. Während er in Haft ist, kommt die Tochter zur Welt.
Nachdem Benny „raus“ ist: Probleme. Immer wieder. Linda verlässt ihn. Geht nach Moers. Zu einem anderen. Nach zwei Wochen: Rückkehr. Wieder Probleme. Die Mutter des Angeklagten wird von einer On-Off-Beziehung sprechen. Der Benny habe nicht mehr arbeiten können: Ständig das Kino im Kopf. Linda und die anderen Männer. Aufgerieben habe sich der Benny. Sie habe gesagt, er müsse damit klarkommen. Das sei das Leben. All das kann man nur zu raffen versuchen. Zu groß das Dickicht. Wer im Dschungel lebt, hat nicht für jede Liane einen Namen …
Benny wirkt nicht wie einer von denen, die sich eine Frau „nehmen“ als sei das eine Art Trophäe und am Ende die Schuld nur auf der anderen Seite suchen. Trotzdem: Man wünschte ihn sich nicht als Schwiegersohn. Er hockt verhuscht auf der Anklagebank und weint, als seine Mutter aussagt, ein paar Tränen, die nicht einstudiert wirken.
Zeugen
Die erste Hälfte des Verhandlungstages gehört verschiedenen Polizeibeamten, der Bewährungshilfe, zwei Ärztinnen, einem Zeugen, der gesehen hat, dass der Angeklagte die Hand gehoben hat, dass Linda etwas nach dem Angeklagen geworfen hat, der dann „Aua“ schrie. Immer wieder, so erfährt man, hat der Angeklagte gegen ein vom Gericht verhängtes Annäherungsverbot verstoßen. (Nicht weiter als 20 Meter hätte er sich nähern dürfen und war doch auch immer wieder in Lindas Wohnung, ohne einen Schlüssel zu besitzen.) „Ich schlitze dich auf“, soll er gedroht haben und „ich bringe dich und die Kinder und dann mich um“. Der Besitzsatz: „Du gehörst mir.“ Man sieht ihn fett gedruckt und bedeutungsschwer. Geht es um Diebstahl?
Zwischendurch sagt einer den Das-Geht-Gar-Nicht-Satz. Es ist ein Satz aus einer anderen Zeit. Dem Angeklagten ’sei die Hand ausgerutscht‘, heißt es. Ein Satz wie ein Unfall, der um ein Versehen kreist. Eine Hand, die – scheinbar körperlos – ausrutscht. Eine Zeugin sagt aus, Linda habe ihr gesagt, der Benny habe sie „grün und blond geschlagen“.
Linda
Nach der Mittagspause: Linda. Ihr Auftritt wirft Fragen auf, die man schon vorher hatte. Zweifler haben es – zumal in Fällen, bei denen es um das gewaltsame Betreten der Intimsphäre geht – nicht leicht. Wieso lässt eine Frau den Annäherungsverbotenen in die Wohnung? Angst habe sie gehabt, sagt Linda – Angst, dass Benny zum Jugendamt gehen und ihr die Kinder wegnehmen könne. Angst ist eine diffuse Befindlichkeit. Niemand kann jemandem, der Angst hat, sagen, dass das nicht nötig sei. Angst entfaltet ihre mächtige Wirkung oft genug über das Absurde, nicht Fassbare. (Wie soll Benny dafür sorgen können, dass Linda die Kinder weggenommen werden?) Benny hätte, sagt Linda, davon berichten können, dass sie mit ihren Aufgaben überfordert gewesen sei.
