Schreibkraft
Heiner Frost

Hofkrieger

Es geht um Körperverletzung. Der Saal: gut gefüllt. Es hat schon Mordprozesse mit weniger Andrang gegeben. Der Krieg der Welten. Hier die Welt der Landwirtschaft – dort das Behördenregulativ. Energien werden frei. Ein weiteres Regulativ wird auftreten, denn es geht um die Beurteilung eines Täters nach den Erkenntnissen der Psychiatrie. Was ist mit einem los, der Tierärzte angreift … aus dem Nichts?


Aggression, denkt man, wächst aus der Angst. Nichts explodiert aus sich heraus – es braucht eine Lunte, und es braucht jemanden, der mit dem Streichholz kommt und Feuer legt. Oder verirren sich herrenlose Funken und setzen in Gang, was dann nicht mehr zu stoppen ist? Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, sagte kürzlich, dass Richter im Blick haben sollten, dass „ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“. Er meinte nicht diesen Fall, aber wer auf dem Gang die Ohren aufsperrt, muss mitbekommen, was viele hier erwarten. Es geht um eine Tat, die mit nichts zu entschuldigen ist. Aber darf man nach Erklärungen suchen?

Die Tat

Am 19. Oktober 2016 führten zwei Mitarbeiter des Kreisveterinäramtes eine zuvor angekündigte mehrstündige Kontrolle zur Überprüfung unter anderem der Haltungsbedingungen auf dem Gehöft des Angeklagten in Uedem durch. […] Im Rahmen der Begutachtung des Schweinestalls stellten die Veterinäramtsmitarbeiter erhebliche tierschutzrechtliche Mängel fest, welche sie mit einer Kamera dokumentierten. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft schlug der Angeklagte plötzlich mit einer circa 70 Zentimeter langen, flachen Metallstange von hinten auf den Kopf der 31-jährigen Veterinäramtsmitarbeiterin, die daraufhin zu Boden stürzte. Anschließend schlug er auf den ebenso überraschten und aufgrund dessen nicht zur Abwehr der Schläge fähigen 44-jährigen Veterinäramtsmitarbeiter ein. Der Angeklagte führte laut Anklage mit der Eisenstange von oben herab mehrfach gezielte und wuchtige Schläge in Richtung des Kopfes des Geschädigten aus, der sich mit seinen Armen und Beinen gegen die Schläge zu wehren versuchte. Schließlich ließ der Angeklagte von dem Geschädigten ab und forderte ihn auf, den Kontrollbericht so auszufüllen, als hätten keine Mängel vorgelegen. Im weiteren Verlauf gelang es dem Geschädigten schließlich, zu fliehen. Die Veterinäramtsmitarbeiterin hatte zwischenzeitlich die Polizei verständigt, die nunmehr eintraf und den Angeklagten festnahm.
Beide Geschädigten wurden laut Staatsanwaltschaft durch die Schläge erheblich verletzt. Die Veterinäramtsmitarbeiterin erlitt eine Kopfplatzwunde und ein Schädel-Hirn-Trauma. Der Veterinäramtsmitarbeiter erlitt eine Kopfplatzwunde, einen Bruch des linken Unterarms, einen Bruch des linken Ellbogens und starke Prellungen an Armen und Beinen. Er musste mehrere Tage stationär behandelt werden, eine Operation war notwendig. Für beide Geschädigten hatte die Tat laut Staatsanwaltschaft auch erhebliche psychische Folgen.
Soweit die Staatsanwaltschaft in der Anklage aufgrund der wuchtigen Schläge gegen den Kopf des Geschädigten einen Tötungsvorsatz bejaht hat, geht sie von einem insoweit strafbefreienden Rücktritt aus, da der Angeklagte freiwillig von der versuchten Tötung zurückgetreten sei. Daher erfolgte die Anklage nicht wegen versuchten Totschlags oder versuchten Mordes, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter schwerer räuberischer Erpressung.

