Schreibkraft
Heiner Frost

Wenn der Ludwig klopft

Foto: Rüdiger Dehnen

600 Schüler in der Klever Stadthalle – dazu Beethoven und die Duisburger Philharmoniker. Das Publikum „Ganz Ohr“ und echt begeistert. Wie geht das?

Aber dann?

Natürlich kommt die Milch nicht aus dem Kühlregal. Vorher war sie in der Kuh. Natürlich kommt Musik nicht aus dem MP3-Player. Vorher war sie … ja wo denn eigentlich? Erst mal im Kopf. Im Komponistenkopf. Aber dann? Dann muss jemand sie zum Klingen bringen. Manchmal tut das ein Orchester. Zum Beispiel bei einem Konzert. Kon was?

Kulturschaffende können ein Lied davon singen: Das Publikum stirbt weg. Einhalt ist geboten. Aber der Einhalt setzt sich nicht selbst in Kraft. Nachgeholfen muss werden. Eine Möglichkeit: Ein Orchester einladen und dazu ein paar Schüler. Warum nicht so um die 600? Ja, warum eigentlich nicht? Dazu: Die Philharmoniker aus Duisburg. Es laden ein: Die Konzerte der Stadt Kleve. He-rein-spa-ziert!

Das Publikum lebt

Stadthalle Kleve. 9.45 Uhr. Vor dem Eingang: Lange Schlangen. Wann gab’s das zuletzt? „Beim Kabarett“, sagt der Hausmeister. Oder im Karneval. Aber jetzt ist weder das eine noch das andere. Jetzt ist Montagvormittag und während vor der Tür auf Einlass gewartet wird, bürstet drin auf der Bühne das Orchester schon mal seinen Beethoven glatt. Merke: Nicht nur Sportler müssen sich warm machen. 9.50 Uhr: Draußen arbeiten sich die Gäste am einen oder anderen Straßenschild ab: Da kann man so herrlich drumrum schleudern … Drinnen im Foyer: Musiker in Arbeitskleidung. Schlips und Kragen. Dann wird das Publikum eingelassen. Diagnose: Das Publikum lebt. Und besetzt die Halle. Drei Minuten nicht hingeguckt: Ausverkauft. Nichts geht mehr. Ein schönes Bild. Das Publikum hat die eigene Akustik mitgebracht. Es wird laut in der Stadthalle. Viele haben sich vieles zu erzählen – und das geht auch, wenn vier oder fünf Reihen dazwischen liegen. Auf dem Podium: Notenständer und schräg gelegte Kontrabässe.

Bitte mal ein ‚a‘

Dann: Aufmarsch der Musiker. Das Publikum verbreitet Stadionatmosphäre. Das Orchester bringt erst mal die Instrumente in Stimmung. Es ist wie im wirklichen Leben. Einer muss den Ton angeben. Es ist die Oboe. Ein ‚a‘ für alle. Vorname Kammer. Nachname: Ton. Nach dem Stimmen: Stille. In die Stille hinein: Der Auftritt des Dirigenten. Jubel aus dem Zuhörersaal. Das Orchester steht kurz mal auf. (Guten Tag sagen.)

Grieg und Gymnastik

Danach: Morgenstimmung. Von Grieg. Es wird mucksmäuschenstill im Saal. Vorne zaubern sie mit Klängen. Endlos möchte man zuhören – da bricht der Maestro (das ist der Dirigent) mitten im Stück ab. Eine Dame hat die Bühne betreten. Jetzt begrüßt sie das Publikum und bittet zur Kollektivgymnastik. Zum Thema der grieg’schen Morgenstimmung wird Motorik eingeführt: Rechter Arm hoch. Linker Arm hoch. Und dann einen Kreis mit den Armen beschreiben. Stufe zwei: Aufstehen. Rechter Arm hoch. Linker Arm hoch. Kreis machen. Stufe drei: Aufstehen. Auf die Zehenspitzen. Rechter Arm hoch. Linker Arm hoch. Der Kreis. Das Orchester beginnt von vorn. Die Dame, die auf einem Stuhl vor dem Orchester sitzt, gibt Einsätze: Das Publikum bewegt sich. Nach dem Verklingen der Morgenstimmung applaust es frenetisch aus dem Saal. Stadionatmosphäre.