Zweifel sind erlaubt – geboten. Zweifel sind ein Instrument der Rechtsprechnung – Teil des Notwendigen. Je nachdem, auf welcher Seite man steht, ist der Umgang mit dem Zweifel ein anderer. Bennys Verteidigerin hakt, nachdem Lina ihre Aussage beendet hat, bestens vorbereitet nach. Sie zitiert aus Chat-Protokollen, die – wie soll man sich ausdrücken – Lindas Verhalten zu widersprechen scheinen. Linda verheimlicht ihrer Mutter, dass sie Benny immer mal wieder in die Wohnung gelassen hat. Es sei der Linda peinlich gewesen, sagt später eine Freundin aus, der Mutter und dem Bruder gegenüber zuzugeben, dass Benny immer wieder bei ihr gewesen sei. Der Ton der Chats zwischen Linda und Benny steht irgendwie quer zu Lindas Aussagen. („Die ständige Eifersucht. Der hat mir unterstellt, ich hätte was mit Freunden von ihm – Freunden, die ich nicht kannte.“ Und: „Wenn du andere ran lässt, kannst du mich auch ran lassen“, soll Benny gesagt haben und: „Ich würde auch dafür bezahlen.“)
Man möchte eine waagerechte Hand über senkrecht gestellte Finger legen: Timeout. Lindas Mutter sagt später: „Der Benny hat irgendwie zwei Gesichter.“ Linda leidet an Depressionen. Ihr Bruder sagt, das sei durch Benny ausgelöst, aber: Die Depressionen sind älter als die On-Off-Beziehung der beiden. Schon Lindas Mutter hatte Depressionen. Sie sagt das dem Gericht. All das muss natürlich nichts bedeuten. Irgendwann fällt im Zusammenhang mit Linda auch der Begriff „Bipolare Störung“.
Die Verteidigung etabliert den Zweifel und man gewinnt den Eindruck, dass sie das nicht auf dem Rücken des Opfers tut. Da macht eine einen guten Job. Da hakt eine nach, wenn es angebracht erscheint. Und am Ende stellt sie Anträge: Es geht um die Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz. Es geht um die „Aussagetüchtigkeit“ des Opfers. Das ist legitim.
Eine Stunde bekommt Bennys Verteidigerin, um ihre Anträge zu formulieren. 18 Zeugen haben ausgesagt. Sieben Stunden wurde verhandelt. (Neunzig Minuten Mittagspause exklusive). Wie froh ist man, nur der Beobachter zu sein.
Wie würde man, wenn es geboten wäre, urteilen? Man ist irgendwie halbseitig gelähmt. Es wächst das Spalier der Zweifel. Bestimmt: Der Angeklagte ist kein unbeschriebenes Blatt. Er mag nicht mit einer Beziehung umgehen können. Mit dem Verlust. Er mag eifersüchtig sein – vielleicht sogar aufbrausend. Trotzdem ist es schwer, zum Kern der Taten vorzudringen. Wieder einmal ist der Saal voll mit Opfern, die in gegenseitige Fallen geraten sind. Was hier zu leisten wäre, liegt außerhalb gerichtlicher Zuständigkeiten. Vielleicht. Was wird es bringen, Benny in den Knast zu stecken? Wer Benny verurteilt, muss die Zweifel ausschalten und darf nicht danach fragen, wer in diesem Gestrüpp wen instrumentalisiert hat und warum.
Am Ende des Tages werden die Anklagepunkte bezüglich des Gewaltschutzgesetzes eingestellt. Was soll man auch tun, wenn der, der sich nicht nähern dürfte, von seinem Opfer hereingebeten wird? Über den Antrag bezüglich der Aussagetüchtigkeit des Opfers wird am nächsten Verhandlungstag entschieden. Man geht nachhause und hat Brecht im Hirn: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Aussagetüchtigkeit:
Aussagetüchtigkeit bedeutet die Fähigkeit eines Menschen zu einer richtigen und vollständigen Aussage. Der Richter, der glaubt, hierüber ohne sachverständige Hilfe nicht befinden zu können, ist freilich in seiner Entscheidung frei, ob er einen Psychiater oder einen Psychologen beauftragt […]. Psychiatrische Beratung wird aber nur dann angezeigt sein, wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch in Frage gestellt ist, dass der Zeuge an einer geistigen Erkrankung leidet oder sonst Hinweise darauf vorliegen, dass die Zeugentüchtigkeit durch aktuelle psychopathologische Ursachen beschränkt sein kann. [Quelle: http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/1/04/1-498-04.php]
