DÄMONEN

Dämonen

DER ERSTE TAG

Der ältere Herr war schon lange nicht mehr in der Gerichtskantine. „Es gab nichts Interessantes.“ Jetzt steht er an der Theke, hat „Latte“ bestellt und weiß den Preis nicht mehr. Die Dame hinter dem Thresen sagt: „Lang nicht gesehen. Gibt’s was Interessantes?“ „Ich denke schon. Es geht um eine Kollegin von Ihnen?“ „Von mir?“ „Nun ja – im entferntesten, weil naheliegendsten Sinn. Eine Frau ist angeklagt.“ „Und worum geht’s?“ „Frau ersticht Mann“, sagt der ältere Herr und zählt das Geld auf denTisch.„Eigentlich unüblich“, sagt er. „Frauen morden doch meist mit Gift.“ Die Frau hinter dem Thresen blickt ihn an: „Schwer dranzukommen, heutzutage.“

Mittwoch, 18.09.2015, 09:00 Uhr; 4. große Strafkammer - Schwurgericht Landgericht Kleve, Saal A 105 mit Fortsetzungsterminen am 21., 22. und 24. September 2015 (jeweils 09:00 Uhr, A 105) Strafverfahren gegen eine 30 Jahre alte gelernte Altenpflegerin aus Emmerich wegen Totschlags. Ihr wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, am 15.02.2015 in Emmerich am Rhein – nach dem gemeinsamen Besuch des Tulpensonntagszuges – im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung ihren Lebensgefährten durch einen Messerstich ins Herz vorsätzlich getötet zu haben.

Die Angeklagte hatte zunächst angegeben, ihr Lebensgefährte habe sich das Messer selbst in die Brust gestochen; später gab sie an, sie habe in Notwehr zugestochen, habe jedoch keine Tötungsabsicht gehabt. Für den 2. und 3. Verhandlungstag sind insgesamt 14 Zeugen geladen.

Die Einladung an die Presse enthält einen Fehler, denn der 18. September ist kein Mittwoch. Was soll man glauben? Wochentag oder Datum? Die Suche nach der Wahrheit beginnt schon vor dem Prozess. Es stellt sich heraus: Das Datum ist richtig, der Wochentag falsch.

Totschlag am Tulpensonntag – das könnte als Krimititel herhalten, aber es wird um nichts als eine traurige Wirklichkeit gehen, in der das Datum möglicherweise so zweitrangig ist wie der Fehler in der Einladung ...

Man würde im wirklichen Leben so nicht sprechen. Man würde nicht sagen: Sie hat einen Menschen getötet, ohne Mörderin zu sein. Die Justiz macht Unterschiede. Ein Mann ist zu Tode gekommen. Ein Messer ist unterhalb des linken Schlüsselbeins in seinen Oberkörper eingedrungen, hat Luftröhre und Lunge verletzt, die Rippen angeschartet und schließlich das Herz getroffen. Jede Hilfe kam zu spät. Im Verfahren wird es nicht um Mord gehen. Totschlag wird angeklagt. „Sie haben einen Menschen getötet, ohne Mörder zu sein.“

Die Angeklagte ist 30 Jahre alt. Schluchzend betritt sie den Saal. Ihre Tränen werden den Vormittag durchziehen. Hinten im Saal des Klever Landgerichts: Angehörige des Opfers.Vorne: Drei Richter, zwei Schöffen, zwei Verteidiger, ein Staatsanwalt, ein Gutachter und ein Vertreter der Nebenklage. Der Rummel hält sich in Grenzen. Der Richter stellt die Prozessbeteiligten vor. Die Angeklagte soll wissen, mit wem sie es zu tun hat. „Sie müssen hier gar nichts aussagen“, klärt der Vorsitzende Richter die Angeklagte auf. Sie möchte aussagen. Das ist das Programm des Gerichts für den ersten Verhandlungstag. Danach: Wochenende. Es wird nicht sofort um die Tat gehen. Jede Tat beginnt im Leben – hat ein Vorspiel. Das Gericht gräbt sich ein. Keine Geschichte ohne Vorgeschichte. Zum Vorschein kommt eine Trümmerlandschaft. Die Aussage wird für Außenstehende schwer nachvollziehbar, denn die Angeklagte springt durch die Zeit. Das Gesagte anzuordnen ist nicht einfach. Die Angeklagte wird mehrfach von Weinkrämpfen geschüttelt. „Wenn es nicht geht, sagen Sie es. Wir machen dann eine Pause“, beruhigt der Vorsitzende. Dann: Der Eintritt in ein zerfetztes Leben. Der Vater: Alkoholiker. Die Mutter wird geschlagen. Die Angeklagte reagiert auf chaotische Verhältnisse, in dem sie sich selbst verletzt. Die Mutter, sagt sie, habe von alledem nichts mitbekommen. Die Angeklagte hat einen leiblichen Bruder. „Ist der älter“, fragt der Vorsitzende. „Nein, jünger. Aber größer.“ Richter: „Aber als er kleiner war, waren Sie noch größer“ Nicht immer ist klein gemeint. Manchmal wird ‘jung’ mit ‘klein’ übersetzt.

Die Angeklagte wird früh aussortiert: Sonderschule. Sie kommt mit dem Rechnen nicht klar, aber ihre Eltern interessiert das nicht. Einmal – sie ist schon auf der Sonderschule – soll sie eine Rechenaufgabe lösen. Sie schafft es nicht. Fragt den Vater: Die Antwort: Schläge.

