Schreibkraft
Heiner Frost

Wer von Fischen lernt

Wer von den Fischen lernt, kann schnell am Fliegen scheitern. Es geht um Körperverletzung. Die Geschädigten: Eine Frau, ein Säugling. Auf der Anklagebank: Ein Wicht. 1,60 Meter bis zum Scheitel, aber was sagt das schon aus über die Eruptionen einer Seele?

„Strafverhandlung gegen einen 22-Jährigen aus Kleve wegen (gefährlicher) Körperverletzung. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft kam es am 29. März zwischen dem Angeklagten und der Mutter des gemeinsamen fünf Monate alten Kindes in der Wohnung der Kindesmutter zu einem Streit, in dessen Verlauf der Angeklagte die Geschädigte mit der Faust schlug. Als das Baby aufgrund der lautstarken Auseinandersetzung zu schreien begann, nahm die Mutter es auf den Arm. Gleichwohl ließ der Angeklagte nicht von ihr ab. Als die Mutter einem weiteren Schlag des Angeklagten auswich, schlug hierdurch der Kopf des Babys an einen Küchenschrank, wodurch es erheblich verletzt wurde. Es bestand Lebensgefahr. Durch eine Notoperation konnte das Kind gerettet werden. Der Angeklagte hat die Tat gestanden.“
Das klingt präzise und doch weiß niemand wirklich, was passiert ist. Streit hat es gegeben. Am Ende: Ein geborstener Kinderschädel. Die Version der Mutter: Der Freund hat sie bei einem Streit geschlagen – mit der Faust gegen Kopf und Schulter. Das Kind der beiden, die sich in der Küche streiten, liegt in einer Wippe im Wohnzimmer und beginnt zu schreien. Die Mutter holt es aus der Wippe. Der junge Mann – noch immer im Angriffsmodus – schlägt ein weiteres Mal zu. Er verfehlt sein Ziel. Die Mutter dreht sich – den Säugling noch im Arm – vom Schlag weg. Dabei, glaubt sie, könnte der Kopf des Kleinen an einer Schrankkante Schaden genommen haben. Die Eltern: Betrunken. Es hat Wein und Bier gegeben.
Während die Staatsanwältin die Anklage verliest und das Gericht Hinweise darauf gibt, was außer den in der Anklage genannten Paragrafen für die finale Strafe in Betracht kommt, schweift man ab und fragt sich, um was es hier eigentlich geht.
Es ist eine dieser Geschichten, die schon am Start mit Trostlosigkeit und Verlieren gestrichen sind. Alles getüncht mit diesen grauen Tönen, die das Atmen schwer machen.
Der Angeklagte wird früh von den Eltern getrennt. Der Vater: Spielsüchtig. Die Mutter: Dem Alkohol verfallen. Eine erste Pflegefamilie versucht sich an dem Kind. Dann eine zweite. Die zweite Pflegemutter: Eine Schlägerin. Man wird sie wegen Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilen. „Die hat uns mit dem Bügeleisen auf den Kopf geschlagen“, sagt der Angeklagte. [Wenn einer Fisch gelernt hat, denkt er nicht ans Fliegen.] Der Mensch ist eine Kopiermaschine. Du machst es vor – er macht es nach. Verhalten ist eine Sprache und wenn Lieblosigkeit gesprochen wird, pflanzt sich Herzlosigkeit fort. Wenn Gewalt das Argument der Erziehenden ist, was will man erwarten?
Im Saal verhandeln sie – und müssen das auch – eine Körperverletzung. Da ist eine Tat – irgendwo muss es den Paragrafen geben, der das Geschehene in sich aufnimmt und eine Strafe anbietet. Der Angeklagte ist kein Unschuldslamm. Immer wieder ist er durch Gewalt aufgefallen. (Wer Fisch gelernt hat …) Klar: Das kann nicht als Entschuldigung herhalten. Aber man denkt über den Begriff der Schuld nach und darüber, was am Ende Strafe bezwecken soll. Man denkt über ein kleines Kind nach, das wenig Chance haben wird, aus dem „Aquarium“ der Lieblosigkeit zu schwimmen.
Auch über die Mutter erfährt man etwas: Es gab eine Psychose. Es gibt eine Borderline-Störung. Es ist von Schizophrenie die Rede. Nach dem Prozess wird entschieden werden, wie es mit dem Kind weitergeht. Sie muss Medikamente nehmen, sagt die Mutter. „Für mich ist ein Rausch wie der andere“, sagt sie an anderer Stelle. Wird das Kind bei seiner Mutter bleiben oder zu einer Pflegefamilie kommen? Der Angeklagte: Drei Jahre war er in Therapie. Danach hat er es zwei Monate ohne Alkohol und Drogen ausgehalten. Die Mutter spricht als Zeugin über „den Vorfall“. Ja, sagt sie, sie haben beide getrunken an diesem Tag. Vorher hat sie erzählt: „Als der Junge geboren war, gab es vom Krankenhaus einen Prosecco.“ Ironie des Schicksals. Die Eltern haben beide reichlich Erfahrung mit der legalen Droge Alkohol. Promillezahlen, die sich Abiturienten als Examensdurchschnitt wünschen, haben für den Angeklagten etwas fast Alltägliches: 1,3 – 1,6 – 1,9.
Im Saal arbeitet die Maschine der Justiz. Im eigenen Kopf arbeitet es auch. Man fragt nach der Schuld und man sucht nach ihrem Aufenthaltsort. Es ist ein trostloser Ort, der Taten wie diese möglich macht. Er nennt sich Gesellschaft. Die Gesellschaft hat allerlei Rückhaltesysteme eingezogen. Verhinderungsversuchsanordnungen. Gibt es eine Rettung vor Taten wie dieser? Das wird jeder anders beantworten. Die Antwort hängt vom Beruf ab. Ein Fall wie dieser ist eine Arbeitsbeschaffungsanlage: Gutachten werden erstellt, Betreuungen veranlasst, die den entgleisten Eltern zuteil werden. Staatsanwaltschaft, Gericht, Verteidigung, Vollzug – sie alle kümmern sich. Was wird aus dem Angeklagten? Was aus der Mutter? Was aus dem Kind, das erst noch ins Leben finden muss – das Kind, dessen Schädel zusammengewachsen ist, ohne dass Folgeschäden zu befürchten sind. Das immerhin ist die gute Nachricht. Alles andere: Ein Seufzer des Schicksals. Der Angeklagte würde erneut in Therapie gehen, sagt er. Ein neues Leben muss her. Kann man aus Verlorenen Rettbare machen? Das entscheidet am allerwenigsten das Gericht. Es fällt Urteile: Zwei Jahre, sechs Monate für Körperverletzung und fahrlässige Körperverletzung. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Der Gutachter meint: Man wird schnell sehen, ob es diesmal nützt. Wenn der Angeklagte sich bewährt, sagt der Richter, kann die Reststrafe auch zur Bewährung ausgesetzt werden. Man denkt an ein kleines Kind und wünscht alles Beste.