Felix ist das, was man einen Schrank nennt — einer von denen, die einen Automotor hochheben und fragen: „Wo willze ihn denn hin haben?“ Felix ist Ende 30 und war — zwanzig Jahre mag das jetzt wohl her sein — mein erster Schüler. Gitarre. Felix ist einer, der auch das getan hat, was man ‚Scheiße bauen‘ nennt. Er hat Autos frisiert, ist ohne Führerschein damit unterwegs gewesen und hat Unfälle gebaut. Nichts Schlimmes. Aber erwischt haben sie ihn. Da musste er halt länger warten, bis er zur ersten Fahrstunde durfte.
Der friedliche Riesenkarpfen
Der ‚Schrank Felix‘ ist immer einer von denen gewesen, die man eine ‚gute Seele‘ nennen würde. Trotz seiner enormen Ausmaße war Prügeln nie ein Thema für ihn. „Mit dem legst du dich besser nicht an“, denkt jeder. Felix, der friedliche Riesenkarpfen, der viel zu früh und viel zu unvorbereitet ‚Liebe machte‘ und Vater wurde — ein sehr guter Vater — Felix baut keine Scheiße mehr, denn er liegt jetzt auf der Palliativstation. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Endstadium. Einer, der das ist, was man ‚austherapiert‘ nennt. Sie haben ihn — drei Tage ist das her — aus dem Krankenzimmer auf die ‚letzte Station‘ verlegt. Vorher war er noch mal eine Woche zu Hause. „Vielleicht kann ich da sterben, dachte ich“, sagt Felix. Dann wieder zurück ins Krankenhaus. Zu Hause ging es nicht. Jetzt haben sie ihn verlegt. Es war einer der Tage, an denen er noch selbst gehen konnte. Schlurfen.
… und dann ist da diese Tür
Felix sagt: „Diese Station ist wie der letzte Urlaub. Du gehst einen langen Gang entlang — dann ist da diese letzte Tür: Dahinter riecht es nach Blumen. Es ist alles licht und hell, und du hast dein eigenes Zimmer, in dem Bilder an der Wand hängen. Egal, wie es im Leben war — das Sterben machen sie dir so angenehm wie möglich.“ Wenn Felix das sagt, wird es still in meinem Kopf und irgendwie leer. Alles füllt sich an mit den Felixworten, die auch Teil einer Trauerpredigt sein könnten: „Dann ist da diese letzte Tür. Es riecht gut. Alles ist hell. Jeder hat sein eigenes Zimmer.“ Aber es ist wirklich so: Am Ende des Ganges die Tür zu einer Station, auf der es nicht mehr nach Krankenhaus riecht.
Wunder sind nicht zu erwarten
Schmerzen gibt es kaum. „Eigentlich gibt es doch keinen Grund zum Sterben, wenn dir nichts weh tut. Aber trotzdem merkst du, dass es dich von innen auffrisst.“ Felix ist Ende Dreißig. Die Vierzig wird er nicht mehr erleben. Wunder sind nicht zu erwarten. Die Nächte sind schlimm. „Die Angst vor dem Schlaf, der dich nicht mehr hergibt.“ Vorgestern haben sie nachts ein zweites Bett ins Felixzimmer gerollt: Für seine Frau. Die ist froh, dass er hier sein darf. Zu Hause wäre es nicht gegangen. Die Kinder. Das Leiden. Eine Nacht hat sie Felix besucht und neben ihm im Bett gelegen. „Wir haben Händchen gehalten“, erzählt der Schrank, und ein bisschen lächelt er: „Mehr geht nicht.“ Dann wird der Blick flüchtig. „Es war schön. Kein Schrecken in der Dunkelheit. Da war ja ihre Hand.“ Die Eltern möchten, dass Felix zuhause stirbt. Da kann die Station so schön sein, wie sie will. Felix soll zuhause sterben. Aber Felix möchte lieber bleiben. Hier hat er ein Zimmer. Hier helfen ihm Menschen, die sich auskennen. Hier muss ihm sein Tod nicht peinlich sein.
