Schreibkraft
Heiner Frost

Ein kurzer Prozess

Tatort: Computer

Manche Prozesse sind schnell erledigt. Eine deutliche Beweislage in Kombination mit einem geständigen Angeklagten können hilfreich sein. Gerade einmal 30 Minuten dauerte ein Prozess, der im Pressespiegel mit „Verbreitung pornographischer Schriften, 8.30 Uhr, Tatort Kranenburg“ angekündigt war. Austragungsort: Saal A1 beim Klever Amtsgericht.


30 Minuten – das hätte man bei einem Handtaschendiebstahl erwartet. Aber es ging, siehe oben, um die Verbreitung pornografischer Schriften. Ein Fragezeichen bäumt sich auf: Schriften? Dann wird die Anklage verlesen und schnell wird klar, dass Schriften keine Schriften sein müssen sondern vielleicht besser Material genannt werden könnten. Das Material hat zwei Vornamen – der eine: kinderpornographisch. Der andere: jugendpornografisch. Es wird deutlich, dass man froh sein kann, von den über 6.000 Bildern und Videodateien nichts ansehen zu müssen. Die Richterin wird später sagen, dass sich die Bilder einprägen und man ahnt, dass, was sie eigenlich meint, viel schlimmer ist.
Auf der Anklagebank: einer, der keinem Monsterklischee entspricht. Einer, der selbst Kinder hat – sie sind Erwachsene.
Der Angeklagte hat, auch das erfährt man, „beim Kreis“ gearbeitet. Sie haben ihn, als die Vorwürfe bekannt wurden, entlassen. Der Angeklagte räumt ein, was man ihm vorwirft. Fast drei Jahre hat es gedauert bis zum Tag der Verhandlung. Ein mächtiger Vorlauf – geschuldet der Menge an zu sichtenden Materials. (Langer Anlauf, kurzer Prozess.)
Der Angeklagte hat sich, nachdem die Untersuchungen begannen, in Behandlung begeben und sieht sich als austherapiert.
Jetzt also geht es um Erwerb, Besitz und Vertrieb des „Materials“. Ja – seine Familie weiß vom Prozess. „Meine Familie steht hinter mir“, sagt er und man fragt sich, wie schwer das sein muss. Die Richterin fragt sich empathisch in ein Leben. Das mit der Familie möchte sie genau wissen und man spürt, dass es ihr wichtig ist. Später wird sie fragen, was X. tun würde, wenn er merkt, „dass ihn da wieder etwas überkommt“. X. sagt, dass das nicht passieren wird. „Aber was, wenn doch?“ X. würde sich Hilfe holen.
Vor Gericht werden viele Dinge gesagt. Manche werden gesagt, weil sie sich gut anhören und Vorteile bringen sollen. In dieser Frage-Antwort-Sequenz meint man Aufrichtigkeit zu spüren. Aber was ist schon eine Meinung im Angesicht des Gesetzes?
Die Fakten der Tat – unwidersprochen. Der Angeklagte räumt alle Vorwürfe ein. Dann allerdings beginnt der Verteidiger, die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft anzugreifen und spürt, dass er an sich halten muss, um nicht „zu platzen“. Bis heute habe er keine Akteneinsicht erhalten und von der Anklageschrift erst durch einen Kollegen erfahren, der den hier Angeklagten arbeitsrechtlich vertreten hat.
Der Arbeitgeber des Angeklagten wusste Vieles, bevor der Anwalt Kenntnis davon bekam. Die Verteidigung sei übergangen worden. Kein gutes Zeugnis für die Ermittlungsbehörde. Der Angeklagte und sein Anwalt: völlig allein und im Regen stehend. Viel deutlicher kann einer nicht werden, denkt man. Und man denkt auch: Wie man es nun dreht und wendet: So sollte es nicht sein. Dass die Sichtung des Materials – „für ein Verfahren beim Amtsgericht ist es eine exorbitante Menge“, sagt die Richterin – Zeit in Anspruch nimmt, lässt sich nachvollziehen, dass aber die Verteidigung keine Akteneinsicht erhält …
Die Staatsanwältin fordert am Ende ihre Plädoyers ein Jahr und sechs Monate – auszusetzen zur Bewährung – und eine Zahlung von 3.000 Euro an das Klever Kindernetzwerk.
Strafschärfend sieht sie die Tatsache, dass der Angeklagte selbst Vater ist. Sein Geständnis, sagt sie, sei von geringem Wert angesichts des sichergestellten Materials.
Seines Wissens gebe es keine Geständnisse erster und zweiter Klasse, wird der Verteidiger in seinem Plädoyer antworten und er wird sagen, dass es ihm völlig neu sei, dass Vaterschaft ein strafschärfender Umstand sei. Dass die Staatsanwältin Moral ins Spiel gebracht habe, sagt er, sei fehl am Platz: „Hier geht es nicht um Moral. Hier geht es um das Gesetzbuch.“
„Sie sprachen“, sagt der Verteidiger in Richtung der Staatsanwältin, „von einem gewissen Maß an Reue.“ Der Angeklagte sei mit seinem Bedauern ein Fall fürs Bilderbuch. Geschenkt, denkt man. Wer soll Reue klassifizieren? Es ist wie mit dem Gestehen.
Irgendwie kann man beide Argumente nachvollziehen. Man ahnt, was „der Staat“ meint („Wie kann einer, der selber Kinder hat, so etwas tun?“), aber tatsächlich geht es um das Gesetz. Herz und Verstand beginnen eine innere Debatte.
Der Verteidiger bittet um eine Strafe mit Augenmaß. Das Urteil, verkündet von einer jederzeit souveränen und mit Augenmaß den Prozess führenden Richterin: Ein Jahr – ausgesetzt zur Bewährung. Dazu eine Zahlung von 2.000 Euro an das Klever Kindernetzwerk – zu zahlen in Raten à 400 Euro. „Hier“ möchte sie den Angeklagten nicht mehr wiedersehen, sagt die Vorsitzende. „Draußen jederzeit.“ Der Staat und die Verteidigung verzichten auf Rechtsmittel. Im Kopf bleiben Beschreibungen dessen, was Männern Kindern und Jugendlichen angetan haben und antun. Man ist zornig, dass es dergleichen gibt.
Nein – eigentlich ist es kein Zorn, es ist eine Art Resignation, eine stumme Hoffnungslosigkeit. Man wünscht, dass es niemals einen Rückfall geben wird, denn es wäre ein Rückfall in etwas, das Barbarisch anmutet. Ein kurzer Prozess. Was zu sagen war, wurde gesagt. Man wünscht den Opfern, dass ihr Leben nicht schon am Anfang zerstört wurde.