Schreibkraft
Heiner Frost

Gegen die Kälte

Man hatte sich warm angezogen. Kälte von außen (coronabedingt daueroffene Fenster) – Kälte von innen: Das Herz friert bei Verbrechen dieser Art. Gegen die Frühjahreskälte gibt es Schutz – diese andere Kälte überfällt einen aus geplantem Hinterhalt.

Ein Mann aus der Verwandtschaft

22 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern – zehn der Fälle tragen den Vornamen „schwer“. Es geht um „die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in einem Fall sowie den Besitz von kinder- und jugendpornografischen Schriften“. Zahlenwerk: 5.802 Bilddateien, 1.400 Videodateien mit kinderpornografischem Inhalt sowie 1.467 Bild- und 469 Videodateien mit jugendpornografischem Inhalt. Teils geht es um „das Eindringen in den Körper der Geschädigten“.
Der Täter: Ein Mann aus der Verwandtschaft. Vater, Ehemann, Schwager, Onkel. Taten wie diese zerstören alles, was bis dahin das „normale Leben“ war. Sie streuen Fassungslosigkeiten aus, Ohnmacht – und mit der Ohnmacht Zorn, Wut bei den Eltern derer, die das Gesetz „Geschädigte“ nennt. Alle sind geschädigt – ihr Vertrauen zerstört. Unmittelbar. Mittelbar.

Zum Schutz

Es wundert nicht, dass bei den Vernehmungen (auch der des Täters) die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Es geht um den Schutz derer, die – direkt oder indirekt – Opfer wurden. Auch eine Täterbefragung ist nicht möglich, ohne über die Familie und Freunde zu sprechen – ohne Dinge zu besprechen, durch die auch die Opfer ins Licht der zuhörenden Öffentlichkeit zu treten hätten.
Das wird deutlich, wenn man mit Angehörigen spricht. Vieles in ihnen ist zerstört, aber da ist dieser Wunsch, der einzig bleibt: Nicht identifizierbar zu sein, damit die Kinder, denen widerfuhr, was niemand beschreiben mag, die Chance auf ein Leben nach diesem Prozess haben – eines, das im Rahmen aller Möglichkeiten „normal“ ist.
Am Vortag hatte die Kreispolizeibehörde in ihrer Kriminalstatistik die Fallzahlen zum Thema „sexueller Missbrauch an Kindern“ veröffentlicht. 34 waren es 2018 im Kreis Kleve, ein Jahr später stieg die Zahl auf 61, 2020 gab es 39 Fälle. Die Schwankungen haben auch damit zu tun, dass Täter – so auch hier – sich nicht nur für einen Fall zu verantworten haben.

Zahlen

Die Aufklärungsquote bei Fällen von Kindesmissbrauch lag 2018 bei 91,2 Prozent, 2019 bei 93,4 Prozent und 2020 bei 82,1 Prozent. Das liegt daran, dass sich Missbräuche fast immer im unmittelbaren Umfeld der Opfer ereignen – eben da, wo jeder jeden zu kennen glaubt. Im Land Nordrhein-Westfalen gab es 2018 2.422, 2019 2.805 und 2020 3.353 Fälle. Sieht man sich die Zahlen für „Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Kinderpornografie (Kreis Kleve) an, so wurden 2018 9, 2019 15 und 2020 48 Fälle bekannt. Experten gehen davon aus, dass die Zahlen weiter steigen werden.
Was den Prozess gegen den 43-jährigen Angeklagten angeht, wird man wenig erfahren von den Hintergründen. Ist die Öffentlichkeit bei Vernehmung ausgeschlossen, wird gleiches auch bei den Plädoyers und schließlich auch bei der Urteilsbegründung passieren, da sich sowohl die Plädoyers als auch die finale Begründung des Urteils immer auch auf die Vernehmungen und also die Ergebnisse der Hauptverhandlung beziehen.
Es wird – wahrscheinlich am Ende des zweiten Verhandlungstages – ein Urteil gesprochen. Viel mehr wird nicht zu sagen – viel mehr nicht zu berichten sein. Ein Angehöriger der Opfer sagt auf dem Gang: „Unfälle, Krebs – davon denkt man immer, dass es nur den anderen passiert.“

Niemals

Fast immer in solchen Prozessen lässt sich der Punkt rekonstruieren, an dem das Leben und Welt auseinanderfliegen und fast immer sagt irgendjemand den Satz: „Nie hätte ich das vorher geglaubt.“ Das ist am Ende kein Trost. Ganz im Gegenteil: Taten wie diese zerstören nicht nur Leben – sie erzeugen noch dazu Schuldgefühle bei denen, die sich nichts vorzuwerfen hätten.
Auf der Anklagebank wieder einmal einer, der den Blick senkt, während er hört, was man ihm vorwirft: Einer, dem (im Nachhinein) alles zuzutrauen war – einer, in dessen Gedanken man gelangen möchte um zu finden, welche Schalter umzulegen sind, um solche Taten zu begehen – Taten, die von einem Planeten zu stammen scheinen, der außerhalb des Sonnensystems der Menschlichkeit in einem Schattenreich spielen. Gibt es dort den Planet Gewissen? Wer will das sagen? Vielleicht muss es von anderswo kommen.

Denken Sie immer an mich

„Ich bitte Sie, dass Sie all diese Vorfälle aufzuklären. […] Seit sieben Jahren schlafe ich nachts jeweils nur zwei Stunden. Ich denke immer: Warum ist das geschehen? Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett legen. Denken Sie bitte immer daran, dass ich nicht schlafen kann.“ (Mutter eines Opfers im NSU-Prozess; aus dem Podcast: Saal 101.)