Schreibkraft
Heiner Frost

Weimar – Genie und Wahn

Ein satter Blick ins Tal. Harz voraus. Buchen im Herbstkleid. Goethe, Schiller. Weltliteraturerzeuger. Die Gäste von heute: Weltkulturerben. Geschichte als Denkmal. Nicht jedes Erbe möchte man antreten. Geschichte ist kein Supermarkt. Nicht im Nachhinein und schon gar nicht, wenn sie stattfindet. Goethe-Haus, Schiller-Haus.

Schillers Weimar-Kaufhaus: Schmucklosnichtssagende Tagesarchitektur von der Stange. Wer alles hier war: Bach, Liszt, Wagner, Grieg…

Buchenwald: Ein besonderer Ort. Die Audioguide-Stimme erzählt von freud losen Tagen – reiht Fakten auf, reibt an der Seele. Im Schiller-Haus: Möbel, Zitate.

„Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie …“ (Schiller an Caroline von Beulwitz)

Schreibfedern im Museumsshop. Von der Fleckfieberbaracke sind nur Fundamente geblieben. Alles hat sich aus dem Staub gemacht. In den Staub.

[Da habt ihr ein Grab in den Wolken. Da liegt man nicht eng. Paul Celan: Todesfuge]

Vom Genie in der Stadt zeigen sie alles – vom Wahnsinn nichts als karge Reste, die man zu jenem Grauen zusammenbaut, das ohnehin in keinen Kopf passt. Erinnern als Programm. Im Bauhaus-Museum: Wege zum Schönen. Am Lagertor: Wege in den Untergang.

[Ich bin der Tod, der Gärtner Tod und säe Schlaf in schmerzpflügte Spuren. Peter Kien: Der Kaiser von Atlantis]

Stille über dem Land. Vielleicht muss, wo Geschichte so viel Genie zurückgelassen hat, das Grauen zum Nachbarn werden. Vielleicht ist es nur ein von Dramaturgie gespeister Kunstgriff, dass beides in derselben Stadt wohnt. Vielleicht muss bewiesen werden, dass wir nicht nur Dichter und Denker sind. Wir haben auch das Zeug zur Architektur des Untergangs. Das Unheil wächst überall. Mittelmaß zieht Mittelmaß an: Grenzlinien sind nicht notwendig.

Literatur hier – Sprachlosigkeit dort. Wortgewalt hier – Unsagbarkeit dort. Ein Hinweisschild vor den Ruinen der Häftlingswäscherei erklärt: ‚Hier hat die Goethe-Eiche gestanden.!‘ In der Stadt – rot auf eine Mauer gesprayt: „Deutschland, du Opfer.“

Schiller-Haus: „Das macht dann 17.50 Euro. Die Taschen bitte ins Schließfach. Fotografieren bitte ohne Blitz. Möchten Sie einen Führer?“ Diese Frage passt zehn Kilometer weiter besser. Am Ende der Blutstraße: Buchenwald. „Wir nehmen hier keinen Eintritt. Sie können nachher eine Spende da lassen.“ Auf dem Todesgelände: Regeln für die Besucher. Hier steht die Zeit. Buchenwald taugt nicht für die Werbung.

Am Ende des Rundgangs: Das Krematorium. Eine Frau weint sich durchs Elend. Vor den Öfen: Zwei Jugendliche mit Smartphones „Nicht wirklich?“ „Doch!“ „Kein Empfang.“ Ein älterer Herr fragt nach den Toiletten. Auf dem Parkplatz ein Bushaltestellenschild: Kein Einstieg. Am Ausgang: SMS von einem Freund. „Erreich’ dich nicht. Wo steckt ihr?“ „Kurzurlaub. Weimar. Genie und Wahn. Mittags KZ, abends Lammrücken.“ Über allen Wipfeln ist Ruh’.

(September 2015)