Schreibkraft
Heiner Frost

Böse Träume

Vier Zeugen, ein Gutachter – ein eher kurzer Hauptverhandlungstag. Dachte man. Justizia kann für nichts garantieren.
Der Angeklagte schlufft in Fußfesseln zu seinem Platz. Das Gehen ist mühsam. Immerhin: Herr Z. sitzt in Fensternähe. Für einen Sprung wäre es zu hoch und das Fenster lässt sich nur zum Teil öffenen. „Und wenn der doch springt?“, fragt jemand. „Kann er ja. Macht er aber nur einmal“, sagt die Staatsanwältin.
Was wird Z. vorgeworfen? Am 17. Juli 2020 soll er sich in eine Postfiliale in Bedburg-Hau begeben haben und die dort aufhältige Mitarbeiterin unter Vorhalt eines circa 30 Zentimeter langen Brotmessers mit den Worten „Geld, Scheine her, Tresor, gib den Schlüssel“ zur Herausgabe von Geld aufgefordert haben. Als die Zeugin aus Angst zur Seite wich, soll der Angeklagte aus zwei Kassen insgesamt rund 3.710 Euro entwendet und sich anschließend entfernt haben.
Nicht alles deckt sich nicht mit der Wirklichkeit. Wenn überhaupt hat Z. zwei Frauen (nacheinander) bedroht – die eine in der Postfiliale – die andere am Lottoschalter. Geschenkt.

Drehtürentäter

Z. wird zur Sache nichts aussagen. Z. ist das, was man einen Drehtürentäter nennt. Inhaftierung, Entlassung, Inhaftierung. Z. ist drogenabhängig: Kokain, Marihuana, LSD, Wodka stehen auf der Liste. Auch „Gasschnüffeln“ ist vermerkt. Der Vorsitzende fragt nach und lernt, dass es um das Einatmen von Verdampfungsgasen (Benzin, Klebstoff) geht. Z. ist Jahrgang 1993. Mit 14 die erste Inhaftierung. Seit fünf Monaten ist er Vater.
Z. befand sich im sogenannten „64-er“: aufgrund der Abhängigkeit wurde er mit Gerichtsbeschluss in einer Entziehungsanstalt eingebracht. Man muss sich „hocharbeiten“ in einem solchen System. Es beginnt mit geschlossener Unterbringung und endet (bestenfalls) in einer Dauerbeurlaubung. Sieben Stufen müssen durchlaufen werden. Manche Täter, die sich eine Unterbringung wünschten, gehen zurück in den Knast, weil sie finden, das sei leichter zu ertragen. Z. war, als er die Tat begangen haben soll, gelockert.

Das Elend des Tages

Die ersten beiden Zeuginnen des Tages erzählen vom Elend des Opfers. Sie wurden vom Täter mit einem Messer bedroht und zur Herausgabe von Geld gezwungen. Seit jenem Tag, das berichten beide teils unter Tränen, hat sich das Leben – ihr Leben – schlagartig geändert. Unbekümmert- und Unvoreingenommenheit sind abgereist: unbekannt verzogen. „Ich mag nicht mehr unter Leute gehen“, sagt einer der beiden. Nur noch das Nötigste bringe sie vor die Tür: Einkäufe zum Beispiel. „Dann geht meistens mein Mann mit.“ Rundflüge durch zwei schwer beschädigte Leben. Was vom Tattag bleibt? Böse Träume. Normal ist nicht mehr. Wäre Z. der Täter, könnte er hier und jetzt aus nächster Nähe miterleben, was Taten aus und mit Opfern machen.
Die beiden Frauen können keine Beschreibung des Täters anbieten. Der Mann war maskiert. Beide Frauen mutmaßen, es habe sich um einen südländischen Typ gehandelt. Gebeten, das zu erklären, nennen sie Ländernamen: Ägypten, Marokko, Afghanistan, Italien. „Der hatte, glaube ich, dunkle Augen“, sagt eine der Frauen und Z. sagt: „Meine Augen sind grün.“

„Sie müssen aussagen.“

Dann zwei Zeugen aus der Entzugsklinik. Beide kennen Z. Der erste Zeuge möchte wissen, ob er denn überhaupt aussagen muss. Er muss. Schließlich ist er mit Z. weder verheiratet, noch verlobt oder verwandt. Die Aussage: eine Schlingerfahrt – durchsetzt mit mehr oder weniger umfangreichem Erinnerungskahlschlag. Nein – der Zeuge will Z. nicht belasten. Er kann nur Vermutungen anstellen.

