Kaffeebar

Eucharistie in der Kaffeekathedrale

Introitus

Der Laden öffnet um 7 Uhr. Geschlossen wird um 19 Uhr. Anfangs — in den ersten beiden Jahren — stand Willi schon 6 Uhr morgens hinter der Theke. Jetzt hat er den Service-Wahnsinn reduziert. Samstags ist „Ruhetag“ — da wird erst um 10 geöffnet, und um 16 Uhr ist Schicht. Laut Plan. Aber wenn Willi früher da ist, stehlen sich um halb zehn die ersten Kaffee-Junkies in die Bar.

Kyrie

Willi ist die Bar, und die Bar ist Willi. Es geht nicht ohne ihn. Der Laden ohne Willi, das wäre wie Columbo ohne Peter Falk — wie Don Camillo ohne Fernandel. Willi ist also der Fernandel der Kaffeeszene und als er vor vier Jahren den Laden eröffnete, hätte keiner einen Cent auf ihn gesetzt. Allein die Einrichtung: Tiffany und deutsche Eiche — ein Vertreterasyl mit eigenem Stammtisch-Schild. Später kam noch die Toto-Tafel dazu. Fußballpunkte werden angeschrieben. Es geht nicht provinzieller — aber es geht eben auch nicht fortschrittlicher. Willis wohl dosierte Mischung aus Chaos, Bürgerlichkeit  und Nonkonformismus ist unkopierbar.

Gloria

Wer wissen will, was läuft in der Stadt, kann bei Willi klüger werden. Zeitungen liegen aus. Nicht irgendwas. Le Monde. Die Zeit. Wer BILD lesen will, muss selbst dafür sorgen. Die Entsorgung nach dem Lesen funktioniert dann automatisch. Wo andernorts CD-Spieler für akustische Durchspülung der Räumlichkeiten sorgen, finden sich bei Willi  Tonbandgerät und Plattenspieler. Neben der Registrierkasse steht die Amelandbox — ein Keramik-Kaffeesack in schlichtem Gelsenkirchener Barock. Hier werden Kleingeldallergiker und Gutmenschen zu Urlaubsstiftern, und wenn das Kleingeld im Keramiksack hörbar wird (Willis Preise lassen immer Restmengen), ringt Willi sich zu einem „Ameland dankt“ durch — unmittelbar gefolgt von der für Gäste allen Ansehens gleich gültigen Abschiedsformel: „Fahr vorsichtig“, die Willi jedem Gast, also auch Fußgängern, als finale Verhaltensregel und „Ite missa est“ mit auf den Weg ins feindliche Leben gibt.

Willi hat sein Geld früher in den Oberetagen der Reise-Pharmazie verdient. Auf die Gesundheitsmafia nebst Apothekern ist er längst  schlecht zu sprechen. „Denen müsste mal einer das Handwerk legen.“ Maßanzug und Laptoptasche hat er gegen Räuberzivil und Kaffeemaschine getauscht.

Credo

Willi ist der geborene Geschäftsmann, der es sich mit keinem seiner Kunden verdirbt, der immer reichlich klagt und dessen Jahresurlaub im letzten Jahr wieder mal auf den Pfingstmontag fiel. Willi ist im Nebenberuf Leser. Bisweilen empfiehlt er ein Buch oder spricht den Bann über ein anderes.

Willis Kundschaft teilt sich in Schichten, die sich untereinander meist nicht kennen. Da ist die Frühschicht (7 bis 10 Uhr) — dann kommt die Mittagsschicht, und schließlich folgen die Nachmittagsleute. Versuche, die Klientel zusammenzubringen, versickerten ähnlich wie anfängliche Ausflüge in kulturelle Veranstaltungen auf der Ebene von Autoren-Lesungen oder Jazz-Konzerten. Ein Zweigstelle musste nach einjähriger Versuchsphase geschlossen werden. Analyse: Willi kann nur an einem Ort sein. Die Willi- Philosophie lässt keine Ableger zu.

Jetzt präsentiert Willi bisweilen Kundenkunst im Wechselrahmen oder vermittelt im Bedarfsfall Portraitmaler. Wichtiger Ambientefaktor ist die Chaoswand mit Kundenurlaubsgrüßen oder Kassenbons der weltweiten Konkurrenz. Höhepunkte der Chaoswand sind das Schreiben vom Patentamt, das Willi den Namen seiner Kaffeebude schützt sowie eine Anfrage von Coca-Cola bezüglich der Übernahme eben jenes Namens, den Willi und die seinen sich vor der Gründung des Kaffee-Institutes haben einfallen (und dann gleich schützen) lassen. Willi hat nicht verkauft. Der Preis stimmte nicht. Willi erzählt seine Cola-Geschichte nicht ohne den Stolz des Kleinen, der es dem Großen mal richtig gegeben hat.

Sanctus

Längst trifft der Name Kaffeebar nicht mehr die fundamentale Bandbreite des geistig-seelisch-körperlichen Angebotes an Dienstleistungen, die sich von unzähligen Kaffeemixturen (Pater Brown, Clockwork Orange, Fargo, Pascha, Steinmetz — um nur einige zu nennen) über Sandwiches und Schokomuffins bis hin zu Andeutungen von Mittagsmenus (Bratkartoffeln mit Spiegelei und Rote Beete) erstrecken. Als Majestätsbeleidigung wird eine unqualifizierte Bestellung nach dem Motto „Tu ma‘n Kaffee!“ empfunden.

