Schreibkraft
Heiner Frost

Der Duft der falschen Rosen

Am Ende ist Sjef ziemlich fertig: Gut fertig irgendwie. Er schwitzt. Das liegt nicht an der Theatertemperatur. Dann müsste ich auch schwitzen. „Komm vorbei. Schau‘s dir an“, hatte Sjef gesagt. Also: Auf zur Sonderfahrt. Theater für einen Gast …

Nicht mehr als ein Funke

Sjef van der Linden ist Bruno. Oder ist es umgekehrt? Sjef sagt: „Ich muss nicht Bruno werden. Bruno muss in wir wachsen.“ Man sollte – spätestens jetzt – erklären, wer Bruno ist. Die Kurzfassung: Bruno ist Briefträger. Aber irgendwie reicht das nicht aus, diesen Menschen zu beschreiben. Bruno ist eine Kunstfigur. Er ist die titelgebende (und einzige) Person im neuen Stück beim Theater mini-art in Bedburg-Hau. Sjefs Aufgabe: Aus der Rolle in die Wirklichkeit wachsen. Bruno ist schließlich nicht mehr als ein Funken aus einem Textbuch – weniger noch. Bruno ist die Vorstellung des Autors. Sjef muss Feuer legen. Am Ende muss Bruno in die Theaterwirklichkeit verbrennen. Sjef beschreibt das Wunderbare des Theaters so: „Was wir erzählen wird zur Wahrheit.“ Und während Sjef sich umzieht, trifft die äußere Hülle der Wahrheit ein. Bruno ist – das wird schnell klar – liebenswert überzeichnet. Bruno ist nicht der Briefträger unserer Tage.

Wohnpaket

Überhaupt werden ja Briefträger nicht in einem Wohnpaket angeliefert, das stückanfangs stumm auf der Bühne ruht. Adressaufkleber: Brückenweg Bedburg-Hau. Bruno – also sein Wohnpaket – ist eine Eilzustellung. Bruno hat etwas abzuliefern. Eine Geschichte, die auch seine Geschichte ist. Aberwitzig kommt sie Wort für Wort, Satz für Satz, Bild für Bild in Fahrt. Bruno ist einer, der das Menschsein noch nicht verlernt hat und seinen Beruf als Berufung sieht – nicht als Job. Wie könnte er sonst in einem Paket wohnen, das gefüllt ist mit lauter Vergangenheiten, von denen er nur eine ist. Lauter Absonderlichkeiten bietet die Kulisse: Kofferplattenspieler, Dampfradio, Diaprojektor – Dinge aus dem Gestern. Ganz so wie ihr Besitzer. Aber: Brunos tiefsitzende Menschlichkeit ist eben nicht von gestern.
Bruno der Briefträger ist, könnte man meinen, ein Bühnenessay über das Vergangene im Jetzt oder umgekehrt. Das ist natürlich (nicht) wahr. Trotzdem ist „Bruno, der Briefträger“ ein Kinderstück – eines, das sein Publikum nicht zu bloßen Textempfängern macht sondern einbezieht. Bruno ist nicht einer, der auf der Bühne sein Ding herunterkurbelt – er ist einer, der Stärke aus seiner Verletzlichkeit saugt. Einer, der in seiner ungeschützten Ehrlichkeit den Graben zwischen Bühne und Parkett schließt.

Was wir erzählen …

Man kann jetzt nicht Spoilern. Man darf nicht die Geschichte vorerzählen. Aber man darf von einer skurrilen Reise erzählen, die Brieftragbruno unternimmt, um eine Nachricht persönlich zu überbringen. So hat er es von seinem Chef diktiert bekommen. So wird er es ausführen.
„Was wir erzählen, wird wahr“, sagt Brunosjef, und dann tritt er eine Stunde lang den Beweis an. Bruno malt die Welt in Worten auf, und im Kopf trifft sie in Bildern ein, die kein Film besser einfangen könnte. Bruno ist Phantasiebeweger – er legt die Vorstellung aus wie einen Köder. Über den macht sich jeder her, wie er oder sie es möchte. Das ist Theater. Plötzlich hängt man am Seil eines Ballons, sieht sich einer großen Dogge gegenüber, vor der es auf das Dach eines Schuppens zu flüchten gilt. Wie zähmt man einen kalbsgroßen Hund? Bruno versucht es mit Singen. Die Dogge schläft und Bruno kann die Briefträgerflucht antreten.
Es ist wie damals bei der Puppenkiste: Das wilde Meer – nur eine windunterblasene Cellophanfolie.
Man versteht, dass Sjef am Ende nassgeschwitzt am Bühnenrand sitzt und den Bruno in sich bis zur nächsten Vorstellung ade sagt. Oder nimmt er ihn mit ins theaterferne Leben? Sjef van der Linden – da liegt das Verdienst – hat am Ende dem Bruno in sich so viel Platz gegeben, dass man – träfe man ihn auf der Straße – irritiert wäre, dass er kein Briefträger ist. Theater bedeutet: Du sollst es nicht spielen. Du sollst es sein.
Fast schweigend schleiche ich mich davon. Ich muss an den Blumenstrauß denken. Bruno hatte ihn in der Hand. „Sind die nicht schön?“, hatte er gefragt und gesagt „und so frisch“. Da ist es: Das Theaterparadox. Klar sehe ich, dass die Rosen aus Papier sind. Aber warum kann ich den Duft riechen? „Was wir erzählen, ist wahr.“ Ein bisschen Bruno möchte ich unverquatscht ins Freie retten, wo es im Lauf des Tages verglühen wird.