Kinder haben keine Bremse

„Ich bin der Erwin“, sagt der Erwin. Na — dann wäre das ja schon mal geklärt.

„Ich bin nicht dazu da, euch dazu zu bringen, dass ihr euren Spinat aufesst.“ Das Anti-Autoritätsprogramm eines Polizisten. Aber die gelbe Jacke mit der Aufschrift „Polizei“ tut trotzdem ihre Wirkung. Obwohl die I-Dötzchen der Karl-Leisner-Schule wahrscheinlich des Lesens noch nicht mächtig sind, reden sie den Erwin brav mit „Herr Polizist“ an. Herr Polizist soll den Neuschülern heute mal zeigen, wie man eine Fußgängerampel überquert. Okay: Nicht die Ampel. Die Straße. Präzision muss sein.

Brems dich! Ein Imperativ für die Autofahrer.

Die Kids tragen gelbe Kappen. Neben dem „Kleingedruckten“ (Schule hat begonnen) die Aufschrift: "Brems dich!" Ein Imperativ für die Autofahrer. Vielleicht aber auch für die Kollegen von der „ersten Bank“, denn auch die Neuen haben es auf dem Weg zur Schule (und erst recht, wenn’s nach Hause geht) gerne schon mal eilig.

Die gelben Kappen haben eine Vorgeschichte: Sie sind ein Geschenk der Verkehrswacht.

Und bevor die Kleinen „gekappt“ werden, ist alles ein bisschen offiziell: I-Dötzchen-offiziell: Die Schülerkollegen aus einer „höher gelegenen Klasse“ singen einen Verkehrsblues, und ein Gedicht von „den Alten“ gibt's noch dazu. Hoher Besuch ist auch da: Ein Schulrat. („Unser Chef“, sagt die Schulleiterin.) Ein Bürgermeister. Theo heißt der. Und beim Verkehrsblues heizt er mit Vorklatschen ein. Alle machen mit. So geht Stimmung. Und dann: Der Schulrat spricht. Ein Mann von der Verkehrswacht spricht. Alles dreht sich um „eure Sicherheit“.

"Klar, dass die Neuen lernen wollen", hat vorher der Herr Schulrat gesagt, "aber dazu müssen sie erst mal gesund bei uns ankommen".

Wirklichkeit findet auf der Straße statt

Der Mann hat Recht. Also zurück zu Erwin. Nach Blues, Gedicht und Reden kommt die Wirklichkeit. Die findet auf der Straße statt.

„Herr Polizihiiiist?“ Viele wissen schon einiges und formulieren ihr Wissen — professioneller geht es kaum — als Frage. „Herr Polizihiiist? An der Ampel muss man doch stehen bleiben, nicht?“ Spinat-Erwin stimmt zu. Aber es gibt nicht nur Ampeln. Es gibt auch Straßen, die einfach ampellos daher kommen. Die sind meist viel gefährlicher. Bei einer Ampel weiß man: Hier ist was los. Die kleinen Straßen aber sind genau so gefährlich. Was ist zu tun?

Die Guck-Kombi: Links. Rechts. Links.

Erwin legt die Hand ans Ohr. Hören. Gucken. „Hört ihr was?“ Außer Vogelgezwitscher nichts Gefährliches in Lauschweite. Na dann: Ausschau halten. Die Devise lautet: Links — rechts — links.  Links ist die Seite, auf der die Autos sofort da sind. Rechts kommen sie auf der Gegenfahrbahn. Erwin demonstriert die Links-Recht-Links-Guck-Kombination. Die Kleinen werden zu Trittbretttätern in Erwins höchstpolizeilichem Fahrwasser.

Bürgermeister, Schulrat, Verkehrswachtmenschen und Lehrkörper unterstützen den Mann in der gelben Jacke. Jetzt mal rüber über die Straße. Lob auf der anderen Seite. „Herr Polizihiiist? Gehen wir jetzt zur Ampel?“ „Ja“, sagt der Erwin. Und auf dem Weg dahin wird gleich noch einmal Wichtiges wiederholt. Erst hören. Dann gucken: Links. Rechts. Links.

Jetzt die Ampel: Nie nur zum Spaß drücken. Nur, wenn’s auch wirklich auf die andere Seite gehen soll. Zwischen Fußweg und Straßenrand: Fahrradstreifen. Wohl aufgemerkt nun also! Auch Fahrräder sind gefährlich. Alles ist gefährlich. Manchmal auch die kleinen Kollegen. Wenn man ins Gespräch vertieft ist, wird gern was übersehen. Aufpassen! An der Albers-Allee, Ecke Klombeckstraße ein großes Spannband: "Kinder haben keine Bremse"

Man kann ja nie wissen

Erwin teilt die Klasse in zwei Kleinlerngruppen. „Ihr wartet jetzt erst mal, bis ich die anderen rüber gebracht habe“, sagt der Herr Polizist. Einer von den Kleinen darf den Ampelknopf drücken. Wenn’s grün leuchtet, nicht einfach losrennen. Das ist jetzt die Botschaft. Immer erst gucken. Man kann ja nie wissen. „Aber wenn grün ist, dürfen wir doch gehen“, bemerkt einer. „Trotzdem gucken“, warnt Erwin. „Sicher ist sicher!“

Auftritt des grünen Männchens. Alles guckt. Und jetzt los. Zügig die Straße überqueren. Erwin geht mit. Eigentlich ist Erwin gar nicht der zuständige Beamte vom Bezirksdienst. Der ist leider krank. Schade. Die Kinder sollen möglichst früh ihren Ansprechpartner vor Augen haben. Wird nachgeholt. Nächste Woche. Jetzt macht Erwin halt die Führung. (War der nicht mal Prinz? Richtig. Und der Bürgermeister? Der auch. Jetzt hat Erwin den Prinzenhut gegen die Dienstmütze getauscht, und der Bürgermeister trägt oben Gelb: Brems dich!)

Was der Mann in Uniform sagt, hat Bedeutung.

Erwin hat die erste Gruppe über die Straße gebracht. Nachdem er den Weg zurück geschafft hat (da können alle noch mal sehen, wie’s richtig geht), kommt Gruppe zwei. Der Bürgermeistertheo kommt mit. Als alle drüben sind, wird nachgearbeitet. Wiederholung ist die Mutter des Lernens. Die Kids müssen es schließlich auch alleine bringen, denn natürlich ist nicht immer ein Polizist in der Nähe. Aber wie das so ist: Was der Mann in Uniform sagt, hat Bedeutung. Manchmal einen Tick mehr, als wenn’s nur von Mama oder Papa kommt. Der Herr von der Verkehrswacht erinnert noch einmal daran, dass es gut wäre, wenn alle Neuen ihre Kappe das ganze Jahr tragen. Natürlich nur auf dem Schulweg.

Über 3.000 Kinder im Kreis Kleve werden eingeschult. Und eben so viele treten jetzt nach den Ferien einen neuen Schulweg an. Grund zur Vorsicht für alle Beteiligten. Aber das ist der offizielle Teil. Der ist für die Kids nicht ganz so interessant. Sie wissen jetzt, dass Erwin und Kollegen nette Typen sind.    



Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007