Das Opfer

Man hat ein Opfer im Zeugenstand erlebt – es ist der Veterinär: Zitternd saß er da – vertrieben aus einem Leben, in das er niemals mehr wird zurückkehren können. Traumatisiert ist er und spricht mit verschwundener Stimme. Den Täter hat man für die Aussage in einen anderen Raum gebracht. Das Opfer würde alles andere nicht ertragen. Wieder einmal wird klar, was Taten aus Opfern machen – nein: Es wird klar, was Täter aus Opfern machen. Leiden braucht Aktion.
Man blickt auf den Täter. Auch er ist ein Verschwundener, einer, dem schon die Anklage zubilligt, dass er vielleicht nicht Herr seiner Sinne war, als der Tatablauf begann. Aber: Wer will das hören? Wer will das wissen?
Ein Volk will Strafe und man möchte nicht einmal ahnen, an welche Art der Strafe viele im Saal denken. Dass „so einer“ zur Verhandlung nicht in Ketten vorgeführt wird, dass er als freier Mann den Saal betritt, dass er vor nicht allzu langer Zeit Vater geworden ist – wie lässt sich das zusammendenken?

Der Berichterstatter

Es gibt hier keine Haut, in der man stecken möchte. Nicht mal in die eigene passt man. Wer hier berichtet, denkt man, kann nur Verlierer werden. So viele Handlungsfäden – jeder von ihnen ein veritabler Fallstrick. Man spürt die eigene Feigheit. Gut, dass man nicht vorn sitzt – auf der Richterbank. Alles an und in dieser Geschichte verursacht Schmerzen. Es gibt ja nichts zu entschuldigen. Nichts zu beschönigen. Kann man erklären, dass da etwas explodiert ist? Wenn es eine Explosion gab, dann muss Sprengstoff da gewesen sein. Es muss einen Funken gegeben haben. Taten wie diese erzeugen sich nicht selbst. Sie werden aus der Angst geboren. Aus der Ohnmacht. Aus dem Gedanken an den Untergang, das Ausgeliefertsein. Berichterstattung kann nicht Parteinahme sein – nicht für die eine Seite und nicht für die andere. Gerichtsbarkeit ist keine Dienstleistung, darf keine werden. Trotzdem muss es Positionen geben. Niemand kann positionslos berichten. Es braucht einen Standpunkt – eine Gedankenstartrampe.

Partitur

Die zu Gericht sitzen, haben eine Partitur vor sich: Die Tat. Das Konzert haben sie nicht gehört – ein Urteil müssen sie, um im Bild zu bleiben, trotzdem schreiben. In einem Prozess wie diesem klingt viel und viel schwingt mit. Resonanzen von allen Seiten. Der Mann auf der Anklagebank scheint wenig synchron mit dieser Partitur der Schrecken. Aber er war der Täter. Er leugnet nichts. Er flüchtet nicht in Ausreden. Einmal am ersten Tag sagt er, dass der Doktor (er meint den Veterinär) sich auf nichts eingelassen habe. Man blickt in die Partitur: Molto ritardando – eine Zeitlupe des drohenden Infernos. Ein Hof, ein Leben – alles vor dem Aus. So mag es der Täter empfunden haben. Nie im Leben hat er gelernt, wie mit der Ohnmacht umzugehen ist. Nie im Leben, so scheint es, hat er sich zu erklären gelernt. Wie die Tiere in seinem Stall leider er stumm und ohne viel Licht, das seine Seele durchscheint. Er ist der Architekt einer Welt, die im Absreits und ins Abseits wächst. Er: Herrscher und Diener in einem untergehenden Kosmos.
Du sollst nicht töten. Und: Was du nicht willst, das man dir tu … Es muss doch einen Ausweg geben. Niemand denkt an das Elend der Tiere im dunklen Stall. Noch einmal eine ganz andere Baustelle. Aus Leiden wird Leiden.
Da sitzt einer, der – so scheint es – in vielem sich selbst nicht spürt und vielleicht nie gespürt hat. Er hat kein Maß für das Leiden der anderen. Er hat eine Vorstellung vom eigenen Leiden. Vielleicht. Sie wollen ihm den Hof dicht machen. Nichts wird bleiben. Das kommt bei ihm an. Es kommt nicht an, dass es um wichtige Änderungen geht – Änderungen, die das Wohl der Mitgeschöpfe betreffen. Wer Steuergelder kassiert, muss sich an die Regeln halten, aber … Da ist einer sich selbst nicht gewachsen und schon gar nicht allem anderen.