Die Mutter nimmt sich einen neuen Freund. „Irgendwann saß ein Typ in unserem Wohnzimmer und ich habe mich gefragt, warum mein Vater nicht mehr da war.“ Später hat auch der Vater eine Freundin. Der Vater habe die Mutter geschlagen, und die Mutter habe den Vater verarscht. Das Mädchen schwänzt die Schule, landet in einer Pflegefamilie, in verschiedenen Wohngruppen, in verschiedenen Städten. Die Aussage wird diffus. Zeitliche Zuordnungen werden schwierig. In der Pflegefamilie war vieles besser, erfährt man. Aber es hat mehrere Pflegefamilien gegeben. Und mehrere Wohngruppen. Mehrere Betreuer. Ob die Angeklagte mit ihrer Pflegemutter über intime Dinge habe reden können, möchte der Vorsitzende wissen, als die Geschichte der Angeklagten im Pubertätsstadium angekommen ist. Ein Weinkrampf. Eine Pause. Eine Viertelstunde. Bei Gericht dauert eine Viertelstunde in der Regel 30 Minuten. Während das Gerichtspersonal den Saal verlässt, bleibt die Angeklagte zurück, weint sich stumm durch ihre Einsamkeit. Sieht irgendwie hilflos aus und irgendwie auch nicht. Man fragt sich, was an den Ausbrüchen echt ist, was übertrieben.

Später wird die Angeklagte von den Bildern sprechen, die sie nicht aus dem Kopf bekommt. Jeden Tag kommen die Bilder. Sie kommen ohne Warnung. Bilder können zu Dämonen werden. Nach 90 Minuten Verhandlung bleiben noch sechs Jahre bis zur Tat. Die Angeklagte hat bereits zwei Söhne. Unterschiedliche Väter. Ähnliche Katastrophen. Was anfangs nach Liebe aussieht (sich vielleicht auch so anfühlt), endet in Entfremdung. Das erste Kind kommt in eine Pflegefamilie. Geschichte ist Wiederholung. Katastrophen brauchen keine Erfinder. Sie leben von Fortsetzungen. Die Angeklagte hat in Braunschweig gelebt, in Hildesheim, in Göttingen. Jeder Ortswechsel: Eine Flucht vor schlechten Erinnerungen. Die Erinnerungen, möchte man rufen, stecken nicht im Ort: Sie hausen im Kopf. Der Kopf reist mit. Egal wohin. Die Angeklagte chattet viel. Sie lernt – zwei Kinder hat sie bereits – einen Mann kennen: Facebook. Man schreibt sich. Dann das Telefon. Irgendwann reichen Worte und Stimme nicht. Man trifft sich. Er besucht sie. Er ist 13 Jahre älter, hat zwei Söhne. Einer ist 18. Beide leben noch beim Vater. Das Vortatjahr ist erreicht. Das Gericht versucht einzukreisen, wann die Angeklagte nach Emmerich gezogen ist.Vor Weihnachten.Vor Nikolaus. Im Dezember. Schon, als sie an den Niederrhein zieht, gibt es Probleme in der Beziehung. Die Angeklagte zieht aus einer Wohnung, in der sie drei Zimmer für sich und ihren zweiten Sohn hatte (der erste lebt längst bei einer Pflegefamilie), in eine Dreizimmerwohnung, die jetzt für sie, ihren Freund, dessen zwei Söhne und ihren eigenen kleinen Sohn reichen muss. Sie hat, erfährt man zwischendurch, Altenpflegerin gelernt. Eine Stelle hat sie nie bekommen. Immer wieder fragt der Vorsitzende, was sie die ganze Zeit gemacht habe. Immer wieder enden die Antworten im Unbefriedigenden. Sie habe, sagt sie einmal, an Bewerbungstrainings teilgenommen. „Aber doch nicht vier Jahre lang acht Stunden täglich“, kommentiert der Vorsitzende. Sie habe sich um den Haushalt gekümmert und später auch um den Vater, der zunächst in einer psychiatrischen Klinik gewesen sei. Sie erzählt von ihrem letzten Freund – dem späteren Opfer. Viel gearbeitet habe der. Morgens um vier sei er aufgestanden und dann zur Arbeit in einer Käsefabrik gefahren. Mit dem Rad zur Haltestelle. Dann mit dem Bus zur Fabrik. Abends sei er gegen 18 Uhr nach Hause gekommen. Habe gekocht. Anfangs habe sie gedacht: Das sei ein Lieber. Geht arbeiten, macht den Haushalt, kocht. Später sei ihr aufgefallen, dass er im Partykeller heimlich getrunken habe. Einen Kasten Bier am Tag. Im Zuschauerraum rumort es. Der Richter sagt: „Frau M., überlegen Sie mal. Das kann doch nicht sein. Der geht morgens um vier aus dem Haus, kommt abends um sechs nach Hause und trinkt eine Kiste Bier. Wie soll der jemals nüchtern werden? Wie viel hat er nun tatsächlich getrunken?“ Angeklagte: „Vier Flaschen oder fünf.“ Richter: „Das hört sich schon ganz anders an. Wissen Sie, wie viele Flaschen in einem Kasten sind?“ Angeklagte:„10 oder zwanzig.“ Richter:„Der Herr W. kann sich nicht mehr wehren. Da sollten Sie schon aufpassen, was Sie sagen.“ W. habe, hat die Angeklagte vorher erzählt, von seiner Familie schlecht gesprochen. Zischen im Zuschauerraum. „Vielleicht hat er das nur gesagt, weil es Ihrer Geschichte ähnelt?“, hat der Vorsitzende kommentiert.

