Schreibkraft
Heiner Frost

… und glücklicher zu gehen

Vielleicht muss man nicht über die Kunst sprechen. Das Leben genügt, und was bringt es schon, wenn das eine nicht im anderen zuhause ist. Ohnehin spricht Martin Lersch nicht über die Kunst. „Lass uns übers Zeichnen reden – über Malerei. Das sind konkrete Sachen.“ Ja, so machen wir‘s.


Und dann doch was über die Kunst schreiben – die Kunst zu leben. Nicht zu hetzen. Anzukommen ohne auszuruhen. Es gibt gutes Ausruhen – ein Ausruhen ohne Hauspantinen und Morgenrock.
Sprache ist ein Wegweiser. Im Englischen werden Unfall und Zufall von derselben Vokabel bedient: Accident. Dass einer wie Martin Lersch in einem alten Bahnhof arbeitet, mag ein Zufall sein – Unfälle gehen anders.
Lersch ist Zeichner, Maler – Überlebender. Gezeichnet wird zuhause in Asperden. Malerei findet im Bahnhof statt: Bahnhof Goch – hinterer Teil. Vorn die Fahrkarten ins Leben – hinten das Leben als Fahrkarte, als Bild … Abbild, Zerrbild: gemalte Wirklichkeit. Es riecht nach Farbe. Auf der Staffelei hockt ein Bild. („Ich mach das gerad‘ eben fertig.“) Im Hintergrund: Ein Schalter aus Vergangenheit. Glasscheibe mit mit Rundloch zum Aufklappen – Rücksturz in die 70-er Jahre. Schaltermentalität. „Hier haben früher die Bahner ihre Rente ausgezahlt bekommen“, erzählt Lersch, als er mit dem Bild fertig ist. Und dann ist da noch der Tresor – Lersch nimmt eines der Bilder von der Wand – ein Schlüsselloch wird sichtbar. „Ist aber nix mehr drin.“
Über Kunst reden? Besser nicht. Nicht klugtun. Keine Sprechblasen. Vielleicht über Frankreich sprechen. Ein Vierteljahrhundert hat Lersch dort gelebt: Er hat Ziegen gehütet, als Maurer gearbeitet, auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte verkauft, hat bei der Weinernte geholfen – war viel allein und viel draußen. „Es gibt Maler, die nach Frankreich reisen und Lavendel malen. Ich habe die Landschaft erlebt.“ Natürlich kann Lersch auch Landschaften, aber wenn er sich einen selbst einen Malauftrag gibt, würde es eher um Menschen und ihre Geschichten gehen. Was natürlich unvollständig ist.

Zu nennen wären die 111 Zeichnungen zum 111. Geburtstag des Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen – Zeichnungen zu Thelens Hauptwerk „Die Insel des zweiten Gesichts“. Lersch hat sich Stellen aus dem Buch ausgesucht und sie gezeichnet. Was natürlich so nicht stimmt. Man kann Literatur nicht einfach zeichnen, aber man kann Spannungen aufnehmen und weitergeben. Auf dem Rücken jeder Zeichnung finden sich eine laufende Nummer sowie die Nummer der Seite, auf der das (in der Zeichnung festgehaltene) Zitat zu finden ist.

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Lersch hat – wie viele Maler und Zeichner – bisweilen den Hang zur Reihung. Was bei ihm entsteht ist am Ende nicht „das Geschwätz der Serie“ – es ist ein immerneues Anschleichen an die eigene Auffassung vom Erlebten. Vielleicht klingt das zu abgehoben. Lersch hat zu jeder Zeichnung – zu jedem Bild eine Geschichte. Aber: Man muss seine Geschichten nicht kennen. Es hilft, eigene Geschichten zu entwickeln. Lersch taugt auch zum Chamäleon. Er kann sich durch die Stile zeichnen, Witterungen aufnehmen, Spuren suchen und das Gefundene ins eigene Leben übertragen. „Als Kinder lernen wir das Leben durch Nachahmung“, sagt Lersch und findet keinen Grund, im Alter damit aufzuhören. Übersetzung: Man sollte niemals aufhören, sich mit dem Werk der anderen zu beschäftigen. Wer nicht zum Echo der Geschichte werden kann, wird kein Echo in ihr erzeugen.
Seit zehn Jahren ist Lersch „zurück“ in Deutschland. Der Frankreich-Import: Lust am Leben. Lersch muss nicht jeden Tag ins Atelier. Manchmal ist der wirkliche Luxus ‚ein kleiner Schwarzer‘. „Le petit noire“ – das steht für einen Espresso – am liebsten im Café. Cafés sind wichtige Orte. Lebensorte. Überlebensorte. Während man sich setzt, setzt sich auch das Leben. Lersch mag nicht mehr hetzen. Vieles, was über Kunst geschrieben wird, nennt er einen „liebevollen Horror“. Wenn es um die Eröffnungsrede zu einer Ausstellung geht, spricht er auch gern mal selber. Lerschs Tage: Koexistenzen von Leben auf der einen Seite und Bilder und Geschichten im Kopf auf der anderen.

Irgendwann übernahm er „den Job“, Karrikaturist für eine Zeitung zu werden. „Die hatten jahrelang Zeichnungen im Blatt. Dann plötzlich nicht mehr. Da habe ich einen Redakteur gefragt: Wollt ihr nicht mehr, oder habt ihr niemanden mehr.“ So wurde er Karrikaturist. Einmal pro Woche liefert er – die Themen werden in der Regel vorgegeben.
An Geschichten (auch Bilder können Geschichten sein) mangelt es Lersch nicht. 25 Jahre lange begannen Lerschs Tage mit dem ‚petit noire‘. „Die allermeisten jedenfalls.“ In der Frankreichzeit tauchte er oft genug fünf Mal ins Kino. Lersch lebte in ländlichen Regionen. Keine hohe Künstlerdichte. „Die haben ihre Landschaft und müssen die nicht auch noch malen.“
Lerschs Großvater: Schriftsteller. 2014 hat Lersch ein Buch herausgegeben: „Schreiben – Freunde – Familie, Heinrich Lersch 1889-1936“. Literatur als ein stilles Vermächtnis. „Lese ich in den Gedichten von Opa Hein – wie er in der Familie genannt wurde – in seinen Romanen, Erzählungen oder Briefen, so erkenne ich darin, dass Freunde und Familie für ihn gefühlvolle Pumpwerke waren, mit denen er versuchte, den immer wieder in ihm aufbäumenden Weltschmerz zu regulieren“, heißt es im Vorwort. Vielleicht ist auch Martin Lersch einer, der Weltschmerz reguliert. Man gewinnt den Eindruck, dass einer wie er sich der Kommunikation verschrieben hat. Kommunikation in Bildern, Zeichnungen, Worten, Tönen. Vielleicht muss nicht über Kunst geredet werden – vielleicht bedeutet es schon viel, glücklicher zu gehen als man gekommen ist …

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