Schreibkraft
Heiner Frost

Brennende Zeit

Der Silvesterabend des Jahres 1999 war schon eine komische Sache. Wir saßen auf dem alten Jahrtausend wie auf einem gepackten Koffer: Überläufer in eine andere Zeit: Alles eine Gedenkmaschine.

Auf den Deichen: Schienenreste. Und Erinnerungen. Die Loks haben weiße Dampffahnenflocken ausgespuckt, die sich an die Wagendächer klammerten. Holland – dahin fuhr man wie in etwas Fremdes. Ein anderes Land mit einer eigenartiges Sprache. Hinterer Halsbereich. Laute aus einer anderen Welt. Die Grenze: eine unsichtbare Schnur. Heute stehen die Bahnhöfe menschenlos – wie abgelebt: gestorben an der Zeit. Ein verkantetes Gefühl an den immerleeren Bahnsteigen. Wie am Grab. Der da liegt, den hast du nur flüchtig gekannt. Den hat die Zeit längst weggespült. Ein Garten, den niemand mehr pflegt. Das Unkraut hat die Macht.

Fahrradfahrer im Kampf gegen den Wind. Nach vorn geknickt – über die Lenkstange. Die Pfarrhäuser: aufgegeben. Im Dunkeln fräsen sich Lichtstrahlen in den Himmel. Zeichen aus der Discothek.

Aus der Landschaft machen sie etwas Poetisches für den Reiseprospekt. Der immergleiche Wyler mit dem lecken Kahn. Standbild aus Idylle. Auch die Kultur ist längst angekommen. Provinz ist da, wo man sie hindenkt. Provinz findet nur im Kopf statt. Die dritte Welt am Rhein. Land unterm Nebelfloß.

Wiederbelebungsversuche am Fluss: sie holen die Fähren zurück. Schön war´s früher. Und so leer. Ausstellungsstücke aus einer unahnbaren Vorzeit. In Braun standen sie da – hinter vorgehaltener Hand. Damals fuhren die Panzer über den zugefrorenen Rhein. Und danach – im Sommer – lud der Fluss zum Bade. Rheinfischer soll es gegeben haben. Heute schwimmen Kondome an den Strand, und die Schiffe haben Radar. Die Vergangenheit lebt. Die Gegenwart arbeitet. Die Zukunft ist ein stilles Meer.

Die alten Geschichten: Verirrte aus einer anderen Zeit. Die Bäume verkleiden sich: zweimal im Jahr. Bald werden wohl auch die Kühe ein Handy haben. Dass sie nichts verpassen auf dem Weg zum Schlachthof. Erbarme dich.

Sonntags kommen Menschen im dunklen Anzug aus der Kirche. Glocken stören. Prozesse werden geführt. Krötentunnel werden gegraben. Im Westen nichts Neues. Seit Hüsch gibt es den Niederrhein erst wirklich. Ohne Schublade kein Dasein. Das Attribut macht einen Zustand erst denkbar.

Herbst am Niederrhein: die einzige Jahreszeit. Alles andere nur Zeiten im Jahr.

Gegen elf machte sich eine eigenartige Unruhe breit. Aufbruchsstimmung. Alle vereint durch die fortschreitende Zeit. Mutter ist jetzt schon 80. Die wird als Ausstellungsstück mitgenommen in die neue Zeit. Vater hat es nicht mehr geschafft: abgereist in die zeitlose Zone. Um halb zwölf das Gefühl: Die Zeit, die jetzt nur noch eine Richtung kennt, läuft rückwärts. Noch eintausendachthundert Sekunden. Und dann: Mitternacht – die magische Sekunde. Ein Sprung über die Grenze. Umarmungen, Lieder – die Vorzeit versunken. Eine Schrecksekunde ohne Vergangenheit. Ein paar Sekunden lang der allseits nach vorn gedrehte Blick. Wenn man es nicht wüsste: ein ganz normaler Tag. Die Bedeutung draufgepfropft wie ein Kronkorken.

Danach ins Bett als wäre nichts gewesen. Über der Stadt: Feuerwerksschwefelwolkenflockenreste. Morgens beim Aufwachen das Gefühl: wir sind alle seltene Objekte. Ausstellungsstücke. Jahrtausendflüchtlinge: herübergerettet in die Neuzeit. Die Zurückgebliebenen schlafen ruhig. Namen unter gekreuzten Palmzweigen. Und heute – ein paar Jahre später: eine Eintragung ins Tagebuch. Brennende Zeiten.