Der W. habe zwischendurch immer wieder damit gedroht, sich umzubringen, wenn sie ihn verlasse, hat die Angeklagte erzählt. Einmal sei sie mit gepacktem Koffer am Hauptbahnhof gestanden. „Aber dann war kein Zug da.“ Dann habe W. sie angerufen. Gefragt, wo sie sei. „Am Hauptbahnhof“, habe sie gesagt. Dann sei er gekommen. Habe sich auf die Gleise gestellt. Er werde erst dann von den Gleisen gehen, wenn sie ihn nicht verlasse. Einen Vorfall auf der Rheinbrücke hat es gegeben. Die Polizei hat die Angeklagte stark alkoholisiert (1,6 Promille) angetroffen – ein Bein schon über dem Geländer. Sie sei dann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Für eine Woche.„Haben Sie regelmäßig getrunken?“, fragt der Vorsitzende.„Nein. So gut wie nie.“ Ob sie Drogen genommen habe? Nein. Und Tabletten? Nein. Höchstens mal bei Kopfschmerzen.„Haben Sie oft Kopfschmerzen?“ „Wenn ich nachdenke, habe ich Kopfschmerzen.“ „Denken Sie oft nach?“ „Jeden Tag.“ Sie nehme dann Paracetamol. Einsam habe sie sich gefühlt. Mit niemandem habe sie reden können. Die Schmerzen: Innen. Sie meint die Seele.

In das Chaos hinein holen die Angeklagte und ihr Freund den Vater in die Dreizimmerwohnung. Längst ist der ältere der beiden Söhne ausgezogen. Alle Beziehungen der Angeklagten sind immer wieder von Eifersüchteleien durchzogen. Wird sie angegriffen, „schubst“ sie. Eigentlich aber nur dann, wenn sie ihr Kinder verteidigen will. „Ihr Vater war krank?“, fragt der Richter. Es sei ein Schatten auf der Lunge gefunden worden, dann „etwas im Darm“. „Hat ihr Vater auch Bluthochdruck gehabt? Oder zu niedrigen Blutdruck?“ „Beides.“

Das Gericht hat den Tattag erreicht. Zweieinhalb Stunden sind vergangen. „Wir wollen jetzt mal die Ereignisse am Tattag besprechen.“ Die Angeklagte, erfährt man, hat verschiedene Aussagen gemacht. Der Freund habe sie bedroht. Er habe das Messer gehabt und auf sie gerichtet. Eine andere Variante: Der Freund habe sich das Messer selbst ins Herz gerammt.

Der Tag: Tulpensonntag. Der Karneval auf seinem Höhepunkt. Großer Umzug. Die Angeklagte und ihr Freund: Eingeladen bei Freunden. Zunächst sind sie beim Zug. Man trinkt. Das Opfer möchte einen Kuss. Die Angeklagte weigert sich. Schlechte Stimmung kommt auf. Später bei den Bekannten reden sie nicht miteinander. „Aber er hat mit den anderen über unsere Beziehung gesprochen.“ Die Angeklagte ist nicht gut drauf. Sie weint. Soll doch besser nach Hause gehen. Der ältere Sohn des Opfers soll sie begleiten. Er geht ein Stück mit. Dann lässt er sie stehen. Vier Stunden nach der Tat hat die Angeklagte bei einer Blutprobe noch 0,84 Promille. Das Opfer: 1,2 Promille. Die Angeklagte geht nach Hause. Laufen. Stehenbleiben.Weiterlaufen. Sie ist noch nicht lange da, als der Freund eintrifft. Jetzt ist alles diffus. Eine Angeklagte außer Fassung. Sie weiß nicht, wie all das passiert ist. Sie erinnert sich nicht. Sieht immer wieder fragend ihre Anwälte an. Immer wieder kommen diese Bilder. Sie hält das nicht aus. Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel schaut, sind die Bilder schon da. Sie möchte alles ungeschehen machen, aber niemand kann das. Es tut ihr leid. Es tut ihr so leid.

[Gibt man den Namen des Opfers im Internet ein, stößt man auf den Nachruf der „Rehabilitations- und Behinderten Sport Gemeinschaft“: „Wir trauern unendlich um unseren langjährigen Übungsleiter und lieben Kollegen. Er verstarb auf tragische Weise im Alter von 42 Jahren. Bei uns wird Er eine riesige Lücke hinterlassen und uns wird immer seine herzliche und fürsorgliche Art fehlen.“]

Die Angeklagte hat das nicht gewollt. „In meinen 30 Jahren als Richter habe ich nur ganz wenige Menschen getroffen, die ‘das wirklich gewollt’haben“, sagt der Vorsitzende. Hat die Angeklagte Kontakt zur Mutter? Hat sie nicht. Sie will es nicht. Und zum Vater? „Ich habe seine Nummer in meinem Handy. Und mein Handy habe ich ja nicht mehr.“ „Da kann Ihre Anwältin sicher etwas tun“, sagt der Vorsitzende. „Haben Sie in der Justizvollzugsanstalt jemanden, mit dem sie reden können?“ Da gibt es den Pfarrer. Die Verteidigerin sagt das. Sie nennt noch jemanden. Name und Funktion werden von der schlechten Akustik und dem Schluchzen der Angeklagten geschluckt. Den psychologischen Dienst in der JVA könne man vergessen, sagt die Angeklagte. Der Vorsitzende rät, „obwohl mir das natürlich nicht zusteht“, zur Kontaktaufnahme mit Mutter oder Vater. Immer wieder versucht er, einen Überblick über das Tatgeschehen zu gewinnen. „Sie haben ja verschiedene Aussagen gemacht.“ Die Angeklagte erinnert sich nicht. „Auch, wenn das doof klingt: Ich weiß es nicht mehr.“ Sie sei irgendwann aus dem Schlafzimmer (Tatort) ins Wohnzimmer gerannt und habe dem Vater gesagt, er solle den Krankenwagen rufen. Dann sei sie zurück. Da habe der W. schon gelegen. Als sie aus dem Schlafzimmer ging, habe er noch gestanden. Dann habe er gelegen. „Steh auf“, habe sie gesagt. Immer wieder: „Steh auf.“ Aber er sei nicht aufgestanden.„Das muss ziemlich geblutet haben“, sagt der Vorsitzende.„Alles war voller Blut.“ „Können Sie sich noch an das Messer erinnern? Haben Sie es herausgezogen?“ „Ich kann mich nicht erinnern.“ Die Aussage verschwindet im Schluchzen. Alles wird bruchstückhaft. Der Vorsitzende fragt immer wieder ruhig nach. Lässt genügend Zeit zwischen die Fragen fließen. Alles tue ihr so leid. Ja, sie habe irgendwann das Messer herausgezogen. Alles tue ihr leid, aber es sei nicht zu ändern.

