Schreibkraft
Heiner Frost

Das Samocca Prinzip

Die Revolution an der deutschen Kaffeefront geht so: Drinnen keine Kännchen. Und draußen auch nicht. Kaffee ist längst mehr als ein warmes Getränk. Das ist im Samocca in Kleve nicht anders.

Das Aquarium

Die Wand: Gelb. Davor: Ein Ledersofa: Schwarz. An der Wand: Ein hölzernes Rechteck. In dem Rechteck: Ein Aquarium. Schief – circa 15 Grad rechtsneigend. Es müsste auslaufen, aber das Aquarium ist kein Auslaufmodell. Im Aquarium: Rote Fische. Die Fische sind echt. Das Aquarium: Ein Monitor. Im nächsten Winter wird er Feuer speien. Auf den Tischen: Blumen, Bleistifte, Bestellkarten zum Ankreuzen. 60 Plätze. Stil regiert. Nicht nur im Café. Auch die Toilettentüren sollten beschrieben werden. Falsch: Sie sind es ja schon. Kein Männ- oder Weibleinbild ziert gusseisern oder gemalt die Türfüllung – Schrift hat das Sagen: „Mann, Herr, Er, (gestandenes) Mannsbild, Mannsperson, Jöckel, Mannsstück (abwertend), Kerl (abwertend)“ – beginnt die Beschreibung – und also Beschriftung des „herrlichen“ Eingangs. Bei den Damen? „Sie, Frau, Dame, Lady, Evastochter …“ Diagnose: Einmalig. Designerstück. Die Diagnose: Teils richtig. Designerstück stimmt – einmalig stimmt nicht. Samocca -ein Café in Kleve. Die Einschätzung: Alles ganz normal. Diagnose: Teilweise richtig.

Kann passieren

Das Personal: Freundlich. Unaufdringlich. Bestellungen findet mittels Zettel statt. Auswahl gibt es reichlich. Die Auswahl trifft der Kunde. Motto: Wer die Wahl hat, macht das Kreuz. Der Bestellschein sieht rechteckige Kästchen vor. Bitte ankreuzen. Ja, können die denn nicht selber schreiben? Antwort: Kann passieren. Im Samocca nämlich ist die Belegschaft eine ganz besondere. Hier arbeiten behinderte Menschen. Das Konzept: Integration. Es geht um die Teilnahme am ganz normalen Wahnsinn Alltag. Der findet nicht im Separée statt, sondern im gegenüber mit der Kundschaft. Die muss nicht wissen, wer hier bedient – darf es aber. Es gibt kein Schweigensmäntelchen. (Die Quadratur des Kreises: Man schreibt über das Integrationskonzept und es wäre doch viel besser, alles wäre nicht nötig. Normal ist, wenn es funktioniert.)

Keimzelle Projekt

Samocca ist halt nicht nur ein Café – Samocca ist eine Idee. Es gibt verschiedene „Zweigstellen“. Zu nennen wären: Quedlinburg, Lengerich, Halle an der Saale, Ludwigsburg und Aalen in Baden Württemberg. In Aalen erblickte Samocca das Licht der Welt – ging aus einem Projekt für behinderte Menschen hervor und hat es längst zu zahlreichen Ablegern gebracht. Dergleichen nennen die einen „Franchise-System“ – andere sprechen von einer Kette. Betrieben wird das Samocca von Haus Freudenberg. Eröffnet wurde im Februar, aber es gibt ein Davor. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte.

Günter Berson ist bei Haus Freudenberg Geschäftsbereichsleiter in Sachen Küchen. Auf einer Werkstattmesse in Nürnberg wurde er vor zwei Jahren auf Samocca aufmerksam und war begeistert. Er nahm die Idee mit zurück nach Kleve und leistete Überzeugungsarbeit in der Chefetage. Die ließen sich infizieren und investierten 100.000 Euro in das Konzept. Wer ins Samocca kommt, merkt sofort: Die Investition hat sich gelohnt. Die Atmosphäre stimmt. All das ist Teil des „Systems Samocca“, denn es reicht nicht, eine gute Idee zu entwickeln – sie muss auch umgesetzt, ummantelt werden. Man fühlt sich wohl hier, und das Angebot reicht weit über den Kaffee hinaus.

