„Grüß Gott in …“
Der gemeine Niederrheiner sehnt sich, kaum ist die Urlaubszeit angebrochen, nach einem Aufenthalt irgendwo da, wo es schön (warm) ist. Was für die einen Meer und Brandung, ist den anderen ein zünftiges Gebirgspanorama mit Seilbahn, Sommerrodeln und Mountainbiking. Zwar ist der Niederrhein längst selbst zur (Kurz)Urlaubsregion geworden, aber für die Ferien gilt: Am besten schmecken die Kirschen aus Nachbars Garten. Des einen Traumziel ist des andern Heimat. Und Arbeitsplatz. Knapp 730 Kilometer südlich vom Kreis Kleve liegt das Hochallgäu — eine Traumlandschaft aus Bergmassiven, Seen und Almwiesen. Gegend vom Allerfeinsten. Eines der Dörfer im Zentrum des Alpentourismus ist Bad Oberdorf – Ortsteil von Bad Hindelang: Geraniengeschmückte Balkone an bayerischen Häusern; Kühe, die morgens auf die Weide geführt werden und dabei den Klang ihrer Kuhglocken durchs Dorf tragen; der Bäcker gleich gegenüber: Sonntags geschlossen. Durch die Woche gibt’s Brezeln und Semmeln; Städte und Dörfer mit Schildern an den Ortseinfahrten, auf denen „Grüß Gott in …“ zu lesen ist — kurz: Das perfekte Urlaubsidyll für den Bergfan.
Letzter Urlaub: 1978
Gertrud Karg vermietet hier ganzjährig zwei Ferienwohnungen. Für sie spielt sich das Jahr in Wochenintervallen ab. Sie lebt da, wo viele andere auch gern länger bleiben würden, aber sie ist nicht zum Spaß hier, nicht zur Erholung. Und Freizeit? Na ja. Urlaub gemacht hat sie zuletzt 1978. Die blumengeschmückten Balkone an ihrem Haus sind mehrfach mit Preisen dekoriert worden. Geranien im Farbwettstreit. Kleve kennt die Allgäuerin aus ihrem „ersten Leben“. Gertrud Karg arbeitete in einem Schuhgeschäft. Da kennt man halt bestimmte Marken. „Auf den Schuhkartons, die wir bekamen, stand als Poststempel immer Kleve.“ Am Niederrhein ist sie nie gewesen. „Keine Zeit.“ Ihr Mann besorgt den kleinen Hof — treibt allmorgendlich die Kühe auf die Weide. (Tiere kennen keinen Sonntag.) Aufgestanden wird um sechs in der Früh. Wenn die Touristen noch in den Betten liegen und träumen, sind Gertrud und ihr Mann Gregor längst mit dem Tagwerk beschäftigt. Apropos träumen: Wovon träumt denn jemand wie die Karg. Die Antwort ist verblüffend einfach: „Ausschlafen wär‘ schön.“
Von Beruf Gastgeberin
Seit 1978 ist Gertrud Karg „von Beruf Gastgeberin“. Vorher haben ihre Eltern davon gelebt. Seit 1978 haben die Kargs das Wort Urlaub nur noch von anderen gehört. Gäste haben sie schließlich das ganze Jahr über. Wenn sich im Winter die Berge weiß anziehen, kommen die Skifahrer. Resultat: Für Urlaub keine Zeit. Und wenn doch, wohin würden sie denn fahren? An die Nordsee möchten sie. Einmal sind sie da gewesen. 1978. Mit den Kindern. Als die noch klein waren. Lang ist’s her. Gertrud Karg ist immer freundlich — immer nett. Den Gästen zuliebe? Ein bisschen vielleicht. Aber mehr als die Hälfte — diesen Eindruck gewinnt man schnell — mehr als die Hälfte von Gertrud Karg ist ohnehin mit Freundlichkeit und Optimismus angefüllt. Sie ist Spezialistin in Sachen Touristik. Immerhin vermietet sie seit fast 30 Jahren Ferienwohnungen in Bad Oberdorf. Hat sich denn etwas geändert am Urlaubsverhalten ihrer Gäste? „Auf jeden Fall. Vor 15 Jahren kamen die meisten Gästen für drei Wochen — manchmal blieben sogar vier Wochen. Wenn der Urlaub zu Ende war, setzte man sich zusammen, holte den Kalender, und es wurde gleich fürs nächste Jahr gebucht.“ Heutzutage wird zum einen wesentlich kurzfristiger gebucht, und zum anderen hat sich die Verweildauer geändert. Länger als zwei Wochen bleiben die wenigsten. Und was das Buchen im Voraus betrifft, kann das Ganze schnell zum Urlaubslotto mutieren. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Oder: Wer lange zögert, muss halt nehmen, was übrig bleibt. Früher hatte Gertrud Karg mehr Stammkundschaft. Das hat sich geändert. Oder besser gesagt: Die neuen Stammkunden müssen nachwachsen, weil die alten im wahrsten Sinne des Wortes aussterben. Tourismus im Generationswandel.
Die Zeiten sind halt schlechter
So viel allerdings scheint sicher: Allgäu macht süchtig. Kaum jemand, der nach dem Motto „Einmal und nie wieder“ die Heimreise antritt. Wie war denn der Sommer 2004 aus Gastgebersicht? „Nicht sehr gut“, resumiert Gertrud Karg. Die Zeiten sind halt auch schlechter geworden, und vielen sitzt das Urlaubsgeld nicht mehr ganz so locker. Früher, erinnert sich Karg, gab es Gäste, die kamen mehrmals im Jahr und blieben zwei oder drei Wochen. Vorbei. Das aber liegt nicht nur am Geld — das Urlaubs- und Reiseverhalten hat sich geändert. Und eines steht fest: Es gibt wahrhaft Schlimmeres als das Vermieten. Die Gäste haben Urlaub, sind quasi automatisch gut gelaunt. Wer nach 700 Kilometern Anreise die Passstraße von Oberjoch nach Bad Hindelang hinabtaucht (wie Luftschlangen schmiegen sich die Kurven an den Berg), für den ist die Welt in Ordnung. Bei gutem Wetter schweben Drachen- und Gleitschirmflieger über den Gipfeln. Auch die Fahrradfahrer kommen hier auf ihre Kosten. Wer’s gern flach hat, muss nicht klettern. Im lang gezogenen Talkessel fühlt sich der Niederrheiner fast schon heimisch. Aber wer es mit den Bergen aufnehmen möchte, der braucht schon ‚a bisserl a Kondition‘. Schee ist’s da herunten. Und familienfreundlich. Vom Tourismus scheint hier fast jeder zu leben. Kaum ein Haus ohne das Schild „Ferienwohnung“ oder „Gästezimmer“. Ob die alle noch nie im Urlaub waren? Wer weiß. Eins steht fest: Irgendwann werden auch Gertrud und Gregor Karg die Koffer packen und an die Nordsee fahren. Es kann halt noch ein paar Jahre dauern. Die Tochter wird das Gästehaus übernehmen. Tourismus in der dritten Generation.