Schreibkraft
Heiner Frost

Alle lieben Sven

… erwischt

Alle lieben Sven. Na ja – ein paar Leute sehen das anders. Zu nennen wäre ein holländischer Nerzzüchter. 5.000 Tiere hatte er, die zu Jackenkragen werden sollten oder was man sonst aus einem Nerz so machen kann. Ein Nerz kostet rund 40 Euro. Sven, heißt es, hat – zusammen mit ein paar anderen – die Nerze  … ja, was denn: Geklaut hat er sie nicht. Er hat sie ja nicht mehr. Wollte sie nie haben. Richtig: Freigelassen hat er sie. Gefangenenbefreiung also. Die Nerze wissen davon nichts. Sie sind frei. Sven ist es nicht mehr.

Sven ist nach Deutschland gefahren, und sie haben ihn erwischt. Zwei Wochen ist das her. Im Zug ist Sven aufgefallen. („Bitte mal Ihren Ausweis.“) Dann stellte sich heraus: Sven wird gesucht. Svens Vergehen war nicht Gefangenbefreiung  – es wird Sachbeschädigung genannt. „Sachschaden“: 5.000 mal 40 gleich 200.000 Euro. Pappenstiel geht anders.

 … ausgeliefert

Seit zwei Wochen sitzt Sven im Klever Knast: Auslieferungshaft. Man wird ihn durchreichen an die niederländischen Justizbehörden – demnächst. Jetzt hatten sich die angesagt, die Sven lieben. Ein Transparent drückt es aus: „We all love Sven“ steht drauf. Das „love“ durch ein rotes Herz ersetzt. Svens Freunde sind zur Demo nach Kleve gereist. Keiner wusste, was passieren wird: Die Polizei nicht, die Leute im Knast nicht.  Am Schluss sind siebzehn Demonstranten angereist. Treffpunkt Bahnhof Kleve, 13 Uhr. Natürlich werden sie empfangen. Die Polizei ist da und wird sie begleiten – bis vor den Knast. Da soll demonstriert werden. Solidarität mit Sven. Der sitzt drin und weiß nichts davon. Noch nicht.

 … vorbereitet

Die Polizei ist vorbereitet. Fast möchte man meinen, das „Besteck“ ist überdimensioniert angesichts des kleinen Häufleins von Demonstranten. Wie gesagt: Siebzehn sind gekommen; alle um die zwanzig – plusminus fünf Jahre. Regen haben sie mitgebracht. Nicht schön für die Aktivisten, aber das tut nichts zur Sache.

Der Bedienstetenparkplatz am Knast: Leer. Kein Auto am Start – Vorsichtsmaßnahme. Der Chef hat die Devise ausgegeben: Besser woanders parken. Man kann nie wissen. Zwei Polizisten im Knast bilden die „interne Leitstelle“. Drinnen hat der Anstaltsleiter Hausrecht – draußen vor der Tür ist die Demo im Zuständigkeitsbereich der Polizei. Die „sichert“ zu den Seiten – sorgt dafür, dass der Weg der Demonstranten unzweideutig verläuft. Gegen 13.50 treffen sie am Knast ein. Zur Gruppe gehört ein Lieferwagen. Der parkt in einer Seitenstraße. Der Materialtransport. Keine Demo ohne Transparente. Eine mobile Lautsprecheranlage haben die Gäste auch dabei.

Die Polizei hält sich zurück. Es wird beobachtet. Kein Grund einzugreifen. Im Knast hat man die Lamellenvorhänge zugezogen. Im Chefbüro gibt es Kaffee und Kuchen. Karl Schwers, Chef im Knast, würde sich bereit erklären, eine Abordnung der Demonstranten zu empfangen. Er würde auch eine Botschaft entgegennehmen – vielleicht das „We all love Sven“-Plakat. Die Einsatzleitung draußen sieht das anders. Kontakte sind nicht vorgesehen.