Verdreht

Am Tattag hat er – er hatte Ausgang und befand sich in Tatortnähe – ein Motorrad wahrgenommen. Ob es das Motorrad von Z. war – er kann das nicht sagen: Er hat keinerlei Ahnung von Motorrädern. Dass im Verhörprotokoll steht, Z. habe, nachdem in Tatortnähe ein Messer gefunden wurde, dem Zeugen gesagt „Mist – da ist dann meine DNA dran“ will Herr B. nie gesagt haben. Man hat, mutmaßt er, ihm die Worte im Mund verdreht. Den Hinweis, dass er schließlich seine Aussage unterschrieben habe, tut B. mit der Bemerkung ab: „Ich habe mir das nicht durchgelesen.“

Zu dritt???

Der zweite Zeuge, C., will gehört haben, dass B. „Stress mit dem Z. hatte“: Den wolle er f*cken, soll Herr B. gesagt haben. Das f-Wort beginnt im Saal zu kreisen und wird von allen Benutzern mit Luftanführungsstrichen umkleidet. Herr C. erzählt, dass seine Vernehmung in Anwesenheit von Herrn B. stattgefunden haben soll. Jetzt wird es interessant. Warum sollte, denkt man, C. dergleichen erfinden? Man versteht es nicht. Eine Dreiervernehmung?

Unschärfen

Dem Gericht scheint es ähnlich zu gehen. In einer Verhandlungspause wird die Beamtin angerufen, die für die Vernehmung verantwortlich war. Sie schafft es, spontan als Zeugin anzureisen. Auch sie hat mit Erinnerungsunschärfen zu kämpfen. Auf gar keinen Fall habe es eine Dreivernehmung gegeben. Niemand mache so etwas. (Es würde ja zu einer Kontamination der Aussagen führen, denkt man.)

Am Anschlag

Längst ist Z.s Verteidiger am Anschlag ob der Unschärfen in den Aussagen der Beamtin. Zu viel ist seiner Ansicht nach liegen geblieben. Zweifel sind ausgestreut: berechtigte Zweifel. Wer versucht da, wem etwas in die Schuhe zu schieben oder sich selbst aus der Schusslinie zu entfernen? Eine Zeugin, über die lediglich ein Aktenvermerk existiert, soll telefonisch ausgesagt haben, sie habe ein Motorrad gesehen und einen Mann mit schwarzen Gummihandschuhen. Die Handschuhe, mit denen der Täter auf einem Video beim Überfall zu sehen ist, sind allerdings blau. „Warum“, möchte der Verteidiger wissen, „ist über den Aktenvermerk hinaus die Zeugin nicht befragt worden?“ Was bedeuten Anführungsstriche in einem Protokoll? Stehen sie für das wörtliche Zitieren einer gemachten Aussage? Längst hat man, um ehrlich zu sein, die Fäden verloren, denn so viel steht fest: Da wird mehr als nur ein Faden gesponnen. Würde Z. aufgrund dessen, was heute ausgesagt (und vergessen) wurde, verurteilt, müsste, denkt man, die Begründung zu einem Husarenstück werden. Natürlich: Die Beweiswürdigung obliegt einzig dem Gericht und nicht einem Berichterstatter, aber eine Meinung wird man sich schon noch leisten dürfen.
Das psychiatrische Gutachten sieht Z.s Chancen für eine erneute Entzugstherapie eher negativ. Wenn überhaupt, so der Gutachter, spreche man von einer lang andauernden Therapie: vier bis fünf Jahre.