Irrsinn

Wie schnell man untergeht im Gestrüpp der Elendigkeiten. Der Bauer sieht sich und den Hof vor dem Aus. Die Rettung: Den Boten des Unheils aufhalten. Ihn stoppen. Dann reißt der Faden. Dann passiert, was – niemand sagt etwas anderes – nie, nie, nie passieren darf. Das Fass. Der letzte Tropfen. Die Sintflut. Aber es passiert noch etwas: Ein Mensch, geschlagen mit einer Eisenstange und in Todesangst, bittet um Gnade – sagt, man könne vielleicht eine Lösung finden –  und der Täter lässt von ihm ab. Schlägt nicht mehr. Wie kann denn einer, der nicht bei Sinnen ist, plötzlich zurücktreten von diesem Irrsinn des vorletzten Augenblickes? Entweder oder – sagt das Volk. Das eine oder das andere. Nicht beides. Damit darf niemand davonkommen. Entweder Mordversuch oder Irrsin. Knast oder Klapse. Recht oder Rache. Sagt der Verstand. Der Gutachter, der all das erklären soll, kann schnell zum Feindbild derer werden, die auch nichts anderes suchen und begreifen als das eigene Elend. Nicht die Opfer sind gemeint, sondern die zahllosen Zyniker im Saal, die sich selbst mit dem Elend der anderen anstacheln.