Die Aussagetüchtigkeit einer Person bedeutet im engeren Sinn deren Kompetenz und Fähigkeit, überhaupt eine nachvollziehbare Aussage zu machen. Aussagetüchtigkeit bedeutet also, vereinfacht, Zeugeneignung und Zuverlässigkeit der Aussage. Demnach ist eine Zeugin aussagetüchtig, wenn sie intellektuell in der Lage ist, „ einen spezifischen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen, diesen in der zwischen dem Geschehen und der Befragung liegenden Zeit im Gedächtnis zu behalten, das Ereignis angemessen abzurufen, Erlebtes von anders generierten Vorstellungen zu unterscheiden und die Geschehnisse in einer Befragungssituation verbal wiederzugeben“ (Greuel, 1998). Hinsichtlich des letztgenannten Aspektes „sind insbesondere sprachliches Ausdrucksvermögen, das Vorhandenseins von Kontrollmöglichkeiten gegenüber Suggestiveinflüssen und kommunikative Kompetenz von Relevanz“ (Volbert, 2005). [Quelle: http://www.verteidigung-sexualstrafrecht.de/faqs/bedeutung-aussagetuechtigkeit]
Finale
Plädoyers am Ende eines Prozesses sind wie ein finales Buffet. Was die einen liegen lassen, verspeisen die anderen mit Genuss. Fast möchte man‘s glauben, aber in Wirklichkeit stehen doch alle vor denselben Zutaten – vor derselben Tat.
Das Gericht spricht: „Wir verurteilen den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren.“ Das Gericht war – nach eigener Einschätzung – milde. Bis zu 15 Jahre wären „drin“ gewesen. Man ist im unteren Bereich geblieben. Aber: Strafe muss. Das Gericht ist nicht blauäugig: Es weiß, dass Strafhaft nicht unbedingt viel bewirkt.
Es ging um Vergewaltigung, Bedrohung, Körperverletzung. Es ging um eine gescheiterte Beziehung – um das Leben auf einer Bahn, deren Ende man als nach unten geneigt empfindet. Das Gericht spricht von einer traurigen Wirklichkeit. Und trifft.
Das Gericht hat es sich nicht leicht gemacht. Es begründet lange, gründlich, besonnen und logisch, warum es zu seiner Entscheidung gekommen ist. Die Zweifel der Verteidigung waren nicht die Zweifel der Kammer. Überhaupt: Die Zweifel. Da sagt ein Opfer aus. Der vermeintliche Täter macht von seinem Recht Gebrauch, nichts zu sagen. („Bei Sexualstraftaten sind in den meisten Fällen nur zwei Menschen anwesend und das Gericht muss sich entscheiden, wem von beiden es glaubt.“) Man habe, sagt der Vorsitzende der Kammer, diese Verantwortung nicht an einen Gutachter delegiert. Die Kammer, sagt der Vorsitzende, verfüge über ausreichende Sachkenntnis. Die Profirichter seien in der Lage, den Laienrichtern diese Kenntnis zu vermitteln. Und richtig: Alles, was da begründet wird, erscheint sinnvoll. Eine Zeugin, die jemanden reinreiten hätte wollen, würde anderes ausgesagt haben. Sie würde nicht von einem Tritt gegen das Bein sprechen, sondern von einem Fautschlag ins Gesicht. (Und die Spuren?) Das Opfer sei in seiner Aussage konsistent gewesen – habe mehrmals ähnlich ausgesagt, ohne den Eindruck einer zurechtgelegten Geschichte zu hinterlassen. Das Opfer habe bei seiner Aussage gar nicht mit der Vergewaltigung begonnen, sondern mit „Kleinigkeiten“. Es habe nicht den Anschein erweckt, jemanden auf Gedeih und Verderb ans Messer liefern zu wollen (Das Gericht wählt andere Worte.)
Viele erfahrene Ermittler hätten ähnliche Eindrücke gehabt. Das Wort am Ende der Eindrücke: Glaubwürdigkeit. Fünf Jahre – dazu die Strafen aus den widerrufenen Bewährungen. Es läppert sich.