Der Vorsitzende möchte wissen, ob es noch Fragen an die Angeklagte gibt. Der Staatsanwalt verneint. Der Vertreter der Nebenklage verneint. War das ein Geständnis? Ist es Gestehen, wenn eine Angeklagte sagt, dass sie all das nicht gewollt hat? Wenn sie sagt, dass sie das Messer herausgezogen hat? Wahrscheinlich wird das Recht es so sehen. Sonst hätte es Fragen gegeben. Das Opfer ist zum zweiten Mal gestorben. „Wir machen dann am Montag weiter“, sagt der Richter.

Andere Seiten

DER ZWEITE TAG

Natürlich hat jeder Prozess zwei Seiten. Der zweite Tag des Prozesses um den Tod eines Emmerichers am Tulpensonntag: Vorwiegend im Zeichen der Angehörigen des Opfers. Die andere Seite derselben Medaille. Schon hat der Vater des getöteten Emmerichers zu Beginn des zweiten Verhandlungstages im Zeugenstuhl Platz genommen, als die Verteidigung bekanntgibt: Die Angeklagte möchte – zusätzlich zur ihrer Aussage vom ersten Verhandlungstag – weitere Einlassungen machen. Der Vater des Opfers kehrt zurück an seinen Platz am Tisch der Nebenklagevertretung. Es folgt eine Aussage, die man gern ignorieren würde. Man würde sie dem Vater gern ersparen, denn nun wird das Opfer zum Täter gemacht. Die Angeklagte erzählt von Vergewaltigungen, bei denen sie vom späteren Opfer zum Teil mittels eines Kissens „mundtot“ gemacht und gleichzeitig gefesselt worden ist. Immer wieder habe der Mann sie vergewaltigt – mehrmals pro Woche hätten sich Übergriffe dieser Art ereignet. Sie habe teils sogar heftig an den Oberschenkeln geblutet, sei aber nicht zum Arzt gegangen. Sie sei nur deshalb nicht gegangen, weil sie doch geglaubt habe, all das könne so nicht weitergehen. Sie glaube doch an das Gute. Sowohl der Vater als auch die anderen Angehörigen haben Mühe, ihr Entsetzen, ihren Zorn, ihr Verletztsein zu verbergen.

„Warum haben Sie aus diesen Vergewaltigungen keine Konsequenzen gezogen?“ fragen sowohl der Richter als auch die Nebenklagevertreterin.„Ich hatte Angst.“ Und: „Ich glaube ja an das Gute.“ „Wenn eine Frau mehrmals wöchentlich vergewaltigt und dabei teils gefesselt und mit einem Kissen geknebelt wird, kann sie doch nicht davon ausgehen, das sei irgendwann vorbei“, räumt die Nebenklage ein. Der Richter will wissen:„Haben Sie sich mit niemandem besprochen? Immerhin wohnte doch auch Ihr Vater mit in der Wohnung?“ „Ich kann mit einem Mann über so etwas nicht reden“, so die Angeklagte, beständig am Rande ihrer Fassung. Ihr Freund, so die Angeklagte, habe sie mit Schals gefesselt. Nebenklagevertretung: „Sie werden massiv vergewaltigt und denken dann, es passiert nicht noch mal?“ Und später:„Wie oft wurden sie vergewaltigt?“ Angeklagte: „Bis zu vier Mal pro Woche.“

Richter:„Frau M., es wird jetzt ganz schön eng.“ Angeklagte:„Ich bin immer ehrlich.“ Richter: „Ich erinnere Sie daran, dass Sie zum Tatgeschehen drei unterschiedliche Aussagen gemacht haben. Die können nicht alle der Wahrheit entsprechen. Sie haben unter anderem ausgesagt, das Opfer habe sich selbst getötet. Sie sollten auf dem Teppich bleiben.“ Angeklagte: „Ich sage die Wahrheit. Mein Fehler war, dass ich nicht zum Arzt gegangen bin.“

Dann: Der Vater des Opfers. Sein Sohn, so der 67-jährige Rentner, sei ein ganz ruhiger Mensch gewesen.„Der ist Konflikten eher aus dem Weg gegangen.“ Das Vater-Sohn-Verhältnis: Sehr gut.„Das änderte sich aber, als er diese Frau kennenlernte.“ Der Sohn habe sich mehr und mehr zurückgezogen, sei kaum noch zu Besuch „nach unten“ gekommen. [Das Opfer wohnte in der ersten Etage – die Eltern im Erdgeschoss.] Früher habe man oft zusammen gegessen oder Fußball geschaut. „Ich habe gemerkt, wie sich mein Sohn mehr und mehr veränderte. Nicht mal das WM-Finale haben wir zusammen gesehen. Er kam nicht zu Weihnachten und auch nicht zum Geburtstag.“ Die Kontakte zur Familie: Erfroren. Sein Sohn sei von seiner ersten Frau geschieden.„Nach seiner Scheidung hat sich mein Sohn um die Kinder gekümmert und dafür auch seinen Beruf als Bäcker aufgegeben. Der hat alles für die Kinder getan.“ Nein, denkt das Volk: Einer, der so ist, fesselt nicht die Freundin mit Schals, drückt ihr ein Kissen aufs Gesicht und vergewaltigt sie brutal – drei Mal pro Woche, oder vier.