Zielgerade

Strafprozessordnung, Paragraf 265 – Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage. Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne dass er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.
Der vorletzte Tag: Applaus im Gerichtssaal. Die Nebenklage hat soeben beantragt, dem Angeklagten den rechtlichen Hinweis zu erteilen, dass er auch wegen versuchten Mordes angeklagt werden könne. Das Gericht wird später sagen, man habe den Antrag als Anregung gesehen, werde dieser aber nicht folgen. Es ist schon eigenartig, wie sich in diesem Prozess ein Druck aufbaut. Wüsste man nicht, dass hinten im Saal lauter intelligente Menschen sitzen – man würde denken, dass es um Rache ginge. Aber Rache ist ein Zeichen von Unbeweglichkeit, ein Zeichen innerer Starre, ein Zeichen des Stillstands. Dass es um tiefe Wunden geht, ist längst klar. Es ist auch klar, dass der Schmerz seinen Platz braucht. Aber hier führt er das Regiment. Das spürt man. Natürlich fragt man sich, was man selber täte, wenn Sohn oder Tochter Opfer eines solchen Angriffs geworden wären. Es ist nicht fassbar.
Und der Angeklagte? Was hat ihn getrieben, zu tun, was nicht entschuldbar ist und nie sein wird? Eine Verwechslung liegt vor. Das klingt so monströs banal, aber: Der Angeklagte hat den Boten mit der Botschaft verwechselt. „Der wollte (er meint den Veterinär) mich und meine Familie bedrohen. Da habe ich ihn und seine Familie bedroht.“ Diese Logik offenbart, dass da einer in seiner Untergangsphantasie nicht mehr zu unterscheiden in der Lage war. Die da vor ihm standen und ankündigten, es werde etwas passieren – man werde die Subventionen kürzen oder gar streichen – wurden ihm zur Ursache. Er wollte die Kamera, auf der Bilder die Unhaltbarkeit der Zustände in seinem Stall dokumentierten, an sich bringen. Längst war ein Punkt erreicht, an dem klares Strukturieren des eigenen Handelns diesem Rausch gewichen war – einem Rausch, aus dessen Nebeln Gedanken stiegen wie: Wenn die Kamera zerstört ist, gibt es die Dokumentation nicht mehr. Jeder klar und logisch denkende Mensch würde sagen: Haltstopp – ein zerstörtes Bild löscht doch nicht die Wirklichkeit aus. Man fühlt sich an ein Kind erinnert, dass die Hände vor die Augen hält und dann glaubt, unsichtbar zu sein. Ich sehe nichts, also sieht niemand mich. Niemand kann das ernsthaft glauben, es sei denn … Es sei denn was? Es sei denn, ein zentrales Steuerelement kommt abhanden – ist quasi ausgeschaltet. Davon spricht die Anklage. Ja, der da geschlagen hat, hätte mit seinen Schlägen töten können. Nichts war mehr unter Kontrolle. Aber hat er töten wollen? Für die, die aus dem Publikum heraus applaudieren, scheint festzustehen, dass auf der Anklagebank ein Blutrünstiger sitzt – einer, dem es ums Töten ging. Dass sie dabei in dieselbe Falle tappen, taucht in den Gedanken nicht mehr auf. Dass da einer am Ende das Schlagen beendete – warum auch immer – scheint sie nicht zu erreichen. Vielleicht könnten sie den Hass beenden. Sie tun es nicht. Ihr Feindbild darf nicht verloren gehen. Denkt man. Aber so kann es nicht sein. Niemand kann doch in der Rache veröden.
Das Gericht schickt einen Justizwachtmeister als Boten. Er soll weitere Störungen unterbinden. „Das hier ist der Bereich für Zuhörer“, spricht er die Menschen jenseits der Schranke an, die Gericht und Öffentlichkeit trennt. „Und Zuhören ist Ihre einzige Aufgabe. Das hier ist kein Theatersaal. Wer etwas anderes möchte als Zuhören, soll den Saal verlassen.“ „Ja,ja – das hohe Gericht“, zischt einer halblaut aus der Menge.
Ein Gutachter soll Auskunft geben, was hätte passieren können. „Was, wenn mehr als ein Schlag den Kopf des Opfers getroffen hätte?“ „Bestand eine abstrakte Lebensgefahr?“ Der Gutachter kann das nicht schlüssig sagen. Der Angeklagte soll noch einmal über den Widerspruch von Aussage und Wirklichkeit nachdenken. Wenn er „nur“ die Fotos wollte – er hätte doch die Frau nicht angreifen müssen. Er hätte sie zur Seite schieben können. Der Angeklagte kann nicht erklären, was nicht zu erklären ist. Er ist ratlos. Seine Verlobte hat im Zeugenstand gesessen – hochschwanger. Der F. sei ein Ruhiger. Einer, der alles in sich hineinfresse. Gewalt hat es nie gegeben zwischen ihnen, auch wenn das gemeinsame Leben sich anders entwickelt habe als sie es beide dachten. F. – einer, der sich nicht erklärt. Wenn man F. da sitzen sieht, denkt man: Hätte er die beiden Ärzte töten wollen und würde seine Erinnerung diesen Wunsch aufgezeichnet haben – er würde es sagen. F. ist kein Schauspieler. Er steht ratlos vor dem, der diese Tat begangen hat. Er hat immerhin erkannt, dass er dieser eine war.

