Heimat Museum

Da kommt einer zurück: Nachhause. Er kam von hier, ging in die Welt. Starb jung. Anderswo. Anderswo war Amsterdam. Jetzt: Eine triumphale Rückkehr an die Wand. Malerei gehört genau da hin. „Govert Flinck – Reflecting History“, heißt die neue Ausstellung im Museum Kurhaus Kleve. Es gibt kaum ein Vorbei. Die Stadt ist großzügig plakatiert. Ein optischer Ausnahmezustand, den man genießen kann, nachdem die Wahlgesichter abgebaut sind. Barock im Kurhaus? Man reibt sich das Gehirn. Natürlich: Sie können auch historisch. Konnten es immer schon – aber quasi nicht flächendeckend im Haupthaus. Jetzt also Flinck: Rückkehr ins historische Sehen. Reflecting History? Geht denn das? Flinck – Fluch und Segen.

Man kann es nicht leugnen. Flinck war Rembrandt-Schüler. Ein bisschen ist das wie der Fluch des ewigen Talents. Solange der Schatten dich verfolgt, beginnst du keine Existenz im eigenen Leben. Als Flinck den Schatten hätte abhängen können (es braucht Zeit und innere Stärke), starb er – zu jung – im Alter von 45 Jahren. James Dean schaffte weniger. Aber der musste keine Schatten wegwischen. Weg also mit dem Rembrandt-Prädikat. Es hilft nicht wirklich weiter, weil es die falsche Schublade öffnet und zum Vergleichen reizt. Vergleiche  sind keine Geschichtsreflektionen – sie sind oft nicht mehr als die Reflektion der eigenen Kenntnisse und zeigen ein Spektrum, das den zu Vergleichenden eher einkesselt als beschreibt.

„Govert Flinck – Reflecting History“ ist eine kluge und gleichzeitig höchst unterhaltsame Ausstellung – eine, die sich nicht mit dem großbürgerlichen „Seht her, hier ist einer von uns“ zufrieden gibt, sondern einen Referenzrahmen öffnet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil von Flincks Ruf ist porträtgestützt. Wer die Mächtigen (oder zumindest doch die Einflussreichen) porträtiert, moduliert die Geschichte, in dem er ihr Gesichter zur Verfügung stellt. Lange genug – und wahrscheinlich auch noch jetzt – gehört die Geschichte den Mächtigen, auch, wenn das Internet gern anderes vorgaukelt. Im Kurhaus tritt Flinck gegen Gersht an. Nein – es ist umgekehrt: Gersht tritt gegen Flinck an. Kunst kann das: Dialog über die Zeit. Aktion – Reaktion. Ori Gersht: Israelisch-britischer Foto- und Videokünstler. Gersht hat Porträts geschaffen, die – schaut man oberflächlich hin – wie gemalt erscheinen und doch Fotografien sind, die Geschichte nachstellen und eben so erweitern. Gersht hat „Stifter und Unterstützer“ porträtiert – zu Wort und also zu Bild kommen lassen. Zwölf an der Zahl. Die Gebrauchsfotos unserer Tage haben etwas Alltägliches, Bodenständiges. Jeder kann auf den Auslöser drücken und sich als Macher fühlen. Malen braucht Zeit. Malen braucht Entscheidungen. Fertigkeit. Ein schönes Wort. Gershts Porträts öffnen ein Spielfeld, das die Abgebildeten quasi optisch adelt: Etwas – die Werbung unserer Tage würde sagen – Hochfeines schwebt über ihnen.

Gershts Arbeiten stammen vom anderen Ende des Selfie-Äquators. Letztlich sind Porträts Selfies („Mal du mich, ich kann’s nicht!“), denn sie bilden Macht und Mächtige nach Belieben, also nach Bezahlfähigkeit ab. (Wer kein Geld hat, muss zum Passbildautomaten in der Bahnhofsecke.) Indem Gersht den Personen des Alltags die besondere Aura des Historischen zur Verfügung stellt, lässt sich nachfühlen, dass Porträts dieser Art etwas Erhabenes ausstrahlen. Gleichzeitig wird der Spagat zwischen Sein und Schein offenkundig. So wird ein Dialog möglich, der einerseits Geschichten parallelisiert, die weit entfernt voneinander stationiert waren und andererseits die Ehrfurcht vor dem Handwerk des Malers (und des guten Fotografen) wachsen lässt. Aus dem „wie gemalt“ der Vergangenheiten ist längst ein „wie gefilmt“ geworden. Nach den Anschlägen des 11. September sah man Menschen aus Trümmerwolken auftauchen, die dann protokollierten, sie hätten sich wie in einem schlechten Film gefühlt. Dass es ein schlechtes Leben war, erreichte nicht den Horizont des Erlebens.  Gersht arbeitet aber nicht nur mit dem Stilelement des Nachgestellten (merke: alles Nachstellen braucht eine exakte Vorstellung) – er arbeitet auch mit dem „Originalmaterial Flinck“ und moduliert es mit den Mitteln der Technik. So entsteht das, was im musealen Begleittext „künstlerische Intervention“ genannt wird und in die Irre führen könnte, denn wenn heutzutage irgendwo in der Welt interveniert wird, lässt sich wenig Gutes ahnen, das Dringlichkeiten zur Verbesserung nach sich zieht.  Gershts Intervention allerdings ist gutartig – mehr noch: Sie „veredelt“ ein ohnehin sehenswertes Werk, indem sie  angemessen reagiert und so die Ausstellung vor dem Gedanken rettet, da hätten ein paar Großbürger Rückwärtsvereinnahmung betrieben. Und dann wären da noch die Avatare. „Reflecting History“ öffnet eine dritte Ebene: Museumsbesucher können sich – wie soll man sagen – playmobilisieren lassen. Es werden 3-D-Modelle gedruckt, die in eigens bereitgestellten Vitrinen das Publikum zum bleibenden Teil der Ausstellung machen. Man muss nicht zu den Patriziern gehören, kein Fugger sein und kein Magistratsmitglied – aber ein paar Euro sollte man schon zu viel haben, denn die Avatarisierung wird mit 90 Euro berechnet, wenn einer die so entstandene Mini-3-D-Kopie gleich mitnehmen möchte. Wer die Selbstkopie bis zum Ende der Ausstellung als Vitrinenleihgabe zurücklässt, zahlt 75 Euro.

Reflecting History ist gottseidank das, was der Titel verspricht: Nachdenken über Geschichte und die Geschichte des Abbildens. Manches ist an- und vorgedacht, anderes entsteht erst beim Schwadronieren. Ganz so, wie es sich gehört.  Vor 50 Jahren war Flinck zuletzt in Kleve zu sehen. Jetzt also wieder ein Heimspiel: Heimat im Museum.

Zu sehen ist die „Govert Flinck – Reflecting History“ bis zum 17. Januar. Kuratiert wurde die Ausstellung von Valentina Vlasic und  Tom van der Molen. 30 Gemälde und ebenso viele Zeichnungen und Druckgrafiken (Leihgaben aus der ganzen Welt) dokumentieren die Kunst eines Malers, die mehr verdient als den Vergleich mit dem großen Lehrer.


Heiner Frost
Erstellt: 24.09.2015, letzte Änderung: 18.10.2015