Bälle

Die Absolution am Netz

Wiebkes kleiner Bruder

Zwanzig Jahre als Tennislehrer sind wie eine Geschichtenfabrik, und Hermann Hendriksen muss es wissen. Wenn Hermann mit dem Erzählen anfängt, werden die Geschichten lang und die Tage kurz. Er ist einer der dienstältesten Tennislehrer in Kleve, obwohl seine Karriere hinter einem kleineren Netz begann. Erst einmal war Hermann nämlich überall nur „Wiebkes kleiner Bruder“. Die große Schwester hatte es im Tischtennis zur Europameisterin im Mixed und zur deutschen Einzelmeisterin gebracht. Ein großer Schatten für einen kleinen Bruder ...

Tee und Tischtennis

... und Grund genug, einen gesunden Ehrgeiz zu entwickeln. Gespielt wurde hausintern auf dem Apothekenspeicher. Da standen Teefässer. Und die Tischtennisplatte. Zum Spielen wurde die Platte auf die Fässer gebockt, und wenn unten jemand Tee verlangte, musste oben das Match unterbrochen werden — ganz egal, wie spannend es gerade zuging an der Platte.

Die Bluna bei Puppa

Dann nahm der Vater den Kleinen (der hatte es mittlerweile geschafft, die Schwester zu besiegen und war drittbester der deutschen Jugend) mit zum Club: Rot-Weiß — Tennis hat Tradition in Kleve. Jetzt also das Match am großen Netz?  Von wegen! Das erste Stadium von Tennis heißt: Balljunge. „So war es früher, frag, wen du willst. Wenn du heute ein Match im Fernsehen guckst, siehst du sechs Balljungen. Damals gab es nur einen.“ Der war für alles zuständig und bekam zehn Pfennig pro Satz. An guten Tagen ballerten sie Wiebkes Bruder 28 Sätze ins Portemonnaie — „gerade genug, um das Geld anschließend bei Puppa, dem Lokal am Platz, in zwei Bluna zu investieren.“

Spiel, Satz — Sieg

Zwei Jahre sammelte Wiebkes kleiner Bruder Bälle ein. „Du sammelst ja nicht nur Bälle. Du musst mitdenken bei den Punkten. Und du lernst.“ Tennisschule durch Hingucken. Learning by looking. Dann kam der Tag, als der Balljunge von jetzt auf gleich die Bälle gegen einen Schläger tauschte und bei der Jugendmeisterschaft antrat. Ergebnis: Spiel, Satz, Sieg. Ende der Fahnenstange? Von wegen. Die zwei ersten aus der Jugendmeisterschaft durften bei den Erwachsenen antreten. Hermann schlug den Vereinsmeister, und aus war's mit dem Wiebkes kleinem Bruder.

Ab jetzt gab es Hermann. Und Hermann hatte Tennis im Kopf. Im Hermannhinterkopf spukten von nun an Bälle, Schläger, Asse. Und Berufswünsche: Sportjournalismus. Sportstudium. Vielleicht aber auch eine Karriere als Tennislehrer.

"Erst mal studieren!"

Beim Hermannvater spukte es ein bisschen anders: „Studium muss sein!“ sprach mit Rufzeichen der alte Herr, und Sohn Hermann zeigte sich einsichtig. Er fing an, Sonderschulpädagogik zu studieren. Zehn Semester lang. Dann starb der Vater und mit ihm auch Hermanns Studium. Jetzt an wurde das Ziel neu definiert: Tennislehrer.

Damals, im Jahr des Hermann 1981, fand Tennis-Ausbildung in München statt. Da und nur da. Folglich überquerte der Klever nun vier mal jährlich für eine Woche den Weißwurstäquator — vier Jahre lang. Dreihundert Stunden Praktika bei bereits ausgebildeten Lehrern und die staatliche Prüfung machten aus Wiebkes kleinem Bruder und dem anschließenden Senkrechtstarter mit „Balljungenausbildung“ den Tennislehrer.

Erst die Vokabeln — dann die Geschichten

Es war die Zeit der Borgs, Wilanders, Lendls, McEnroes: Das Tennis hatte es aus der Wohlstandsecke ins Zentrum der sportinteressierten Breitengesellschaft geschafft. Graf und Becker standen noch in der Warteschleife. Montags aber standen Kunden auf dem Platz, die am Wochenende Tennis im Fernsehen erlebt hatten und nur eines wollten: „Spielen wie Borg.“ „Spielen wie Wilander.“ Und so weiter ...