Nachdem sein Sohn die Angeklagte kennenlernte, so der Vater, sei mit vielem Schluss gewesen. Man habe kaum noch geredet.„Dann kam er und wollte sich bei mir 2.600 Euro leihen, damit er den Umzug seiner Freundin an den Niederrhein bezahlen kann. Ich habe Nein gesagt. Als die dann eingezogen ist, hat sie sich nicht mal vorgestellt.“ Es habe „oben“ oft Streit gegeben und Türenknallen. Richter: „Neigte Ihr Sohn denn zur Gewalt?“ Zeuge: „Er ging Konflikten eher aus dem Weg.“ Streit habe es meist abends gegeben. Tagsüber sei der Sohn ja auch auf Arbeit gewesen. Er habe aber auch den Haushalt gemacht, die Wäsche, die Einkäufe. „Ich habe ihn oft genug mit Einkaufstaschen gesehen.“ Richter: „Wissen Sie, worum es ging, wenn oben gestritten wurde?“ Zeuge: „Keine Ahnung. Das konnte man ja unten nicht verstehen.“ Er habe sich gefragt, wie die mit dem Geld klarkommen. „Da wurden teure Smartphones angeschafft. Die haben mehr als 300 Euro gekostet, aber bezahlt wurde nix. Nach dem Tod meines Sohnes habe ich dann die ganzen Mahnungen bekommen. Da habe ich mir einen Anwalt genommen.“ Einmal habe sein Sohn ein blaues Auge gehabt. „Das habe ich gesehen. Ich weiß aber nichts über die Hintergründe.“ Richter: „Wollte Ihr Sohn die Beziehung beenden?“ Zeuge: „Davon hat er mir nichts gesagt. Ich hatte den Eindruck, dass er ihr hörig ist.“

Es folgen die Aussagen der beiden Söhne des Opfers. Übergriffe der Angeklagten auf das spätere Opfer werden geschildert. Der Vater habe einmal eine Platzwunde am Kopf gehabt, ein anderes Mal ein blaues Auge und dann Schnittwunden am Unterarm. Die Platzwunde rührt vom Schlag mit dem Stecker einer Staubsaugers. Der jüngeren der beiden Söhne leidet darunter, dass der eigene Vater Opfer von Übergriffen seitens der Angeklagten geworden ist.Er möchte die Erinnerungen ausklammern. Aber seine Aussagen sind wichtig. Sie bilden die andere Seite dieser Beziehung zweier Verirrter ab. Der ältere der beiden Söhne zieht schon kurz nach dem Einzug der Angeklagten in die Emmericher Wohnung zu seiner Mutter. Er hält es nicht mehr aus. Es sei alles so eng gewesen. Der kleine Sohn der Angeklagten, erzählt er, sei oft nackt durch die Wohnung gelaufen „und hat in die Ecken gepisst“. Der Jüngere der beiden Söhne schildert eine Begebenheit, in deren Verlauf es zwischen der Angeklagten und dem späteren Opfer zu einem Streit im Schlafzimmer kommt. Die S. sei irgendwann in die Küche gerannt und mit einem großen Messer zurück ins Schlafzimmer gelaufen. Am nächsten Morgen sieht er am Unterarm seines Vaters einen Verband. Richter: „Hast du deinen Vater denn gefragt, was passiert ist?“ Zeuge: „Mein Vater sagte, dass er sich beim Ausräumen der Spülmaschine an einem Messer geschnitten hat, aber das habe ich nicht geglaubt. Die Spülmaschine war noch nicht ausgeräumt.“

Am Tag vor der Tat habe er, so der Jüngere der beiden Söhne, „eine SMS von Papa bekommen. Da stand drin, dass der die S. jetzt rausschmeißen will.“ Ob sein Vater aufbrausend gewesen sei oder zu Handgreiflichenkeiten geneigt habe, will der Richter wissen.„Wenn du mal abends abgehauen und erst morgens zurückgekommen bist – hat der sich dann aufgeregt und gab’s dann auch mal eine Ohrfeige?“ „Das hat es nie gegeben. Am nächsten Tag war immer alles vergessen.“

Dann: Der Vater der Angeklagten. Er wird von seinem Recht Gebrauch machen, nicht aussagen zu müssen. Der 52-jährige wirkt angeschlagen, zebrechlich – zerbrochen. Er muss, als er den Zeugenstand verlässt, gestützt werden. Richter: „Möchten Sie noch kurz mit Ihrer Tochter reden?“ Vater: „Ja.“ Richter: „Wir machen dann mal zehn Minuten Pause.“

Im Anschluss sagen nacheinander eine Tochter und ihr Vater aus. Sie betreten zusammen den Gerichtssaal – werden zusammen belehrt. „Dann bitte ich Sie, noch draußen zu warten. Wir beginnen mit der Vernehmung Ihrer Frau“, irrt sich der Richter.„Das ist meine Tochter.“ Tochter und Vater berichten: Das spätere Opfer und die Angeklagte hätten sich gestritten. Tochter: „Die sagte immer wieder: ‘Ich bringe den um.’ Ich habe das natürlich nicht ernst genommen. Ich dachte doch: Die hat zu viel getrunken.“ Auch der Vater erinnert sich an diesen Satz. „Das hat sie mehrmals gesagt.“ Ob die Angeklagte gewusst habe, dass das Opfer sie am Rosenmontag habe vor die Tür setzen wollen, fragt der Richter. Sie hat es gewusst. Später wird klar, dass sich die Angeklagte bereits um eine mögliche Bleibe für sich, den Sohn und ihren Vater gekümmert hat.

