Schreibkraft
Heiner Frost

Falsche Herrscher

Markus Diegmann ist 52 Jahre alt. Sein Leben besteht aus Bildern. Diegmann ist weder Maler noch Fotograf. Er ist ein Missbrauchsopfer. Seine Vergangenheit ist unbewohnbar.


Drei Täter hat es gegeben. „Der erste war ein Schießbudenmann auf der Kirmes. Dann war es ein Mieter in unserem Haus und schließlich der beste Freund meines Vaters.“ Bilder. Situationen. Taten. Alles gehüllt in Schweigen. „Ich war damals ein Kind. Ich habe nicht wirklich gewusst, was das mit mir anrichtet. Du nimmst das nicht wahr. Es ist erst einmal, als wärest du gar nicht Teil des Geschehens.“
„Irgendwann“, erklärt Diegmann, „kommt es zurück.“ Das endet fast immer mit einem totalen Zusammenbruch.
Diegmann war lange ein Macher. Mit 22 war er Deutschlands jüngster Berufsschullehrer. Später bildete er in den Staaten Journalisten aus. Er war einer vom Stamme „First to come, last to go“. (Morgens als erster da – abends als letzter nach Hause.) Dann: Die Kündigung. Das Loch. Das Nichts. Dann kam, was lange Zeit irgendwie tief innen begraben war. Diegmann spricht von einem chronisch komplexen Trauma. Er erzählt vom quälenden Gang durch Institutionen. Therapie ja, aber … „Du musst natürlich erst einmal als Opfer anerkannt sein.“ (Anerkennung – was für eine Vokabel angesichts eines kontaminierten Lebens.) Ja – es muss ergänzt werden. Nicht nur Diegmanns Vergangenheit ist unbewohnbar. Sie hakt sich ins Jetzt ein – immer wieder. So wird auch die Zukunft infiziert. Ein Sexualleben gibt es längst schon nicht mehr. Diegmann war verheiratet. Er hat einen Sohn. Aber Bindung ist längst eine der Unmöglichkeiten in seinem Leben. Denkt man angesichts eines solchen Lebens an Suizid? „Ja. Ich kann jederzeit darüber entscheiden.“ Versuche hat es gegeben. Natürlich denkt man als Außenstehender: Gut, dass es nicht geklappt hat, aber man kann nicht hinabsteigen in diese Biografie. Ahnungen entstehen – Ahnungen davon, dass ein Mensch einem anderen das Leben nimmt ohne ihn umzubringen. Zurück bleibt eine Ruine.
Markus Diegmann ist seit 17 Monaten unterwegs. Die Mission: Aufmerksamkeit. Mit seinem Wohnmobil fährt er durch Deutschland, steht in Fußgängerzonen, sammelt Unterschriften, verteilt Flyer. Immer dabei: Picasso. Picasso ist ein Hund und vielleicht der einzige, der Diegmann zurückholen kann, wenn die Bilder übermächtig werden.
Gibt es denn keinen Lichtblick? „Nein.“ (Man steht schweigend da. Irgendwie verswchwimmt alles in Unfassbarkeit.) „Die Bilder kommen immer wieder“, sagt Diegmann.
Auf einem der Flyer am Stand vor dem Wohnmobil steht: „1.000.000 Unterschriften zur Abschaffung der Verjährungsfrist bei sexuellem Kindesmissbrauch.“ Mord verjährt nie, denkt man und dann denkt man an das, was der Missbrauch aus Kindern macht. Dass sie in einem unbewohnbaren Leben hausen, das doch eigentlich ihr eigenes sein sollte, aber es gehört – auch Jahrzehnte danach – noch immer den Tätern. Sie sind die falschen Herrscher.
„Pro Tag werden in Deutschland 41 Fälle von Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer liegt bis zu 20 Mal höher“ – auch das steht auf dem Flyer. („Tour 41“ steht auf Diegmanns Wohnmobil. Jetzt versteht man es.) Diegmann ist unterwegs, um zu thematisieren. Neben ihm steht ein Klever: Holger Krupp. Auch er ist ein Opfer. Auch er kämpft gegen die Vergangenheit. Seit 17 Monaten ist Diegmann unterwegs – unzählige Städte hat er bereist. Meist ist er für zwei Tage vor Ort. „In Kleve bin ich nur heute“, sagt er. Und er spricht der Stadt einen Dank aus: „Die haben hier keine Gebühren erhoben“, sagt er und man denkt: Gebühren??? In Koblenz haben sie ihm 190 Euro in Rechnung gestellt. Das sei halt so, haben sie gesagt. Man muss das nicht kommentieren. Manchmal ist die Wirklichkeit ihr eigener Kommentar.
„Seit 2017 gibt es“, erzählt Diegmann, „einen Verein: Tour 41 e.V. . Die kümmern sich jetzt um die Logistik meiner Tour.“ Natürlich ist der Verein im Internet: tour41.net. Zwei Zahlen beherrschen die Homepage: 22.633 die eine – 29.302 die andere- Die erste steht für die seit 1. Januar 2017 neu angezeigten Fälle von Kindesmissbrauch, die andere für die Zahl der ab demselben Datum gesammelten Unterschriften. Für eine Gesetzesänderung werden eine Million Unterschriften gebraucht. Was wünscht man beim Gehen? Einen schönen Tag?