Zahlenbild

Das klingt doch fast wie eine Krankheit

Versuch macht kluch

Auf der nach oben offenen Pythagoras-Skala für 'Gehirnerschütterungen' rangiert für einen eher sprachbegabten Redakteur das Gespräch mit einem Mathematiker in jedem Fall im oberen Bereich, und in der nicht alles verklärenden Erinnerung liegen auch heute noch der letzte Zahnarztbesuch und die (zugegeben schon etwas vergangeneren) Matheklausuren unerfreulich nah bei einander. Aber wie heißt es doch so schön: Versuch macht kluch.

In Sachen Wahrscheinlichkeit

Und so treffe ich in einer Kaffeebar — nur mit Schreibzeug bewaffnet (Rechenschieber und Logarithmentafel waren unauffindbar) — auf einen Menschen namens Matthias Löwe, seines Zeichens Mathematikprofessor in Sachen Wahrscheinlichkeit. Schnell sind Vorurteile abgearbeitet: Der Mann trägt keine unterschiedlich farbigen Socken und hat so gar nichts gemein mit dem verschrobenen Mathematik-Genie John Nash aus 'A Beautiful Mind'. 

Studiert hat der gebürtige Bad Oeynhauser in Bielefeld. "Mathematik war nicht meine erste Wahl." Noch während der Schulzeit hatte Löwe in Zusammenhang mit der Zukunft eher über Fächer wie Germanistik, Philosophie oder Jura  nachgedacht. "Dass es dann doch anders gekommen ist, hat viel mit dem Rat meines damaligen Mathe-Lehrers zu tun." (Potzblitz — das hatte man sich doch irgendwie gedacht.) 

Große Abweichungen

Nach dem Studium folgten Diplom und Promotion zum Thema 'Große Abweichungen und statistische Mechanik'. (Is klar.) Übrigens: "Die Theorie der großen Abweichung (Large Deviations) beschreibt — sehr allgemein gesagt — die Konvergenzgeschwindigkeit im schwachen Gesetz der großem Zahl. Für Abweichungen mittlerer Größe gibt der zentrale Gegenwertsatz eine erschöpfende Auskunft. Die Wahrscheinlichkeit für größere Abweichungen gehen dagegen schnell nach Null, und hier ist eben die genaue (exponentielle) Konvergenzgeschwindigkeit von Interesse." Und da ist es wieder: Das Zahnarztgefühl. Es setzt ein, als ich in meiner Not im Internet Erklärungen zum Begriff 'Große Abweichungen' sich und (leider auch) finde.

Posthund

Doch weiter im Leben des Löwen: In Berlin, Bielefeld, und Eindhoven verbrachte der heutige Professor — der man ist gerade mal 38 — die 'Post-Doc-Phase'. "Meinem Vater habe ich erzählt, dass ich jetzt als Posthund arbeite." Immerhin: Der Mann hat Humor. (Nicht vergessen: Zuhause mal kurz im Kalender anstreichen.) Natürlich verbirgt sich hinter 'Post-Doc' kein 'gelber Hund', sondern die Phase nach der Promotion. Vor zwei Jahren habilitierte der Mathematiker und unterrichtet jetzt an der Uni in Nimwegen. In Kürze wird er nach Münster wechseln. 

Der lateinische Terminus für doe Wahrscheinlichkeitesrechnung lautet Stochastik, und der Eindruck, dass Letzteres ein bisschen wie ein ernst klinischer oder psychischer Befund klingt, beschleicht mich nicht allein. "Als mein Vater mal gefragt wurde, was sein Sohn denn so macht, sagte er: 'Der ist Stochastiker.' Darauf kam die Antwort: Da tut mir aber wirklich leid für Sie'". Na bitte(r).

Orgel und Tonleiter

Mathematik — das lernt, wer sich mit Löew unterhält, schnell — hat mit Rechnen ungefähr so viel zu tun wie Orgelbau mit der Tonleiter. Anders gesagt: Es stört nicht, wenn einer rechnen kann. Wer an der Uni Mathe lehrt, vermittelt Sichtweisen. Und wer Mathematik studieren möchte, braucht eine hohe Frustrationstoleranz, oder, um es in Deutsche zu übersetzen: Man muss schon eine Menge aushalten können.

Mathematiker sind gefragt, sei es bei den Versicherungen, sei es in der Informatik, sei es bei den Banken. Löwes Sache allerdings ist die Forschung. Wo Chemiker, Biologen oder Physiker sich ins Labor verdrücken und zwischen Reagenzgläsern und und Versuchsanordnungen einer Problemlösung nachhängern, ist das Labor eines Mathematikers äußerst einfach zu transportieren, denn: Das meiste spielt sich im Kopf ab und bleibt somit für andere Zeitgenossen unsichtbar. Wenn es Ergebnisse gibt, sind sie in der Regel für den normalen Sterblichen kaum nachvollziehbar.

Der Handlungsreisende

Da wäre  beispielsweise 'Das Problem des Handlungsreisenden': Ein Vertreter bereist 10.000 Städte und sucht nach dem kürzesten Weg. "Die Rechenzeit, die ein Computer brauchte, um einer punktgenauen Lösung auf die Spur zu kommen, würde länger dauern als die Geschichte unseres Universums", wird mir erklärt. Na, dann lass den Mann doch fahren wie er lustig ist, denke ich. Aber Fragen wie die nach dem kurzen weg des Handlungsreisenden können (im übertragenen Sinn) bei der Rentabilisierung von Arbeitsabläufen entscheidend sein. Und da können Mathematiker helfen. (Mathematik ist eben nicht Rechnen sondern: Die besondere Art zu denken.) "Allerdings schadet Vermessenheit im Geschäftsleben manchmal", erklärt Löwe. "Wenn einer irgendwo aufläft und sagt: 'Ich kann das 40 Prozent effektiver machen' ist er gleich verdächtig. Da kann er besser sieben mal wiederkommen und sagen, dass es fünf Prozent besser geht."

Publish or perish

Löwe hat den Anschluss an die Realität der Arbeitswelt also keinesfalls verloren. Einstmals — man mag es kaum glauben — hat der Professor gar Gedichte geschrieben. (Na, dann ist ja Hoffnung.) Heute allerdings befasst sich Löwe eher mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, denn es gilt die eherne Regel: Publish or perish. (Veröffentlichen oder zugrunde gehen.) 

"Mathematik ist bei den niederländischen Nachbarn nicht unbedingt populär", erzählt Löwe. In seinen Vorlesungen hocken nicht mal zehn Studenten. Davon träumt so mancher jenseits der Grenze, der mit den anderer 399 in einer Antrittsvorlesung s(chw)itzt. Immerhin: Bei einem wie Matthias Löwe ist man gern zu einer Unterhaltung bereit. Was hält er denn von 'A beautiful mind'? Schlecht fand er ihn nicht. Es ist ja schwer, den Menschen klar zu machen, was und wie ein Mathematiker denkt. Aber die Szene, als John Nash den Pullover auszieht und man muskelbepackte Oberarme sieht — nicht eben glaubwürdig. "Das kommt wohl daher, dass Russel Crowe davor den Gladiator gegeben hat."

Und apropos Wahrscheinlichkeit: Es ist wahrscheinlich, dass man Löwe samstags bei einem Heißgetränk in seiner Kaffeebar trifft. Denken kann er schließlich (fast) überall. Was seine Vorteile hat.


Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007