Ausflug zum Dichter

Vielleicht hilft Eichendorff: „Schläft ein Lied in allen Dingen.“ Man gelangt schnell zu diesem Fall. Der Unterschied: Ein Verwechseln. Schläft ein Leid in allen Dingen. Darum geht es. Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.
Es ist nicht schwer all das an diesen Fall zu binden. So, wie Lied und Leid in allen Dingen schlafen, geht es bei beiden um das „richtige Wort“. Worte können „triggern“: Sie werden zu Auslösern und steuern Aus- wie Abbruch. Die Phantasie vom Untergang – aus Worten geboren: „Wahrscheinlich werden die Subventionen gestrichen“. dergleichen kann zum Trigger werden wie es auch die Fotos werden konnten. Und was beendet den Ausbruch des scheinbar nicht Erreichbaren: „Tun Sie mir nichts. Ich habe Frau und Kinder.“ Der Mann mit der Eisenstange in der Hand wird in Kürze Vater. Wer weiß denn schon, was Worte wie ‚Kinder‘ und ‚Familie‘ in ihm auslösen – was sie an- und aufzuhalten imstande sind? Kein Richter weiß das. Kein Nebenklagevertreter. Keine Staatsanwältin. Er weiß es womöglich selber nicht. Aber es hat diesen Abbruch gegeben – diesen Rücktritt von dem, was da im Gang war und von dem niemand wissen kann, wo es geendet hätte. Vielleicht war es auch die Bemerkung des längst schwer verletzten Opfers, man könne sich doch einigen, die den Täter aus seinem Paralleluniversum zurückholte auf den Boden der irrwitzigen Vorstellung: Alles wird gut. Die Kamera muss zerstört werden, das Gutachten geschönt und die Probleme lösen sich auf. Wer so denkt, lebt in einem Einsichtsdefizit. Denkt man. [Schläft ein Leid in allen Dingen.]

Finale Furioso

Es ist der letzte Tag. Das Programm: Ein Zeuge. Ein Gutachter. Vier Plädoyers. Ein Urteil.
Der letzte Zeuge, ein Versicherungskaufmann, entwickelt sich zu einer Deesakalationsblaupause. Er hat den späteren Täter aufgesucht. Es ging um eine abgebrannte Halle. Schadensregulierung am Kraterrand. Längst hatte sich die Wirklichkeit lähmend auf den Landwirt gesenkt. Der Versicherungsmann muss Fragen stellen und merkt schnell: „Der war irgendwie komisch.“ Es ging um die Besichtigung des Schweinestalls. 30 Jahre Erfahrung wirken sich aus. „Ich habe nicht darauf bestanden, den Stall zu sehen. Das musste ich in dieser Situation nicht haben“, sagt er und beschreibt ein tragfähiges Deeskalationskonzept. Nichts beschreien. Nichts herausfordern. Da ist der Job – aber da ist auch die eigene Sicherheit. [„Der war irgendwie komisch.“] Da sitzt ein Mustermensch im Zeugenstand – ein Mitarbeiter des Jahres. Besonnen. Irgendwie vorbildlich. Als er den von ihm gespürten Widerwillen des Landwirts beschreibt [“ … das war nur so ein Bauchgefühl …“], spricht der Nebenklagevertreter von einer „sehr starken Reaktion“ und meint den Widerwillen des Landwirts. „Nicht sehr stark – ich würde sagen stark“, sagt der Mann im Zeugenstand. Deeskalation auch beim Befragen. Die Nebenklage ist auf der Suche nach einem Feindseligen, der Zeuge liefert einen Verunsicherten. „Am Ende habe ich erfahren, was ich wissen musste“, sagt er.

