Schreibkraft
Heiner Frost

Zwischen den Seilen

Foto: Rüdiger Dehnen

Ja, ja – die Vorurteile: Sie machen das komplizierte Leben zu einem leicht durchschaubaren Setzkasten. Alles hat dann seine Ordnung. Nachdenken? Nicht erforderlich. Kampfsportarten zum Beispiel: Kick- und Thaiboxen werden, so das Vorurteil von ganzkörpertätowierten Halb-Bestien betrieben. Das Motto: ‚1.000 Volt und keine Birne‘ oder ‚unterbelichtet im Oberstübchen‘ …

… und dann trifft man: Frank Tiedemann. Zusammen mit Frank Janßen hat er vor fast sieben Jahren die „Boxfabrik Kleve“ ins Leben gerufen. Es geht um Vollkontaktsportarten. Die Boxfabrik ist ein eingetragener Verein mit derzeit rund 300 Mitgliedern. Tiedemann ist ‚oben ohne‘ und auch Tätowierungen hat er reichlich, aber keines der Vorurteile, die man hätte haben können, findet sich bestätigt, denn da sitzt einer und erzählt etwas vom Wichtigsten: „Das Wichtigste bei uns im Verein ist der Respekt“, sagt er. Schimpfwörter werden nicht toleriert. „Wer andere beleidigt, verlässt das Training. Beim nächsten Mal kann er wiederkommen und sich entschuldigen.“ Eine zweite Chance hat jeder verdient. Wer‘s dann allerdings nicht kapiert, hat das Ende der Fahnenstange erreicht.
„Wir wollen hier keine Selbstdarsteller, keine Gewaltverherrlicher. Es geht um Höflichkeit. Es geht um Respekt“, sagt Tiedemann. Und: „Wer zu uns zum Training kommt, muss sich an die Regeln halten.“ Dazu gehört auch: Politik oder Religion haben in der Fabrik nichts verloren. „Kann ja passieren, dass jemand nicht damit klarkommt, dass bei uns auch Frauen im Ring stehen. Da sag ich dann: ‚Akzeptieren oder Tschüss.‘ Was anderes gibt es nicht. Mit der Politik ist es genauso. Die hat in unserem Sport nichts zu suchen.“
Dampf ablassen? Natürlich. Aber es kommt auf das Wie an. Tiedemann und Janßen sind nicht nur mit der Boxfabrik im Einsatz. Sie leiten auch Anti-Agressions-Trainings. „Wir sind an Schulen und Einrichtungen unterwegs“, sagt er. Wenn er von „Einrichtungen“ spricht, meint er offizielle Auftraggeber. „Wir haben auch schon mit Leuten vom Finanzamt gearbeitet.“
Fragt man einen wie Tiedemann nach seiner Liebe zum Kampfsport, ist eine der ersten Vokabeln: Ästhetik. Heißt das: Ich hau dir auf die Fresse, aber schön? Nein. „Im Kampfsport geht es darum, dass du nichts auf andere schieben kannst. Du kannst nicht sagen: ‚Ich hab verloren, weil der Schieri eine Fehlentscheidung getroffen hat.‘ Wenn du verlierst, dann hat‘s an dir gelegen.“ Auch das ist ein Teil der Ästhetik, die sich dann im gegenseitigen Respekt (siehe oben) fortsetzt. „Wir wollen hier keine Leute, denen es wichtig ist, Gewalt auszuüben“, sagt Tiedemann und man merkt, dass es da keinerlei Interpretationsspielraum gibt.
Warum kommen Leute zur Boxfabrik und lernen Boxen, Thaiboxen, Kickboxen? Tiedemann: „Die Motive sind genau unterschiedlich. Es gibt Menschen, die das aus Fitnessgründen tun, oder es geht darum, sich mit anderen zu messen und natürlich ist auch Selbstschutz ein mögliches Motiv. Bei uns trainieren auch Polizisten oder Justizvollzugsangestellte.“ Der Frauenanteil in der Boxfabrik liegt bei circa 30 Prozent. „Bei den Frauen sind es die gleichen Motive wie bei den Männern. Es geht um Wettkampf, Fitness und Selbstverteidigung.“
Tiedemann ist sicher: „Das Image der Vollkontaktsportarten ist mit den Jahren besser geworden. Früher wäre es eher anrüchig gewesen, Kinder zum Thaiboxen zu schicken. Das sieht heute anders aus. Und wie gesagt: Bei uns kann jeder trainieren, der sich an die Regeln hält.“ Sind denn „Vorkenntnisse“ erforderlich? Einwortantwort: „Nein.“ Und dann die Ergänzung: „Wir holen jeden da ab, wo er steht und bauen ihn dann ein.“ Trainiert wird dienstags, donnerstags und samstags.
Außer den drei Boxsportarten gehören in der Boxfabrik auch noch KRAV MAGA, Brazilien Jiu Jitsu und MMA (Mixed Martial Arts) ins Programm. Fest steht: Bei allen Disziplinen geht es nicht um ein „so tun als ob“. Tiedemann: „Trotzdem hat es in all den Jahren, die wir das machen, bisher erst dreimal schwerere Verletzungen gegeben.“ In der Regel ist an einem normalen Bundesligaspieltag die ‚Unfallquote‘ deutlich höher. „Wer meint, bei uns ginge es brutal zu, der kann sich mal ein American-Football Spiel ansehen oder Eishockey. Da würde ich mich nicht auf den Platz trauen.“

Foto: Rüdiger Dehnen