Bernd ist einer von der Frühschicht. Jeden Morgen kommt der 1,89 Mann in seinem Smart vorgefahren, steuert den Stammtisch an und hält seine tägliche Vorlesung. Nichts, was Bernd nicht erklären könnte. Er weiß mit Aktien Bescheid, analysiert alles, was in der Politik abgeht und spricht vor allem gern über die Dinge, die er noch am Vortag auf dem Feld der Ahnungslosigkeit gesucht hätte. Er kennt einen, der ist Mitglied im Stadtrat. Das ist fast, als wärst du selber mit dabei, und das ist dann fast wie Bürgermeister. Seine Cousine betreibt ein Sonnenstudio, Bernd die kleine Werbeagentur — nicht immer mit Schlips, aber niemals ohne Kragen.

Benedictus

Der Frühschicht am Stammtisch ist eines klar: „Wir steuern auf den Abgrund zu.“ Die Katastrophe rückt unaufhaltsam näher. Eigentlich ist sie längst eingetreten. „Das liegt daran, dass jeder nur noch an sich denkt und nur den eigenen Vorteil im Blick hat. Das kann nicht funktionieren. Das sieht man schon am Fußball.“ Krieg und Frieden im Stammtischareal: „Und wenn Holland erst die Bombe hat, müssen wir uns um nix mehr Sorgen machen.“

Willi dosiert seine Zustimmung nach dem Anwesenheitsprofil der Stammkundschaft. Sind bestimmte Leute da, stimmt er der Stammtischfraktion zu oder gibt Kontra. Dezent aber bemerkbar. Im falschen Moment den falschen Leuten zuzustimmen ist geschäftsschädigend. Manche Stammtischvorlesung kommentiert Willi mit einem viel sagenden aber nichts verderbenden Seufzerblick. Die Willi-Mission: Mit Erfolg überleben. Irgendwann die Bude zumachen und ab nach Bulgarien. Oder war es Slowenien? Egal. Hauptsache Griechenland. Dann nichts mehr tun außer lesen, Ruhe bewahren und vierzehn Stunden Schlaf am Stück. Aber vorher kommt ja die Katastrophe. Sagt Bernd.

Agnus Dei

Zum Willi-Kunden muss man geboren sein. Wer das nicht ist, kommt einmal und nie wieder. Längst ist Willis Kaffeebar (Alkohol hat es nie gegeben) eine Art von Salon, und der tägliche Schnack mit dem Meister eine Art Hochamt des überlebenswichtigen Allerlei.

Mit der Einnahme des Wahlproduktes aus der Heißgetränkepalette beginnt die Eucharistie in der Kaffeekathedrale. Dann findet Wandlung statt, und selbst harte Männer werden zu aufgeregten Klatschtanten, die ihrem Beichtvater zuarbeiten. Willi würde als Frisör ein Vermögen machen und als Seelsorger für geistliche Masseneuphorie sorgen, aber er zieht es vor, als Kaffeemissionar an der Armutsgrenze den täglichen Kampf mit den Behörden aufzunehmen, die aus einer potentiellen Goldgrube mittels übertriebener Steuern einen kaffekaesken Galeerenbetrieb machen, der nur zum Wohl der Kundschaft weiter besteht, was letztere allerdings leider nicht ausreichend zu würdigen imstande ist.

Zwei Jahre hatte Willi das Rabattmarken-System. Zuerst gab’s nach jedem 10. Kaffee ein Freigetränk. Dann wurde aufgestockt auf 14. Als Willis Kundenpool stand, wurde der Rabatt abgeschafft. „Der Steuerberater will das so.“

Für Willi ist der Laden sein höchstpersönliches Panoptikum. Andere müssen in den Zoo oder in die Geisterbahn. Willi lässt die Seinen zu sich kommen. Nur Kino ist (manchmal vielleicht) schöner. Bei Willi verkehrt der Querschnitt. Durchschnitt ist woanders.

Ite Missa est

Manchmal allerdings nervt die Kundschaft. Willi ist längst so weit, dass er sich das anmerken lassen darf. Manche werden geduzt — zu anderen verdeutlicht ein freundliches ‚Sie’ Reste von ideologischem Abstand. Neuerdings empfiehlt Willi Harry Frankfurters Bullshit-Traktat. Das wird gehandelt wie ein Akt der ritualen Selbstreinigung. Es gibt einen Unterschied zwischen Bullshit und Lüge. Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben.

Willis Kaffeebartage bestehen aus dem zwangsweisen Mitanhören von Bullshit, den er im Lauf der Zeit durch emotional-geistige Biegsamkeit zu ertragen gelernt hat. Der Unterschied zwischen geschäftsfördernder Fassade und dem echten Willi ist dabei über die Jahre allerdings nur scheinbar verloren gegangen, was aber in Wirklichkeit nur Teil der Arbeit an der Aufrechterhaltung des Gesamtkunstwerks Willi ist.

Es gibt Familie hinter dem Willi-Tresen — Satelliten allesamt. Sie verhelfen zur Schwerkraft, wären aber ohne das Epizentrum Willi nur Sternschnuppen im Kaffeekosmos. Willis Philosophie ist unkopierbar. Jeder, der sich daran versucht, muss hier, zwischen Tiffany und Eichenstammtisch, zwangsläufig scheitern. Willi ist ein bisschen Kaffeebarpotentat auf Handke-Basis, ein bisschen Beichtvater, ein bisschen Therapeut mit Koffein-Grundlage und ein bisschen Selbstdarsteller auf dem Weg zum Original. Auch Beschimpfung gehört zum Geschäft, aber alles Leben endet an der Registrierkasse. „Ameland dankt.“ Und: „Fahr vorsichtig!“

Willi