Deutungen

Dann: Das Gutachten. Der Wegweiser. Ein Gericht sucht Deutungen. Das Gutachten kreist um die eingeschränkte oder erheblich geminderte Steuerungsfähigkeit. Erstmals wird der Begriff Parallelwelt gebraucht. Der Angeklagte hat in einer solchen gelebt. Er hat in einer Welt gelebt, in der ihm eine angekündigte Kontrolle als Angriff vorkam. Der Angeklagte: Ein vom Untergang Umstellter: Die Halle brennt ihm ab. Die Mutter hat einen Unfall. Die Feuerwehr schickt eine Rechnung: 10.000 Euro für im Einsatz kontaminierte Kleidung. Und dann: Die Ankündigung der Kontrolle. Einen Tag vorher bekommt er Bescheid und … tut nichts. Jeder andere hätte doch alles in Ordnung gebracht, was Anlass zur Beanstandung hätte sein können. Der Angeklagte tut … nichts. Er lässt das Unheil zuschnappen. Berechnung? Unfähigkeit? Längst wird klar: In diesem Prozess gibt es nicht nur eine Parallelwelt. Der Gutachter soll, bitteschön, das Verhalten des Angeklagten erklären: Entweder oder. Es wird eine Schlacht am erkalteten Herzen. Niemand verabschiedet sich aus seiner Rolle. Die Nebenklage hat zu punkten. Es geht – da kann es einen Zweifel geben – um einen Mordversuch und nicht um Körperverletzung. Noch einmal bitten die Vertreter der Nebenklage das Gericht um die Erteilung des Hinweises, dass eine Verurteilung wegen versuchten Mordes in Frage kommt. Eigentlich bitten sie nicht – irgendwie drohen sie: Wenn man es hier nicht so sehe, dann vielleicht woanders. Gerechter Zorn oder Theaterdonner? Fast schon klingt es so, als sähen die Vertreter der Nebenklage das Gutachten als eine Art vorschneller Fahrlässigkeit. Alles in diesem Prozess ist verbissen, denkt man. Der Angeklagte – ein Sorgenwälzer. So drückt es der Gutachter aus. Begriffe regnen ins Rund: Depressive Verstimmung, Anpassungsstörung. Die Nebenklage möchte, bitte sehr, Genaueres über die Qualität der Anpassungsstörung wissen. Leicht? Mittel? Schwer? Im Gutachten ist ein Punkt erreicht, wo es darum geht, dass das Opfer die Kontrolle als Angriff empfunden hat. Eine Art Notwehr aus Angst vor dem drohenden Ruin? Auch die Veterinäre haben gemerkt, dass der Mann, auf dessen Hof sie zur Kontrolle waren, irgendwie komisch war. Im Plädoyer wird einer der Nebenklageverteter später sagen, dass der Versicherungsmann habe gehen können, als er die Sache komisch fand. „Das konnten die beiden nicht“, sagt er und meint die Opfer. „Sie mussten diese Kontrolle machen“, sagt er und lässt keinen Zweifel. Wie, denkt man, hat der Dienstherr seine Mitarbeiter auf solche Situationen vorbereitet? Auf dem Gang sagt später einer, es sei „eine Schande, dass der Landrat nicht ein Mal da gewesen“ sei. Was wissen Veterinäramtsmitarbeiter über das Deeskalieren, denkt man und denkt auch: Das ist ein Raum, den niemand betreten darf. Es ist ein Raum der Fragen nach dem Wie und Warum. Wer das denkt, läuft schnell Gefahr, als jemand hingestellt zu werden, der Opfer zu Mitschuldigen macht. Wieder geht es um Verwechslungen. Ein Fall wie dieser muss zur Blaupause für den Selbstschutz werden. Da trifft man auf einen wie diesen Landwirt. Was ist zu tun? Rückzug. Nein – nicht der Staat zieht sich zurück, sondern der Mensch, der den Staat vertritt. Deeskalation. Später wiederkommen und das „große Besteck“ dabei haben.

Was hier inszeniert wird, ist das große Aneinandervorbei. Die Nebenklage: Der Angeklagte habe keinerlei Reue gezeigt. Die Entschuldigungsschreiben an die Opfer – bestimmt nicht von ihm formuliert. 15.000 Euro für die Opfer – irgendwie unangemessen. 150.000 Euro – das wäre eine Wiedergutmachung.