Zeit, die Sache aus einer anderen Perspektive zu sehen. Es ist ja nur ein Gedankenexperiment – nicht mehr … Was, wenn ein Beschuldigter sich so verhielte: Er erzählt eine konsistente Geschichte – nicht auswendig gelernt. Er hätte gute Chancen, als Notoriker durchzugehen – als einer, der unbelehrbar ist und unfähig, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Wo bleiben die Zweifel? Man denkt die Sachverhalte zu Ende und stellt fest: Am Ende kann es nicht um die Zweifel gehen, die man an den Umständen findet – es muss immer um die Zweifel am eigenen Tun und Handeln gehen. Aber ein zweifelndes Gericht wird zu einem handlungsunfähigen Gericht. Bei allem, was die Kammer analysiert, schlussfolgert und argumentiert – das muss man sehen – geht es darum, dass sie (die Kammer) davon ausgeht, alles verhielte sich ihrem Ordnungsprinzip gemäß. Um zu belasten, würde man doch dies und jenes sagen. Gälte es, einen Ratgeber zu verfassen, wie man davon kommt, würde man ab heute die Hereinzureißenden zunächst entlasten und sich dann – quasi nebenbei und irgendwie aus Versehen – ans Eigentliche heranschleichen. Wäre das nicht besser als eine vordergründig inszenierte Treibjagd? Alles nur Fantasien.
Das Gericht aber muss am Ende wissen, wie es wirklich wahr. Die Wirklichkeit, sagt das Gericht, besteht aus einer Tat und zwei Menschen, die dabei waren. Das Gericht, sagt das Gericht, muss eine Entscheidung treffen. Zwei Seiten stehen zur Verfügung – so klingt es in der Begründung. Aber was, wenn man niemandem glaubte, oder präziser: Niemandem alles? Zweifel würden aufkeimen und mit den Zweifeln ein „Versagen“ vor der Aufgabe.
Ja, es gab Punkte, die der Angeklagte eingeräumt hat. Aber das ist nicht zielführend. Wenn er dreimal sagt, dass er es nicht wahr, wird ihm niemand Glaubwürdigkeit attestieren. Das Gericht hat sich nicht gedrückt: Es hat sich der Herausforderung gestellt und sich die Sache nicht leicht gemacht. Das Gericht kennt sich aus mit der tagtäglichen Realität des Nicht-Optimalen.
Auch ein Streifzug in die Möglichkeitsregion wird unternommen. Ein Nein ist nicht immer ein Nein und ein Ja nicht immer ein Ja. Wer unter Druck zustimmt, hat nicht wirklich Ja gesagt, erklärt das Gericht. Das leuchtet ein. Was nicht einleuchtet, ist die finale Autorität der letzten Instanz, die – Revision ist möglich – natürlich nicht die letzte Instanz ist. Gemeint ist das letzte Wort. Es gehört der Kammer. Sie verübt den letzten Rundflug durch Tat und Umstände aus und entscheidet über Wohl oder Übel. Wenn die Kammer denkt, dass niemand, der belasten möchte, dies oder jenes tun oder nicht tun würde, dann liegt selbst die Deutung der Tat nicht mehr in den Händen des Opfers. Justiz muss sich, um arbeiten zu können, den Zweifeln stellen und sie besiegen oder ihnen in einen Freispruch folgen. Aber es ist wichtig zu wissen, dass es immer auch um die Zweifel an der eigenen Unfehlbarkeit geht.
Benny wird lange sitzen und es wird wenig passieren in dieser Zeit. Am Ende werden Benny und Linda noch immer ein gemeinsames Kind haben, um dessen Wohl man sich schon jetzt Sorgen machen darf. Das Gericht hatte „keinerlei Zweifel in Bezug auf das Kerngeschehen“. Vielleicht ist ja alles tatsächlich genau so gewesen, wie das Opfer es beschrieb. Man hat eine stichhaltige Begründung gehört, die genau so lange stichhaltig ist, wie Nachfragen nicht erlaubt sind. Irgendwann muss schließlich Schluss sein. Strafe muss.