Nachlegen

Am Ende beschließt die Kammer in Abstimmung mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung, dass „nachgelegt“ werden muss. Die Therapeutin, die Z., B. und C. betreut (hat), soll gehört werden. Der Verteidiger wird sich dann äußern, ob er eine Ladung der ‚Telefonzeugin‘ für notwendig hält. Die Frau, so der Vorsitzende, befinde sich derzeit in Urlaub.

Wo keine Zweifel wohnen

Der zweite Tag

Um 12.07 Uhr erhebt sich die Staatsanwältin zum Schlussplädoyer. Sieben Minuten dauert es, bis sie am Ende einen Freispruch fordert: Zu gegensätzlich die Aussagen der Zeugen …
Das kann der Kollege, der den Angeklagten vertritt, schwerlich anders sehen. 180 Sekunden braucht er, sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft anzuschließen. „Wer diese Tat wirklich begangen hat, wird vorerst im Dunkeln bleiben“, sagt er und sein Mandant sagt nichts. Es ist 12.18 Uhr … „Wir werden versuchen bis 13 Uhr ein Urteil zu fällen“, sagt der Vorsitzende.
Herr A. soll – ein Messer in der Hand – eine Postfiliale nebst Lotto-Annahmestelle überfallen und 3.710 Euro erbeutet haben. Die überfallenen Angestellten leiden noch heute unter dem, was ihnen widerfahren ist. Niemand hat den Täter erkannt. Er war maskiert. Nach der Tat wurde ein Messer gefunden: keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Herr A. ist kein unbeschriebenes Blatt. Da steht einiges auf seinem Strafkonto. Er hat – meist um sich Geld für Drogen zu beschaffen – schon öfter geraubt. Meist unter drohender Zuhilfenahme eines Messers und gleichzeitigem Weglassen vieler Wörter. Ein „Modus Operandi“ ist erkennbar.
Herr A. war in einer Entziehungsklinik untergebracht. Längst war er auf der Stufe angelangt, die Dauerbeurlaubung genannt wird. Dann allerdings war er positiv auf Kokain getestet worden und hatte sich aus dem Staub gemacht. A.s Kollegen, die zur Zeit des Überfalls im Ausgang waren, glauben, ihn erkannt zu haben. Einer will A. auf dem Motorrad haben davonfahren sehen. Ein schwarzes Motorrad, obwohl A. ein weißes Motorrad besaß. Er habe, hatte der Zeuge gesagt, gedacht, dass A. die Maschine schwarz lackiert haben könnte. Eine Zeugin hat – zehn Minuten nach der Tat – einen Mann an einem Motorrad gesehen. Sie hat sich das Kennzeichen gemerkt. AI 91. Später wird auf der Station in der Klinik ein Handy gefunden, das man A. zuordnet. Darauf – unter anderem – ein Motorrad mit dem Kennzeichen: IA 99. Ein Mitpatient von A. sagt aus, A. habe, nachdem in Tatortnähe ein Messer gefunden worden sei, nervös reagiert und gesagt, das sei aber sch… – da sei jetzt seine DNA dran. A. habe, sagt der Zeuge, die Tat nie zugegeben, aber das mit dem Messer und der DNA sei ja schon „megablöd“ gewesen. Ach ja: Die Kennzeichenzeugin hatte einen Mann mit schwarzen Gummihandschuhen gesehen und sich noch gedacht, das sei komisch, denn schließlich trage man doch beim Motorradfahren keine Gummihandschuhe. Auf einem Video, das den Täter zeigt, trägt der – die Staatsanwältin benutzt diesen Ausdruck – quietschblaue Gummihandschuhe.