Vorher: Ein umsichtiges Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Die Strafzeitanzeige kommt bei fünf Jahren, sechs Monaten zum Stillstand. Die Nebenklage fordert acht Jahre. Was, wenn sie alle nicht nur Jahre und Monate auflisten – was, wenn auch in Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden genannt werden müssten? Staatsanwaltschaft und Nebenklage fordern den Haftbefehl. Der Angeklagte kannsoll nicht nach dem Urteil heimgehen dürfen. Fluchtgefahr. Ach ja? Wohin wird einer fliehen, für den der Hof sein Kosmos ist, einer, der mit 26 die erste Freundin hatte? Einer, der – längst müsste das allen klar sein – sich nicht erklären kann, kann nur nachhause fliehen, in die vermeintliche Sicherheit des Alltäglichen.

Am Ende ein Verteidiger, der auf dem schmalen Grat, der bleibt, wenn eine solche Tat zu verteidigen ist, auf dem Vulkan tanzt, ohne Rauch heraufzubeschwören. Er ist einer von denen, dessen Nummer man speichern sollte. Wenn es schlecht läuft im eigenen Leben und man jemanden braucht, der ins Inferno reist, um hilfreich zu sein, sollte man ihn anrufen.

Längst ist alles zum Chaos geworden: Alle haben Recht. In ihrer Welt. Man wartet auf die heilende Kraft des Gerichts. Natürlich wartet hinten im Saal kein geeintes Volk auf das Urteil. Vier Jahre, sechs Monate. Kein Haftbefehl. Besonders schwere räuberische Erpressung. Zweimal schwere Körperverletzung. Es lässt sich nicht beweisen, dass der Täter, als er die Frau angriff, eine Tötungsabsicht hatte. Später – beim zweiten Angriff  – hat er sie gehabt. Davon geht die Kammer aus. Aber es gab den Punkt, an dem der Täter freiwillig seinen Tötungsplan aufgegeben hat. [Schläft ein Lied in allen Dingen.] Strafbefreiender Rücktritt. [Triffst du nur das Zauberwort.] Es kann kein versuchter Mord angeklagt und bestraft werden. Da war dieses Halten.

Strafegesetzbuch, Paragraph 24: Wegen Versuchs wird nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. Wird die Tat ohne Zutun des Zurücktretenden nicht vollendet, so wird er straflos, wenn er sich freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern.

Längst hat man aufgegeben, all diese Welten im eigenen Kopf zu einer zu montieren. Man hat ein weises Urteil gehört. Man wünscht sich, dass Heilung beginnen kann und ahnt, dass binnen Wochenfrist Rechtsmittel eingelegt werden. Es ist nicht vorbei. Es wird wieder einen Funken geben. Wieder einmal sind fast alle Opfer. Opfer der Ohmmacht. Opfer der Vergeltung. Opfer der Worte. Opfer der Taten. Alle tauchen zurück ins Nichts.

Annette von Droste-Hüslhoff

Das Wort

Das Wort gleicht dem beschwingten Pfeil,
Und ist es einmal deinem Bogen
In Tändeln oder Ernst entflogen,
Erschrecken muß dich seine Eil‘.

Dem Körnlein gleicht es, deiner Hand
Entschlüpft; wer mag es wiederfinden?
Und dennoch wuchert’s in den Gründen
Und treibt die Wurzeln durch das Land.
 
Gleicht dem verlornen Funken, der
Vielleicht verlischt am feuchten Tage,
Vielleicht am milden glimmt im Hage,
Am dürren schwillt zum Flammenmeer.
 
Und Worte sind es doch, die einst
So schwer in deine Schale fallen:
Ist keins ein nichtiges von allen,
Um jedes hoffst du oder weinst.
 
O, einen Strahl der Himmelsau,
Mein Gott, dem Zagenden und Blinden!
Wie soll er Ziel und Acker finden?
Wie Lüfte messen und den Tau?
 
Allmächt’ger, der das Wort geschenkt,
Doch seine Zukunft uns verhalten,
Woll‘ selber deiner Gabe walten,
Durch deinen Hauch sei sie gelenkt!
 
Richte den Pfeil dem Ziele zu,
Nähre das Körnlein schlummertrunken!
Erstick ihn oder fach den Funken!
Denn, was da frommt, das weißt nur du.