„Das nimmst du nicht weiter ernst.“
Zwischendurch denkt Felix, dass er doch noch so viel hatte machen wollen: Das Haus im Frühjahr wieder auf Vordermann bringen. Sich um den Garten kümmern. Im letzten Sommer hat doch niemand an ’sowas‘ gedacht. Sie haben den nächsten Sommer geplant. Dann die ersten Beschwerden. „Das nimmst du nicht weiter ernst.“ Aber innerhalb von zwei Wochen erreichen die Schmerzen einen Pegel, der unüberspürbar ist. Das erste Untersuchungsergebnis ist gleich niederschmetternd. „Jetzt bleibt mir vielleicht noch eine Woche“, sagt der Schrank. „Es ist schon verrückt, wie unwichtig mit einem Mal alles wird.“
Es kommt kaum noch etwas vor
Auf dem Nachttisch eine Zeitung. Felix zeigt auf eine der Überschriften: „Die Deutschen sterben aus.“ Er sieht mich an: „Ich sterbe aus. Das ist etwas anderes. Der Tod fängt bei mir an. Ich hätte doch nie gedacht, dass Tod etwas mit mir zu tun hat.“ Noch kurz vor Weihnachten hat er mit ein paar Freunden eine Tippgemeinschaft gegründet: WM. Jetzt kommt Fußball nicht mehr vor in seinem Kopf. Es kommt kaum noch etwas vor. Die Angst. Die Hoffnung. Woran soll einer glauben, der fast vierzig Jahre wenig geglaubt hat. „Erstkommunion — danach kam nicht mehr viel. Die Kommunion der Kinder. Ostern. Weihnachten. Den Pastor mal auf der Straße getroffen. Die Beerdigung der Großeltern.“ Über die eigene will er nicht nachdenken. Seine Eltern: Wenn sie kommen, versucht er, die Verzweiflung einzufärben. Es stimmt etwas nicht an der Reihenfolge des Sterbens, wenn die Kinder zuerst gehen. „Früher, wenn es auf Klassenfahrt ging oder ins Ferienlager, hat meine Mutter den Koffer gepackt: Was wichtig war, kam rein. Jetzt gibt es nichts zu packen, obwohl doch die längste Reise ansteht.“ Felix, der Schrank, weiß nicht, wovor er sich fürchten soll: Vor dem Sterben oder vor dem Totsein. Der Pastor war da. Felix hat jetzt eine Telefonnummer, aber er wird nicht anrufen können, wenn es so weit ist. Felix ist jetzt müde. Ernährt wird er nur noch über eine Sonde. Trotzdem krempelt es ihn manchmal von innen nach außen. Dann würgt er heraus, was eigentlich gar nicht da sein kann. Davor graust es ihm. Das macht Endlichkeit bewusst. Und wenn ihn jetzt jemand erlösen könnte – hier und auf der Stelle? Felix denkt nach. „Nein. Ich will alles haben, was noch da ist.“ Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wir sehen uns
„Schreib keinen Quatsch über mich. Schreib nicht, dass ich ein lausiger Schüler war. Ach, schreib, was du magst“, sagt der Schrank und drückt mir die Hand. Farbe hat er nicht mehr. Alles an ihm ist weiß — ein tonloses Grauweiß. „War gut, dich mal wieder getroffen zu haben“, sagt Felix und lächelt. „Ich schätze, wir werden uns nicht mehr sehen. Trotzdem schön, dass du noch mal da warst. Und jetzt hau ab. Ach übrigens: Unsere Kleine spielt Flöte. Nicht mal schlecht. Die übt auch jeden Tag. Nicht so wie ich damals. War trotzdem schön, und an dir hat’s nicht gelegen. Jetzt bin ich müde. Dreh dich nicht um, wenn du raus gehst. Ich bin müde.“ Am nächsten Abend ruft mich der Pastor an. Er soll Grüße bestellen. Felix ist tot. Er ist eingeschlafen. Tschüss, Felix! Wir sehen uns.