Schreibkraft
Heiner Frost

Wahrheit als Hypothese

Manchmal werden die Dinge zu ihrem eigenen Gegenteil. Solcherlei Modulationen finden nicht selten vor Gericht statt. Anklage trifft auf Verteidigung. Zwei Welten. Einem jungen Mann – er ist leichtfüßige 31 Jahre alt und erscheint im camouflage-artigen Trainingsanzug – wird Schlimmes vorgeworfen. Wenn all das der Wahrheit entspricht, wird am Ende einiges zusammenkommen.

Belohnung vielleicht

Der Angeklagte soll „eine Person unter 20 Jahren“ zur Prostitution gezwungen haben. „Nein“, sagt er. So ist es nicht. Es ist genau andersherum. Er hat versucht, die Frau, die er kennen und lieben gelernt hatte, von der Prostitution wegzubekommen. So war‘s. Und noch was: Die Frau war aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um mit Prostitution ihr Geld zu verdien. Er, ebenfalls Rumäne, kennt sie kaum ein paar Tage, da lässt sie das Anschaffen sein und arbeitet erst einmal in einer Bar.
Die Anklage hat mehr zu erzählen. Der junge Mann soll die Frau mit einem Messer verletzt haben, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, sie wolle sich von ihm trennen.
Es war genau andersherum. Vorweg: Nichts hält ewig. Der Angeklagte hatte in Untersuchungshaft gemusst und dort erfahren, dass die, für die er doch Lebensgefährtin und zwei Kinder verlassen hatte, sich einem anderen zuwandte. Er kommt aus der Haft und hat nur eines im Sinn: Er will sich von der Untreuen trennen. Das kann sie nicht ertragen, sagt er, sagt seine Dolmetscherin. Er also wollte sich von ihr trennen. Sie hält‘s nicht aus. Sie sitzen zusammen am Tisch. Auf dem Tisch ein Messer. Die Verlassene verletzt sich in ihrer Verzweiflung selbst mit dem Messer. Der Angeklagte – ja, es kann sein – schlägt die Frau (versehentlich) bei dem Versuch, ihr das Messer wegzunehmen.
Alles wird zu seinem Gegenteil. Er, der Angeklagte, hat der jungen Frau nicht gedroht, er werde ihr Gesicht zerschneiden, sie mit Benzin überschütten und anzünden, wenn sie nicht weiter anschafft. Keine Drohungen. Keine Schläge. Alle Punkte der Anklage: Falsch. Unzutreffend. Immer gibt es den Weg ins Gegenteil. Kein Bedroher – ein Retter. Kein Bezwinger – ein Befreier. Vielleicht muss statt Strafe über angemessene Belohnung nachgedacht werden.

Planet des Erinnerns

Der erste Tag bringt eine Anklage und – außer den Ausführungen des Angeklagten – nur Aussagen von Menschen, die quasi „aus zweiter Hand dabei waren“. Das Opfer: Nicht anwesend. Sie befindet sich in Rumänien im Krankenhaus. Zum zweiten Verhandlungstag wird sie aller Voraussicht nach anreisen.

Erinnern ist ein unbekannter Planet. Ein Richter, der seinerezeit das Opfer vernommen hat, musste sich „erst wieder in die Sache einlesen“. Kann passieren. Auch Richter sind Ausglieferte ans Vergessen.
[Eine Woche zuvor – ein anderer Prozess. Richter zum Angeklagten: „Auf wen war der Wagen angemeldet?“ Angeklagter: „ Das müsste ich eben nachschlagen.“ Richter: „Lesen kann ich selbst.“ Zweierlei Maß. Die Zeugen des ersten Tages – sie sind Polizeibeamte – haben sich „rasch noch mal eingelesen“. Wie sollten sie sich auch erinnern? Wie sich jemand erinnern darf, hängt anscheinend von seiner Funktion innerhalb des Prozesses ab. Aber das ist natürlich eine andere Baustelle.]
Zurück zum Eigentlichen: Der Angeklagte nimmt Drogen. Er räumt das ein. Immer wieder fragt der Vorsitzende nach Mengen und Intervallen. Natürlich geht es um die Finanzen im Hintergrund. Drogen sind teuer. Geld ist vonnöten. Natürlich geht es um den Gedanken, dass der junge Mann den Ast, auf dem er sitzt (das Geld also, dass das Opfer mit der Prostitution verdient) nicht durch den Versuch absägen wird, die Freundin von der Prostitution wegzubekommen. Ansichtssachen