Einer wie Hermann Hendriksen hat die richtige Ader für die Frontalpädagogik und den richtigen Spruch in fast jeder Situation: „Keine Geschichten ohne Vokabeln“, sagt er. Übersetzung: „Wer spielen will wie Borg, muss erst einmal spielen können.“ Es ist wie mit dem Führerschein: Lern Fahren. Ob du dann nur auf Feldwegen unterwegs bist, oder auf Prachtstraßen, ist deine Sache.

Die Breitseite

Tennis ist das Leben. Aber Tennis ist nicht alles. Hermann versteht sich als jemand, der Freizeit verkauft. Er ist ein Mann für das, was mancher despektierlich Breitensport nennen würde, aber eben auf dieser Breitseite steht am Ende auch die Spitze. Und was, wenn einer kommt und sagt, dass er an die Spitze will? Ganz einfach. „Dann gib den Beruf auf, lass die Familie sausen und fang an, acht bis zehn Stunden Tennis am Tag zu spielen.“

Ob es dann klappt, hängt von unzähligen Faktoren ab. „Eines aber ist Gesetz: Zum Gewinner wirst du geboren. Wer den Instinkt nicht hat, kann trainieren ohne Ende.“ Und noch eins: „15 Jahre im Spitzensport, und du bist fertig. Das geht auf die Knochen.“

Und der Rest ist Glück

Wenn Hermann unterrichtet, geht es um die richtige Balance zwischen Fordern und Fördern. Dazu gehört Fingerspitzengefühl und die Erkenntnis: Wenn einer nur Tennis kann, kann er auch das nicht. „Um gut zu sein — ganz egal auf welcher Ebene — brauchst du Disziplin.“ Es ist wie in der Musik: Fünf Prozent Inspiration, 90 Prozent Transpiration. Macht zusammen 95 Prozent. Und der Rest: Tagesform, Psychologie. Und Glück. Aber mit dem Glück ist das so eine Sache. Ein amerikanischer Supergolfer diktierte in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts einem verblüfften Sportreporter: „Golf ist reine Glücksache. Aber es ist schon verrückt: Je mehr ich trainiere, um so mehr Glück habe ich auf dem Platz.“

Zwischen Frisör und Beichtvater

Tennislehrer — das ist schon ein bisschen wie Beichtvater, Frisör oder Hausarzt. Verschwiegenheit zählt. Für manche der erwachsenen Schülerinnen ist Hermann zudem einer der wenigen Männer, die ihnen zuhören. Die Hermann-Beichte: „Ich habe so ziemlich jeden Fehler im Leben gemacht, aber mit einer Schülerin was angefangen — das habe ich nie.“ Irgendwann möchte er 'sein Buch' schreiben. Den Titel hat er längst: 'Der Schatten des Balles war im Aus.' 

„Beim Sport lernst du die Menschen kennen. Wenn ich jemanden spielen sehe, zeigt der mir nicht nur seine Technik. Am Spiel erkennst du den Menschen.“ Du liest nicht nur das Spiel. Du liest den, der spielt. Tennis als Seelenblick? Klar. „Aber das gilt natürlich nicht nur im Tennis.“ Stimmt.

Die Absolution am Netz

„Tennis ist ein gnädiger Sport“, sagt Hermann. „Du kannst 0:30 zurück liegen und es immer noch schaffen. Wenn du das Spiel noch holst, sind deine Fehler gelöscht.“ Die Absolution am Netz. „Wer im Biathlon beim ersten Schießen versemmelt, muss sich die Lunge aus dem Leib rennen. Das sage ich meinen Jungs immer dann, wenn sie meinen, Tennis sei unbarmherzig.“

Disziplin ist heute nicht mehr gefragt. „Wenn da einer zum Training zu spät kommt, dann glaub mal nicht, dass der rennen würde.“ Am besten: Gleich an der Spitze sein. Fitness-Training? Wenn’s denn sein muss. „Wenn ich einem sage: Kauf dir ein Springseil und leg los, passiert nicht viel. So ein Seilchen macht nicht viel her. Wenn ich eine Trainingsmaschine für 700 Euro anspreche, hört er hin. Das Ding wird dann angeschafft und steht nach ein paar Wochen rum.“  

Trotzdem: Herrmann ist einer, der seine Schüler liebt. Und den Job. "Du wirst nichts vermitteln, wenn du es ohne Spaß tust, und die Schüler merken schnell — verdammt schnell, ob du den Job nur abspulst, oder ob du mehr tust." Spielt einer wie er denn auch noch selber? Die Antwort ist deutlich: "Als Aktiver ist das meine letzte Saison. Danach ist Schluss." Das wird nachzuprüfen sein!

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