Die Bohne

Trotzdem – auch über das Getränk ist zu sprechen, denn: Im Samocca rösten sie die Bohnen selbst. Unten im Keller – in 60-Kilo-Säcken, lagert Kaffee im „Rohzustand“. Ungeröstete Bohnen, die eher nach Erdnusshälften aussehen als nach Kaffee. Die Säcke tragen unterschiedlichste Beschriftungen. Auf einem steht: Cafe do Brasil. (Übrigens: Verzollt ist der Kaffee bereits vor der Röstung – besteuert wird er erst hernach. Ein Röstbuch muss geführt werden.) Oben – im Lokal: Die Maschine. Hier werden die Bohnen geröstet und dann in die verchromten Schütten gefüllt. Ein bisschen sieht es an der Theke aus wie in der Dallmeyer Werbung aus dem Fernsehen, nur sind die Schütten nicht aus Porzellan sondern glänzen in Chrom. Wichtig ist nicht nur, was drin ist. Trotzdem: Im Samocca ist Kaffee auch nicht einfach Kaffee. Das Getränk ist hier nicht Mittel zum Zweck – es ist das Zentrum des Denkens, Empfindens, Genießens und wird umkreist von einem Restangebot.

Frisch gebrüht

Die Gesetze deutscher Kaffeeschwerkraft – so viel ist sicher – sind hier aufgehoben, denn eine der Regeln lautet:  Drinnen keine Kännchen. Und draußen auch nicht. Kaffee bedeutet: Jede Tasse wird frisch aufgebrüht. Ein deutsches Café und keine Kännchen? Gewöhnungsbedürftig für alt eingesessene Kaffeenasen. Aber: Der Mensch lernt. Zum Kaffee wird Wasser gereicht. „Das finde ich aber nett“, sprach eine ältere Dame, „dass Sie mir gleich auch das Wasser bringen, damit ich meine Herztabletten einnehmen kann.“ So kann frau sich täuschen. Im Samocca ist eines wichtig: Der Kunde ist kein Störsand im Kaffeegetriebe. Obwohl es nicht immer leicht ist, denn: Nicht jeder „kann Kaffee“.

Kaffee lernen

Zum Beispiel: Kommt ein älterer Kunde ins Cafe, schaut auf die Karte und bestellt den Espresso für Einsdreißig. Wer Espresso bestellt, muss wissen, was dann kommt: Kleine Tasse – halb gefüllt, dazu das obligate Wasser (nicht für die Herztabletten). Der Herr bekommt den Espresso – sieht die halb volle Tasse und schüttet das Wasser in den Kaffee. Ergebnis: Aus dem leckeren Espresso wird eine untrinkbare Plörre. Dumm gelaufen. Dann folgt der Aufstand, der zur öffentlichlautunschönen Veranstaltung wird. Auch sowas gibt’s. Nicht nur im Samocca. Hier gilt: Wer fragt, dem kann geholfen werden. Auf beiden Seiten. Kritik ist willkommen. Auf das Wie kommt es an.

Handschlag

Im Samocca sollen sich Kaffee und Kultur die Hand geben. Geplant sind demnächst auch Veranstaltungen. Das könnten Konzerte sein oder Lesungen. Wiener Kaffeehauskultur auf klevischem Terrain. Zurück zum Profanen, obwohl Kaffee eben nicht profan ist. Im Angebot: Bohnen aus Guatemala, Entkoffeiniertes aus Kolumbien, Kaffee aus Honduras, Mexico, Indien, Indonesien, Äthiopien, Costa Rica und Brasilien – jede Sorte ist mit eigenem Charakter angereist. Aber: Ohne die Röstung ist Kaffee etwas, das aussieht wie Erdnüsse und nicht schmeckt.

Brezel, Bagel und Banane

Natürlich gibt es im Samocca auch Kuchen, heiße Schokolade, Tee und – Exotisches wie „Fritz-Cola“ oder „Sinconada Holunder“, es gibt hausgemachte Kirchererbsencreme (Hummus), Bagel mit Bergkäse oder Banane (mit Nuss-Nougat-Creme), Butterbrezel – es gibt Bagel mit Sesam, Mohn, Mehrkorn, Zwiebel und Kürbiskern. Es gibt Weine und Biere und es gibt: Hipp Gläschen. Erklärungen gibt es auch: „Ein Bagel ist ein einfaches, kreisrundes, koscheres Gebäck mit einem Loch in der Mitte. Das Besondere am Bagel verleiht ihm sein Werdegang, denn in teigigem Zustand lässt man den Bagel zwei Tage lang bei 2 Grad Celsius ruhen, damit sich die bageltypische Haut bilden kann …“ Im Samocca zählt die Atmosphäre. Längst gibt es Stammkunden – Kaffeenasen, Kuchentanten, Atmosphäriker, Leser, Gesellschaftssucher – Genießer sind sie allesamt. Oder vielleicht nicht ganz. Manche sind noch auf dem Weg. Samocca ist eher Slowdrink als Fastfood, eine Zeitoase im Stadtuniversum. Und der Laden funktioniert eigentlich dann am besten, wenn es nicht um Beghinderungen geht.