Die Aussage des Angeklagten enthält allerlei Widersprüche. Mal sagt er dies – mal das. Polizeivernehmung und das jetzt Gesagte sind nicht wirklich synchron. Das verleitet den Staatsanwalt zur Bekanntgabe von Sichtweisen: „Aus meiner Sicht lügen Sie, wenn Sie den Mund aufmachen“, sagt er und hält sich selbst nicht an die Wahrheit, denn einiges, was der Angeklagte zu Protokoll gab – und wenn es nur Daten zur Person und seinem Suchtverhalten waren – stimmte nachweislich. Man wünscht sich Präzision. Justiz ist ein Sezierbesteck.
Gegen Ende des ersten Verhandlungstages geht es dann darum, dass die Kammer für den Angeklagten auch eine „Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus“ (Paragraph 63 Strafprozessordnung) in Betracht zieht. Dazu allerdings ist ein vorheriges Gutachten erforderlich. Kleines Problem: „Wenn wir hier am kommenden Donnerstag nicht fertig werden, platzt die Sache“, erklärt der Vorsitzende, „denn die Beisitzerin hat dann drei Wochen Urlaub“. Der Angeklagte will nicht begutachtet werden. „Haben Sie eigentlich“, fragt der Vorsitzende, „im Gefängnis weiter Drogen genommen?“ „Ja.“ Aha.

Der zweite Tag: Wahrheit als Hypothese

Ein Gutachter, der seinen Probanden im Gerichtssaal erstmals sieht, eine Hauptzeugin (das Opfer), die (leider) auch am zweiten Verhandlungstag nicht erscheint (sie befindet sich irgendwo in Rumänien) – man ist froh, nicht zu den Handelnden zu gehören, die da über Tatbestände wie Menschenhandel, Zwangsprostitution, Körperverletzung, Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung zu entscheiden haben.
Die Anklagepunkte allein erzeugen Geschichten im Kopf. Auf der Anklagebank einer, der ein gut beschnitztes Kerbholz mitbringt. Diebstähle, Vergehen gegen die Würde von Menschen, Diebstähle unter Androhung von Gewalt. Alles scheint klar, aber das Recht besagt, dass nicht die Vergangenheit eines Menschen angeklagt wird – es muss um die angeklagten Taten gehen. Ein Mann soll eine junge Frau zur Prostitution gezwungen und ihr Gewalt angedroht haben. Er hat sie geschlagen. Er soll sie in ein Auto gezogen, mitgenommen und später mit einem Messer verletzt haben. Nicht, dass ein falsches Bild entsteht: Ein Paar sollen die beiden gewesen sein. Beide kommen aus Rumänien. Zuerst war er – da kannten sie sich noch nicht – in Deutschland. Später kommt sie nach. Sie kommt nicht als Erntehelferin oder Pflegekraft – sie kommt mit der Absicht, sich zu prostituieren. Die beiden lernen sich kennen. Eine Liebesbeziehung entsteht. Sie denkt an Zukunft: Kinder, Haus, Gefühle. Woran er denkt, kann niemand sagen. Zwei Geschichten entstehen.
Der Prozess ist eine Rekonstruktion aus zweiter Hand. Der Angeklagte schweigt. Das Opfer ist nicht anwesend. Befragt werden alle, die die junge Frau vernommen haben. Ihre Geschichte erzählt von Schlägen, Drohungen, Gewalt, dem Zwang zur Prostitution. Die Geschichte des Angeklagten – beim letzten Wort spricht er es aus: Die Frau hat nur gelogen. Sie hat sich mit einem selbst Messer verletzt. Sie wurde nicht ihrer Freiheit beraubt. Jederzeit hatte sie die Möglichkeit zu gehen.