Dann: Die Ex-Frau des Opfers: Ihr Ex-Mann sei am Samstag vor der Tat zu ihr gekommen. Er sei fix und fertig gewesen.„Der hat wahrscheinlich nur deshalb nicht geweint, damit seine Söhne es nicht sehen.“ Ihr Ex-Mann habe ihr gesagt, dass es so nicht mehr weitergehen könne. Er wolle wieder den Kontakt zu seiner Familie und er werde die S. am Montag aus der Wohnung werfen. Es könne so nicht weitergehen. Richter: „Wie lange haben Sie mit Ihrem Ex-Mann zusammen gelebt?“ Zeugin: „Wir waren sieben Jahre verheiratet und haben zehn Jahre zusammen gelebt.“ Richter: „Wie war der Umgang Ihres Mannes mit den Kindern?“ Zeugin: „Der hat alles für die getan. Der hat die toll erzogen.“ Auch die Frau sagt aus, ihr Mann sei Konflikten eher ausgewichen. Handgreiflichkeiten habe es nie gegeben. Richter. „Hat es – ich frage das aus gegebenem Anlass – während Ihrer Beziehung sexuelle Übergriffe gegeben? Oder war das alles ganz normal?“ Zeugin: „Nein. Übrgriffe – niemals. Alles ganz normal.“

Während die Angeklagte ihr Opfer vor allem zu Beginn des zweiten Verhandlungstages in ein denkbar schlechtes Licht rückt, schildern Verwandte und Bekannte einen eher konfliktscheuen Menschen, den man sich im Zusammenhang mit Handgreiflichkeiten ganz und gar nicht vorstellen kann und der am Tag allenfalls zwei, drei Flaschen Bier getrunken habe. W. sei ein ordnungsliebender Mensch gewesen, der allerdings mit fortdauernder Beziehung mehr und mehr aufgegeben habe, die Wohnung ordentlich und sauber zu halten. Immer wieder sei es zwischen ihm und der Angeklagten zu äußerst lautstarken Auseinandersetzungen gekommen.

Im Gedächtnis bleiben vor allem die Aussagen von Vater und Tochter (Gastgeber der Tulpensonntagsparty), die übereinstimmend bezeugten, die Angeklagte habe mehrmals geäußert, sie werde W. umbringen. Im Gedächtnis bleiben auch die zerstörten Lebensläufe der beiden Söhne, die sich bis heute nicht von der Tat erholt zu haben scheinen. Vor allem dem Jüngeren der beiden war anzumerken, dass er darunter litt, wie sein Vater von der Angeklagten behandelt wurde. Im Gedächtnis bleibt auch ein besonnen agierendes Gericht, das lediglich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen der Angeklagten zu Beginn des zweiten Tages an die Grenzen des Duldbaren stieß.

Fälle wie dieser machen immer wieder klar, dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt. Manchmal passen sie zusammen, lassen sich – mit viel Einfühlungsvermögen synchronisieren, wenn man sich nur klarmacht, dass der Blick eines Opfers anders ist als der eines Täters. Der Tulpensonntagsfall stellt Beobachter vor die Herausforderung eines Objektivierungsversuches, der aus sich heraus zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Kann es eine Frau geben, die immer wieder von einem Mann brutal vergewaltigt worden ist, der von anderen als konfliktscheu und eher ruhig beschrieben wird?

Synchronisationen

DER DRITTE TAG

Gerichtsverhandlungen sind Synchronisationsversuche und enden mit Einordnungen. Gerichtsverhandlungen beginnen am Ende einer Tat. Sie setzen, wenn es um Menschenleben – oder eigentlich um Menschentode geht – eben dort an, wo der Kommissar in einer krimigefluteten Fernsehwirklichkeit am Ende eines illustren Ratespiels den Täter präsentiert, der dann gern Mörder genannt wird.Alles kreist um Unterhaltung.Wo der Krimi endet, müsste die Synchronisation ins Leben beginnen.

Vor der 4. Strafkammer des Klever Landgerichts ging es drei Tage lang um den Fall eines Mannes, der am Tulpensonntag dieses Jahres durch einen Messerstich zu Tode kam. Am Ende ein Urteil im Namen des Volkes: Acht Jahre wegen Totschlags. Gerichtsverhandlungen präsentieren Wiederholungen. Zeugen werden gehört, denn nichts, was nicht im Verhandlungssaal Wort wird, hat letztlich Gewicht. So wird fast jede Verhandlung zur Besichtigung verschiedener Standpunkte und Perspektiven. Ein Mann wird erstochen. Es war die Lebensgefährtin. Mit einem Stich, der unterhalb des linken Schlüsselbeins in die Brust eindrang, hat die 30-Jährige dem Leben des Mannes ein abruptes Ende gesetzt. Im Zentrum des ersten Tages: Eine teils aufgelöste Angeklagte, geschüttelt vom Mitleid um die eigene Person und die Reue über ihre Tat. Eine Angeklagte, die – Gericht und Staatsanwaltschaft werden das am Ende erwähnen – geständig ist. Eine Angeklagte, die die Klaviatur der Emotionen zu handhaben weiß und manchmal – so ahnt man – einer Art Selbsthypnos erliegt, in deren Zentrum das eigene Elend an erster Stelle rangiert. Eine Angeklagte, die sich zu Beginn des zweiten Verhandlungstages zu Beschuldigungen hinreißen lässt, die aus dem Opfer einen Täter machen. Über Wochen sei sie, so die Angeklagte, massiv vergewaltigt worden. Sie sei geknebelt und gefesselt worden.

Auf der anderen Seite ein Opfer, das durchgängig als eher konfliktscheu beschrieben wurde – ein Mann, der sich nach seiner Scheidung von der ersten Frau um die Erziehung der Kinder kümmerte, einer, der die Angeklagte über Facebook kennenlernte und – so scheint es – viel zu schnell das eigene Leben betreten ließ. Eine Geschichte, der es anfangs nicht an Synchronität mangelt: Gesucht, gefunden. Am Ende eines chatgesteuerten Kennenlernens, dem Telefonate und Treffen folgten, lebt ein Paar auf drei Zimmern: Patchwork. Das Opfer lebt mit seinen beiden Söhnen in Emmerich, die Angeklagte kommt mit ihrem kleinen Sohn dazu, holt später ihren Vater nach, der aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurde. All das spielt sich auf engstem Raum ab und führt – im wahrsten Sinne des Wortes unausweichlich – zu Reibung, Reibereien. Auf der einen Seite die Frau, die alles klären will – dabei notfalls auch Handgreiflichkeiten nicht scheut – auf der anderen Seite ein eher ruhiger Mann, einer, der die Dinge durch Rückzug beseitigen möchte.