Die Tierschützer demonstrieren zunächst einmal, dass die Lautsprecher ziemlichen Krach produzieren können. Die Musik – fast möchte man sagen: „nerztötend“. Aber die Tiere sind hier nicht am Start. Nur die Anwohner. Nach und nach gehen die Fenster auf. Ein solcher Krach zur Mittagsruhe und das, wo Karneval längst gewesen ist …

… verstärkt

Über ein Megafon sprechen die Demonstranten zu Sven. Niemand weiß, ob er drinnen etwas mitbekommt von dem, was draußen läuft. Egal: Der Mann am Megafon beschreibt, was vor sich geht. „Hier auf der Straße ist es ziemlich langweilig“, sagt er. „Sven, du verpasst hier nichts.“ Könnte sein, dass Sven das anders empfindet.

Fragen an den Sprecher der Gruppe. Er erzählt Svens Geschichte – spricht über die Nerzbefreiung. „Ja, es waren an die 5.000 Nerze.“ Kein Wort davon, dass Sven es war. „Man verdächtigt ihn“, sagt der Sprecher. Er spricht Holländisch. Bietet auch Englisch an. Deutsch, sagt er, ist seine Stärke nicht. „Unter den Demonstranten sind Deutsche und Holländer“, sagt der Sprecher. Fotografiert werden wollen die meisten eher nicht. „I’m shy“, sagte einer, als der Fotograf um Erlaubnis zum Ablichten bittet. Andere haben sich Schals vors Gesicht gebunden. Die zwei Polizisten im Knastbüro haben aus dem Bürofenster längst das eine oder andere Foto gemacht.

 … beschädigt

Der Züchter, dem die Nerze „abhanden gekommen“ sind, beklagt Sachbeschädigung, erklärt die Sprecher. Svens Freunde sehen das anders. Die Tiere, sagen sie, werden in viel zu kleinen Gitterkäfigen gehalten, sind am Ende völlig neurotisch und werden schließlich vergast – ein Wort, das deutsche Seelen vielleicht noch eine Spur mehr angreift als andere. Vergast werden die Tiere, damit ihrem Fell nichts geschieht. Die Züchter sehen die Tiere als Wert. Als Sache. Aber diese Sache bekommt ihren Wert erst, wenn das Tier getötet ist. Lebend ist ein Nerz zu nichts nutze. Sagen die Züchter.

Im Büro im Knast diskutieren sie. Ist ein Nerz draußen überhaupt lebensfähig? Einer sagt, er habe gehört, ein Nerz überlebt nicht in freier Wildbahn. Wer den Nerz googelt und bei Wikipedia landet, findet nicht viel. Der Europäische Nerz, Mustela lutreola, heißt es da, ist von „gefängnisflüchtigen“ amerikanischen Nerzen fast verdrängt. Irgendwie past das in die Situation. Sven ist nicht gefängnisflüchtig. Sie werden ihn ausliefern. Demnächst.

Der Sprecher der Demonstranten ist sicher: Die Nerze werden überleben. 25 Kilometer legt ein Nerz am Tag zurück. Die Befreiten haben sich also schnell verteilt, sagt er und weiß bisher nur von einem, der bei der Flucht von einem Auto überfahren wurde. Wenn ein Nerz irgendwo im Wald verendet, werden es die Demonstranten eher nicht erfahren. Die haben sich jetzt aufgemacht, eine Runde um den Knast zu drehen – führen Lautsprecher und Transparente mit. Eine ruhige Situation – abgesehen vom Krach aus den Boxen.

 … abgezogen

Wenn die Gruppe ihre Runde gedreht hat, wird sie abziehen. Bis dahin wird Sven wissen, dass sie ihn lieben. Irgendein Häftling wird etwas hören oder sehen. Dann werden sie Sven informieren. Nachrichten verbreiten sich schnell im Knast. Sven, seinen Nachnamen will der Sprecher nicht verraten, Sven wird abends einschlafen und wissen, dass es Leute gibt, die hinter ihm stehen.

Irgendwann demnächst wird man ihn ausliefern – an die niederländische Justiz. Es wird einen Prozess geben und ein Urteil. Oder einen Freispruch. Auf jeden Fall gibt es 5.000 Kragen weniger und – wer weiß – ein paar glückliche Nerze. „In Deutschland wurde 1925 der letzte Nerz gesehen“, sagt Wiki. Dank Sven könnte sich das ändern. Niemand wird die Befreiten beim Grenzübertritt nach ihren Papieren fragen.