Ludwig klopft

Dann klopft der Ludwig an. Der Ludwig – das ist der, wo später taub war. Ludwig hat die Fünfte geschrieben. „Das berühmteste Orchesterstück der Welt“, erklärt die Dame vor dem Orchester. Apropos Orchester: Jetzt wird erst mal vorgestellt. Wer sitzt vorne an der Bühne? „Ruft es ruhig rein“, bittet die Dame. „Streicher!“, tönt es aus der Halle. Und: „Geigen!“ „Super!“, kommentiert die Dame. Mal sehen, wie Ludwigs Fünfte klingt, wenn man die Bläser weglassen täte. Na, das ist doch mal interessant! Resultat: Man kann’s noch gut erkennen. Und jetzt das Ganze mal ohne die Streicher: Da müht sich anfangs eine vereinsamte Klarinette durch den Bläsersatz. Nix zu erkennen. Erst Augenblicke später gibt die Instrumentation die ungetrübte Sicht (eigentlich ist es ja eine Hör) auf das berühmte Tattatta Taaaa frei. Gelernt ist gelernt: Die Streicher können viel allein. Und die Bläser? Eigentlich auch. Aber jetzt gerad mal eben nicht. Dann: Die Fünfte. Erster Satz. Häppchenfassung. Aber: Eindruck entsteht. Während das Orchester an Beethoven arbeitet, gleiten im Zuhörerraum Betreuer durch die Reihen und machen Störenfriede aus. Finger auf die Lippen gelegt: Psssssssssst! Jetzt: Die Bläser. Mit dem Säbeltanz. Das Publikum soll mitarbeiten: Schnippen. Klatschen. Die Probe gerät außer Kontrolle: Die Klatschenden legen stetig an Tempo zu. Die Dame auf der Bühne mahnt. „Wenn ihr schneller werdet, könnt ihr nicht mitmachen.“ Noch ein paar Probenmomente – dann klappt’s. Fast. „Die können den Rhythmus nicht“, sagt einer der Betreuer, als Publikum und Bläser anschließend beim Säbeltanz auseinanderdriften. (Was zu beweisen wäre.)

Maus und Tuba

Dann – noch immer in Bläserregie: Das Quiz. Die Tuba spielt einen Basslauf. („Weiß denn jemand, zu welchem Stück das gehört?“) Niemand weiß es. Kein Beinbruch. Das kann niemand wissen. Dann gesellt sich weiteres Blech dazu und vor dem inneren Ohr entsteht schnell die Maus. Die mit der Sendung mit der Maus. Das Publikum tobt. Die Kandidaten auf der Bühne sollen raten. Valerie rät richtig. Die Dame kündigt weitere Bekanntheiten an. „Aber nicht reinrufen. Ich frage dann nachher.“

 

Und wie die’s können

Die Veranstaltung blechbläsert sich einem weiteren Höhepunkt entgegen. Es treten auf: Hey, hey Wickie – hey, Wickie, hey und das Schwedenmädchen. Beim Pipi-Lied summt alles mit. Das kennt fast jeder. Und dann noch: Tom und Jerry. („Vielen Dank für die Blumen“, singt der innere Udo.) Es fetzt von der Bühne. Die anschließenden Fragen nach dem Gehörten werden lautstark richtig beantwortet. Dann: Carmen. Von wegen: Die können den Rhythmus nicht. Jetzt bricht Klatschdurchfall nach bester deutscher Samstagabendfamilienfernsehunterhaltung eruptiv aus dem Publikum heraus. Der Rhythmus stimmt. Das Tempo wird gehalten. Kein Metronom kann präziser sein. Carmen bringt’s. Dann: Das Ende. Der Maestro lässt das Orchester aufstehen. Schlussapplaus. Von wegen. Eine Zugabe gehört schon dazu. „Wollt ihr noch was hören?“, ruft die Dame, als wäre sie Mitarbeiterin des Monats beim Wal-Mart-Team. „Ja“, tönt es aus dem Publikum. Das reicht der Dame aber nicht. „Ich kann euch nicht hören“, animiert sie und hält die Hand als Muschel hinters Ohr. „Jaaaaaaaaa!““, grölt die Menge. (Na bitte – es geht doch.) Jetzt also die Zugabe. Was gibt’s? Offenbach. Can-Can. Da geht die Post ab. Und die Musik auch. Und das Publikum erst. Spaß pur. Und das im Konzert. Mission erfüllt. Das Publikum: Begeistert. Belehrt. Beseelt. Das Orchester: Zufrieden. Wir lernen: Zu Grieg kann man sich auch bewegen. Beethoven hatte echt was drauf. Ein Orchester kann auch Wickie. Und: Bei Carmen kann man den Takt halten. Wenn in fünf, sechs Jahren mal im Reihenkonzert bei Griegs Morgenstimmung jemand mit Gymnastik anfängt, ist das Experiment geglückt. Aber jetzt mal ganz im Ernst: Super Sache. Con fuoco. Pardon: Voll cool.

Orchester