Zwei haben sich gesucht. Zwei haben sich gefunden. Zwei ersticken an gegenseitigen Erwartungen. Längst ist aus der Pseudoharmonie des Anfangs ein beidseitiges Ertragen geworden, aus dem auszubrechen anfangs unmöglich scheint. Zwei entgegengesetzte Wirklichkeiten prägen sich aus. Zwei Menschen in derselben Falle, die sich Leben nennt. Propheten werden nicht gebraucht, um zu wissen: Die Zeichen stehen schlecht. Die Konflikte mehren sich. Die Luft zum Atmen wird dünner. Das spätere Opfer: Einer, der morgens um vier aufsteht, mit dem Rad zur Bushaltestelle fährt, zur Arbeit in der Käsefabrik, aus der er abends gegen 18 Uhr zurück kommt, um sich um Haushalt und Kochen zu kümmern. Eine Frau, die sich eher wenig um den Haushalt kümmert. Das spätere Opfer mutiert vom familienorientierten Menschen (im Parterre des Hauses wohnen seine Eltern) zu einem, der sich kaum noch blicken lässt – nicht bei Geburtstagen, nicht zu Weihnachten und nicht zum Finale der WM. Man buchstabiert ein solches Verhalten als Abhängigkeit. Vielleicht.

Verhandlungen sind Wiederholungen. Immer wieder marschieren die Umstände auf. Immer wieder wird Vergangenheit in den Saal gerufen. Eine Polizeibeamtin der Mordkommission hat die Vernehmung durchgeführt.Von brutalen Vergewaltigungen ist nicht die Rede. Sie finden in den ersten Aussagen der Angeklagten nicht statt und haben, so später der Richter bei der Urteilsbegründung, „nach unseren Erkenntnissen nie stattgefunden“.

Die Zuspitzung einer zwischenmenschlichen Unmöglichkeit findet ihren Vorhöhepunkt im Entschluss des Opfers, sich von seiner Lebensgefährtin (der Angeklagten) zu trennen – sie aus der Wohnung zu schmeißen und so zurück in ein anderes Leben zu finden – eines, in dem er die eigene Existenz nicht verleugnen muss. Am Vortattag sucht das spätere Opfer seine Ex-Frau auf. Sie soll helfen – soll die Annäherungen an die Söhne und die Restfamilie stützen.

Keine Streitereien mehr mit der Frau, die ihn mit einem Staubsaugerstecker verletzte, ihm ein blaues Auge schlug, ihm den Raum für das eigene Leben nahm. Eine Seite der gebrochenen Wahrheit. Auf der anderen Seite eine junge Frau, die eine der Geschichten erzählt und erlebt hat, die so nur allzu oft schlecht enden. Vater: Alkoholiker. Mutter: Nicht wirklich an der eigenen Tochter interessiert, die vom Leben schnell aussortiert wird.„Ich musste zur Sonderschule. Ich kam mich dem Rechnen nicht klar.“ Als sie den Vater einmal um Unterstüzung beim Rechnen bittet, schlägt er sie. Vergewaltigt mit 15. Früh Mutter: Ein erster Sohn – längst bei einer Pflegefamilie. Dann das zweite Kind, das sie mit nach Emmerich nimmt und das jetzt auch in einer Pflegefamilie lebt. Dazu: Ein Schwangerschaftsabbruch. All das sind lichtlose Geschichten. Beziehungen entpuppen sich als Scheinlösungen. Eigentlich nur als Schein.

All das endet am Tulpensonntag. Die Angeklagte und ihr Opfer feiern, aber schnell legt sich ein Schatten über den Karneval. Beide trinken. Sie weiß, dass die Beziehung am Rosenmontag Geschichte sein wird – dass sie aus der Wohnung wird ausziehen müssen. Sohn und Vater auch. Das Opfer möchte einen Kuss: Sie will nicht. Kleiner Funke. Große Flamme. Sie gehen zu Bekannten. Sind eingeladen. Das Crescendo beginnt. Streit. „Ich bring‘ den um!“, sagt sie Stunden vor der Tat und wiederholt es mehrmals. Irgendwann verlässt sie die Party. Findet in die Wohnung. Dann taucht er auf. Geht ins Schlafzimmer. Kohlmanier: Aussitzen.Vielleicht läuft ein Countdown in seinem Kopf. Morgen ist Freiheit. Sie aber will Klärung: Der Gang ins Schlafzimmer. Der Streit. Das Messer. Der Tod. Der Messerstich – das Gericht ist längst bei der Synchronisation und wertet ihn als beabsichtigt – ist kaum gesetzt, da tritt die Reue ein. Sie rennt ins Wohnzimmer. Der Vater soll um Hilfe telefonieren. Als sie zurück ins Schlafzimmer rennt, um das Messer zu ziehen, liegt auf dem Bett schon ein Sterbender: Das Messer hat sie bis zum Heft in die Brust gestoßen. Ohne große Kraftanstrengung ist so etwas nicht zu machen. „Steh doch auf“, fleht sie ihn an und ahnt schon, dass er nicht mehr aufsteht.

All das gilt es zu synchronisieren. Angeklagt ist nicht Mord. Angeklagt ist Totschlag. Das Gericht findet bei seiner Synchronisation der Aussagen keine Anzeichen. Aber ist nicht Mord, wenn eine in Tötungsabsicht dem Opfer ein Messer hefttief in die Brust rammt? Hier lösen sich Erlebniswirklichkeit (der Angehörigen) und Justiz bisweilen voneinander ab. Kein Mord: Totschlag. Aber: Kein minderschwerer Fall. Acht Jahre. Schuld- und tatangemessen. Aber was ist Schuld? Eine Tat ist zu beschreiben – hat einen Anfang und ein Ende. Schuld endet nicht. Sie könne sich, hat die Angeklagte gesagt, nicht mehr im Spiegel anschauen. Sie sehe ständig die Bilder. Es gibt ein Urteil. Und es gibt die Dämonen, von denen viele erzählen, die anderer Leben beendet haben. Es gibt all das, vor dem zu fliehen unmöglich ist.