Die Ratten

Wir leben in gefährlichen Zeiten. Wem soll man denn glauben? Feinde macht man sich immer. Schnell ist die Geschichte vom Opfer, dass zum zweiten Mal Opfer wird, in der Welt, aber die Geschichte von einem, der zu Unrecht „weggehängt“ wird, ist immer auch denkbar und oft genug passiert. Das Gericht beackert vermintes Terrain. Immer wieder geht es darum, dass vielleicht auch eine Verurteilung wegen anderer Paragrafen als der ursprünglich erwähnten infrage kommt. Nichtjuristen werfen die Flinte ins Korn. Das hier ist kein Prozess, der für die große Glocke taugt, denn er handelt von der zähen Suche nach einer Wahrheit, die letztlich Hypothese ist. Natürlich gibt es eine Wunde – zugefügt mit einem Messer. Trotzdem kann nicht zweifelsfrei gesagt werden, wer der Verursacher ist.
Das Gutachten: Was soll denn einer sagen, der alles aus zweiter Hand weiß? Wie stichhaltig kann seine Analyse sein? Ist Diagnose möglich? Gutachten sind Wegweiser, Gutachter die Reiseführer. Aber wie soll einer führen, wenn er selbst – den Umständen geschuldet – eine blickdichte Brille aus gebrauchten Fakten trägt? War der Angeklagte bei Sinnen? Handelte er im Rausch? Waren Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getrübt? Am Ende läuft alles auf ein Nein hinaus. Wahn? Eigentlich auszuschließen. Ist der Angeklagte drogenabhängig? Eher nicht. Wie soll man auch präzise sein?
Der Gutachter zum Gutachten: „Das ist natürlich sehr schwierig. Eine psychologische Diagnose ist unmöglich.“ Alles Gesagte: Hypothese. Ein Vielleicht. Bestimmt nichts Diagnostisches. Tuberkulose und Wahn? Thomas Mann. Der Zauberberg. Der Angeklagte wurde wegen Tuberkulose behandelt. Der Angeklagte hat das Geld des Opfers nicht gleich für Drogen ausgegeben. Er hat, heißt es, Spielschulden abgezahlt. Unter anderem. Der Angeklagte hat Kokain genommen und Marihuana. Der Gutachter erzählt von Ratten.
Ein valides Experiment hat sich mit Ratten und Süchten beschäftigt. Drei Ratten-Populationen – eine süchtig nach Alkohol, die nächste nach Heroin, die letzte nach Kokain. Immer haben sie die Wahl: Nahrung oder Drogen. Die Alkohol- und die Heroin-Testgruppe wählen immer wieder auch die Nahrung. Sucht und Überleben. Die Kokain-Ratten sterben: Sie wählen nur die Droge und verhungern. Rausch um jeden Preis. Also: Wenn einer noch Spielschulden zahlt, bevor er Kokain kauft, ist er nicht abhängig.
Am Ende sieht der Staatsanwalt (im Zweifel für den Angeklagten) den Tatvorwurf der Zwangsprostitution als nicht beweisbar. Auch die Freiheitsberaubung macht Probleme. Alles andere: Erwiesen. Der Angeklagte ist haftempfindlich. Er spricht kaum ein Wort Deutsch, er war aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung lange isoliert, aber: Er hat nichts gelernt aus den vorausgegangenen Strafen. Kaum hat er eine Strafe abgesessen, reißt es ihn zur nächsten. Strafschärfend ist das alles. Am Ende zwei Gesamtstrafen: Die eine 27 Monate, die andere 30 Monate. Die Haft muss andauern. Kein „sozialer Empfangsraum“ erwartet den Gefallenen. Er würde sich absetzen.

So what?

Die Nebenklagevertreterin bedauert, dass ihre Mandantin (das Opfer) nicht gekommen ist, um auszusagen. Sie hat trotzdem ein Interesse an der Bestrafung des Täters. Der Verteidiger stellt, wie die Nebenklagevertreterin, die Strafe ins Ermessen des Gerichts, aber natürlich weist er nochmals darauf hin, dass das Opfer ins Land kam, um sich zu prostituieren. Plädoyers in solchen Fällen wandeln auf schmalem Grat. Man kann, sagt der Verteidiger, sich von der Glaubwürdigkeit des Opfers kein Bild machen.
Am Schluss spricht der Angeklagte. Die Dolmetscherin übersetzt: „Hätte ich gewusst, weswegen ich angeklagt wurde, hätte ich alles getan, um die Vorwürfe zu entkräften. Alles, was die Frau gesagt hat, ist gelogen.“ Nichts also von einer Entschuldigung. Ist da einer völlig behämmert? Sieht einer die eigene Schuld nicht mehr? Ist er am Ende unschuldig, auch wenn seine Vergangenheit auf eine andere Fährte lockt? Es ist alles möglich.

Ist das Opfer nicht erschienen, weil man sie bedroht? Ist sie nicht erschienen, weil sie es nicht aushält, den Peiniger zu treffen? Alles ist denkbar – alles im Bereich von Wahrscheinlichkeiten. Man wünschte sich ein Gericht, dass jetzt sagt: „Haltstopp, es muss nachermittelt werden. Wenn die Frau das Opfer ist, geht es um ihr Wohl. Auch und gerade jetzt. Sie zu finden ist doch Teil der Aufklärung. Aber: Nichts passiert. Die Zeugin – das Opfer – ist nicht da. So what?
Stattdessen das Urteil. Ein Gericht kann kein „Unentschieden“ aus dem Köcher ziehen – sich nicht auf ein ‚vielleicht‘ einlassen. Freispruch oder Verurteilung – das sind die Möglichkeiten. Vier Menschen haben zu entscheiden. Am Ende verkündet der Vorsitzende zwei Gesamstrafen: 21 Monate die eine, 30 Monate die andere. Das Volk geht mit einem tauben Gefühl.