Ein weiterer Mitpatient von A. sagte am ersten Verhandlungstag aus, der A. habe mit dem „Messerzeugen“ ständig Stress gehabt. Einmal soll der Messerzeuge gesagt haben, dass er den A. jetzt f*cken werde. Der Messerzeuge wird ein zweites Mal geladen: Nein – er hat keinen Stress mit A. gehabt; einmal vielleicht eine Auseinandersetzung wegen der Nutzung von A.s Handy. Nein – A. hat ihm gegenüber die Tat nie zugegeben. Die Sache mit der DNA habe er A. aber gesagt.
Es gibt in diesem Fall, denkt der Laie, so viele Ansätze für begründeten Zweifel, denen nur Aussagen gegenüberstehen, die … was soll‘s … Staatsanwaltschaft und Verteidigung sind sich einig: sie beantragen – siehe oben – Freispruch. Und doch hat mein kein gutes Gefühl.
Um 13.14 betritt die Kammer den Saal und verkündet … keinen Freispruch. Acht Jahre bekommt A. wegen besonders schweren Raubes. Man nennt so etwas „freie Beweiswürdigung“. Für die Kammer, das offenbart sie jetzt, hat es keine Zweifel gegeben. Die logische Folge: Wenn es keine Zweifel gibt, kann daraus nur eine Verurteilung folgen. Der Messerzeuge: glaubwürdig. Er hätte es sich doch einfach machen können. Er hätte doch nur zu sagen brauchen, A. habe ihm gegenüber die Tat gestanden. Aha. So kann man das natürlich auch sehen. A., ist die Kammer sicher, hat Geld gebraucht. Fünf Gramm Kokain am Tag wollen finanziert sein. Und da ist dieser Modus Operandi. A. hat einige ähnliche Taten begangen. Und dann der Zeuge, der indirekt den Messerzeugen belastet hat, indem er ihm indirekt eine Belastungsabsicht in Richtung A. unterstellte. Das aber ergebe doch, so die Kammer, keinen Sinn, denn er – der Messerzeugebelastungszeuge – habe ja selber gegen A. ausgesagt. Aha. A. sei, so die Kammer, unbelehrbar. Alle bisherigen Strafen und Therapien ließen ihn unbeeindruckt. Es gebe kaum etwas, das für ihn spreche. Man könne ihn nicht zu einem neuerlichen Aufenthalt in einer Klinik verurteilen. Es habe sich gezeigt, dass das zu nichts führe. Es sei an der Zeit, dass A. über die Zukunft nachdenke. Noch eine ähnliche Tat irgendwann und er sehe mit großer Wahrscheinlichkeit einer Sicherungsverwahrung entgegen. Er könne nicht zurück in sein altes Leben. A. könne gegen dieses Urteil Rechtsmittel einlegen.
Bis hierher hat die Disziplin des Schreibers gereicht. „Bei den Ermittlungen ist einiges schief gegangen“, hatte der Verteidiger in seinem Plädoyer gesagt.
Man ist geneigt, ihm Recht zu geben. Trotzdem: Man hätte im Fall eines Freispruchs nicht gewettet, dass A. die Tat nicht begangen hat. Man kann viele Geschichten so erzählen, dass am Ende das Erzählen den Ausschlag gibt und sich über die Inhalte erhebt. Man kann – es hängt einfach vom eigenen Standpunkt ab – Geschichten so und so sehen. Laien tun das …
Gerichte fällen ihre Urteile nach anderen Gesichtspunkten. Vor dem Gesetz, heißt es, sind alle gleich. Im Zweifel für den Angeklagten, heißt es auch. Und manchmal steht man staunend da. Wahrscheinlich ist man zu subjektiv, um zu verstehen, was da passiert ist. Gut, dass es Richter und Schöffen gibt, die fernab aller Zweifel arbeiten. Und würde jemand fragen, ob diese Gedanken zynisch sind, würde man – dies eine Mal – die Aussage verweigern und notfalls der Beugehaft ins Auge blicken. Für Herrn A. hat es nicht gereicht. Er brauchte Geld für Drogen und dann ist da noch der Modus Operandi … Zweifel an seiner Tat? Nicht für dieses Gericht. A. war‘s. Klappe zu und der Kammer angenehme Träume.