Auf dem Weg zum Urteil: Gutachten. Der Gutachter erklärt ohne Punkt und Komma. Ist die Angeklagte Borderlinerin? Fünf Merkmale müssten auftreten. Mindestens. Bei gutem Willen sind es drei.Vielleicht gibt es eine Akzentuierung. Vielleicht ein Bordeline-Niveau. Es gibt keine eindeutigen Befunde. Mehrmals spricht der Gutachter von der „sehr akzentuierten Persönlichkeit der Anegklagten“ und zieht am Adjektiv: Seeehr. Affekthandlung: Auszuschließen. Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit? Nein. Aber: Die Angeklagte hat es nicht einfach mit sich selbst. Ja – die Reue in Bezug auf die Tat wirkt manchmal eher als eine Reue über das eigene Scheitern. Das sagt nicht der Gutachter. Er sagt, dass die Angeklagte sicherlich Hilfe braucht.

Nur die Staatsanwaltschaft hatte im Plädoyer eine Zahl genannt: Acht Jahre. Die Nebenklage blieb ohne Zahl, rügt das theatralische Auftreten und die Vergewaltigungsbehauptungen. Ein Opfer nachträglich zu kriminalisieren: Verwerfliches Tun. Empfindliche Strafe.

Die Verteidigung räumt ein: Alles hat sich zugetragen wie angeklagt. Bei der Beschreibung der Mandantin wird ein Wort geboren: Beziehungsorientierungslos. Ja, die Mandantin hat an einigen Stellen zu dick aufgetragen. In ihrem Leben fehlt es am roten Faden. Das Wort Desaster wird gesprochen. Es wird vom Aufeinanderprallen der gegenseitigen Erwartungen gesprochen, vom Hochschaukeln, von der Einsamkeit der Angeklagten, von einem Mangel an Zuspruch. Dass eine sagt „Ich bring‘ den um“ kann nicht als Vorsatz gesehen werden, selbst dann, wenn am Schluss der Tod eintritt. Das sagt nicht die Verteidigung. Aber sie sagt, dass die Angeklagte nie aufund straffällig geworden ist. Dass sie sich jeden Tag mit dem Geschehenen auseinandersetzen wird. Das sei kein Versprechen, das sei eine Tatsache. Eine milde Strafe im Rahmen des Strafmaßes, das der Paragraph 212 vorgibt. Das Straffenster beginnt bei fünf und endet bei 15 Jahren.

Fast vergisst die Kammer, der Angeklagten das letzte Wort zu erteilen.„Wir verkünden“, sagt der Richter gegen 13.30 Uhr,„das Urteil dann um ...“ Und merkt‘s. Das letzte Wort der Angeklagten: Sie bereut. Unendlich. Aber: Es gibt kein zurück. 90 Minuten später: Die Synchronisation alles Geschehenen und Gesagten: Acht Jahre. Straf- und schuldangemessen. Wer sagt, was ein gutes Urteil ist? Der Vater des Opfers hat einen Mord „gesehen“. Das Gericht hat alles in seiner Macht stehende getan – geurteilt nach bestem Wissen und Gewissen. Die Staatsanwaltschaft wird nicht in Revision gehen. Die Verteidigung hat eine Woche Zeit.

ABSPANN

Immer wieder verlässt man wie betäubt den Saal. Rücksturz zur Erde. Ins Normale. Die Justiz hat ihre Arbeit getan und im Namen des Volkes ein Urteil gesprochen. Gefällt. Synchronisierung ist am Ende Theorie, wie auch das Recht eine Theorie ist. Das Recht kann keine Wunden heilen. Es lässt allzu oft Ratlose zurück. Ein Vater versteht nicht, dass da kein „Mord“ geschehen ist und schüttelt den Kopf. Nichts bringt den Sohn zurück. Nichts holt ihn ins Leben. Eine verurteilte Täterin kehrt in die Haft zurück – Dämonen im Gepäck. Die Bilder kommen immer wieder. Jahrelang. Jahrzehntelang. Es gibt keine Flucht. Es gibt eine Tat.Aber was ist die Schuld? Und was die Sühne? Justiz beantwortet – oberflächlich betrachtet – Taten mit Zahlen. Die Antwort auf den Tod am Tulpensonntag: Acht Jahre. Es braucht Urteile. Urteile sind Teil eines geplanten Abschlusses. Was, wenn es nicht acht Jahre wären, sondern sieben Jahre, vier Monate, drei Tage, fünf Minuten? Oder neun Jahre, sechs Monate, vier Tage, 15 Stunden? Weder das eine noch das andere rastet ein. Es macht nicht „klick“. Es geht um Jahre – manchmal kommen Monatsangaben hinzu. Jahre lassen sich in Beziehung zu einem Leben setzen. Tage, Minuten, Sekunden eher nicht. Zahlen sind ein Abstrakt. Auch Strafen können es sein. Man wünscht sich, dass eine wie diese Angeklagte Wege findet. Man wünscht ihr ein anderes Leben. Ja, das Opfer ist tot. Nichts daran lässt sich ändern. Trotzdem muss es einen Weg für die Täterin geben. Jeder gewaltsamte Tod hinterlässt am Ende nur Opfer. Daran ändern auch Strafen nichts. Aber, so hofft man: Strafe muss mehr sein als eine Zeit in Unfreiheit.


Heiner Frost
Erstellt: 24.09.2015, letzte Änderung: 24.09.2015