Seilende

Letzte Chance — vielleicht

Jeder hat gewusst, was ihn erwartet. Alle sind freiwillig hier. Zwei sind im letzten Augenblick ausgestiegen. Für die, die jetzt dabei sind, geht es darum, eine Chance zu nutzen.Vielleicht die letzte ...

Alle, die beim YAR-Projekt mitmachen, haben sich an feste Regeln zu halten. Das haben sie versprochen. 22  niederländische Jugendliche — rund 45 Betreuer (mehr als die Hälfte von ihnen ehrenamtlich): Das Zahlenverhältnis spricht eine deutliche Sprache. Hier geht es nicht um Kindergeburtstag oder Klassenausflug. Hier geht es darum, der eigenen Existenz eine Wende zu geben. Wer hier teilnimmt, gehört im Leben nicht zu den Gewinnern. Ein Gewinn ist allerdings die Möglichkeit der Teilnahme, denn alle, die hier mitmachen (dürfen), sind handverlesen. (YAR steht übrigens für Youth At Risk, was so viel bedeutet wie: Jugend in Gefahr.)

Eine andere Tonart

Die Projektwoche allerdings ist alles andere als ein Zuckerschlecken. So wird in der täglichen 'Courtroom Session' (Gerichtssaaltreffen) zwar eingangs darüber gesprochen, wer beim morgendlichen Waldlauf seine Zeit verbessert hat, es wird darüber gesprochen, worüber sich die Jugendlichen am Morgen unterhalten haben, es wird applaudiert für die, die ihre Leistungen verbessert haben, aber dann schaltet Moderator André in eine andere Tonart.

Der Raum, in dem die Courtroom-Session stattfindet, erinnert eher ein bisschen an ein Klassenzimmer, ein Klassenzimmer allerdings mit 'Wachtposten'. Alles hier (und nicht nur hier) wird beobachtet. Durch die Reihen wandern beständig die 'Aufseher'. Alles ist unter Kontrolle, und ein bisschen fühlt man sich wie bei einer Neujahrsparty im Todestrakt.

Jetzt ist Wout an der Reihe. Er hat sich nicht an die Regeln gehalten. Regeln — das kann hier viel bedeuten. Alle haben ihr Namensschild ständig zu tragen. Niemand darf (draußen oder drinnen) in Bereiche, die mit rotweißem Flatterband abgesperrt sind. Wouts Vergehen: Er hat sein Namensschild nicht getragen. 

"Pech für dich!"

Moderator André bekommt die Informationen über alle Vergehen von den Aufsehern. Sie reichen ihm Zettel. "Hast du heute eine Regel übertreten?" will André von Wout wissen. "Nein, habe ich nicht", kommt die Antwort. "Halt dein Mikrofon näher an den Mund. Alle sollen dich hören", befiehlt André. "Du sagst, du hast dich an alles gehalten. Ich höre aber, dass du dein Namensschild nicht getragen hast. Ist das richtig?" Wout gibt sein 'Versehen' zu und sucht gleich nach einer Entschuldigung. Er konnte das Schild nicht finden. Irgendwie wusste er auch gar nicht mehr, dass er es tragen muss. 

"Ist Unwissenheit eine Entschuldigung?" will André wissen. Wout schweigt trotzig. "Okay, ich erschieße dich. Ich weiß nicht, dass das verboten ist. Pech für dich." André lacht zynisch. "Du hast also vergessen, dass du das Schild tragen musst. Ist dein Gedächtnis so schlecht, oder interessiert es dich einfach einen Scheiß, was wir von dir wollen? Not funny!" Zuerst versucht Wout noch, den starken Mann zu spielen. Schließlich gibt er auf. Nein, niemand außer ihm selbst ist für den Fehler verantwortlich. André schickt ihn zu einem der Betreuer. Der wird ihn mit den Konsequenzen des 'Versehens' vertraut machen.

Konsequenzen — das kann im günstigsten Fall bedeuten: Seminarraum aufräumen. Die Sache mit dem Namensschild zählt zu den kleinen Vergehen. Bei größeren Verstößen droht Latrinendienst. Das Klo putzt niemand gern, auch Wim nicht. 

Die Klo-Rolle

Wim hat Thon ein Feuerzeug abgenommen. André ist bestens informiert: "Jan hat dir befohlen, ihm das Feuerzeug zu geben. Du hast dich geweigert. Du hast es später Antje gegeben. Was soll der Scheiß? Wenn wir dir sagen: 'Gib Jan das Feuerzeug!', kannst du es nicht Anja geben. Hast du vielleicht irgendwas nicht richtig verstanden?" Andrés Ton ist gnadenlos. Sein Blick auch. Noch begreift Wim nicht, dass er sich dem Ende der Fahnenstange nähert. Ja, er hat versucht, sich an die Regeln zu halten, aber es ist eben einfach so passiert. Ständig bringen die Betreuer neue Zettel. Jeder Zettel eine Regelverletzung. Für den noch immer süffisant lächelnden Wim wird es langsam eng.

Andrés Ton hat mittlerweile die Schärfe eines Rasiermessers. Was hat Wim zu bieten? Er will versuchen, es besser zu machen. Jetzt wird André zynisch. Er hält Wim auf der flachen Hand einen Filzstift hin. "Versuch doch mal, den zu greifen", befiehlt er. Wim greift nach dem Stift; André reißt die Hand weg. "Du sollst den Stift nicht greifen — du sollst versuchen, ihn zu greifen. Los: Versuch ihn zu greifen!" Wim steht jetzt wie einbetoniert — regungslos. "Du sollst versuchen, ihn zu greifen", wiederholt André und lässt den Stift fallen, "aber du stehst nur da und tust nichts. Was soll das?!" Langsam dämmert es Wim. André hilft nach: "Du kannst es nicht versuchen, du musst das durchziehen. Kapiert?"  Wim nickt. Er muss es durchziehen, sonst kann er sich weghängen. Er muss damit anfangen. "Was willst du also tun?" will André wissen. „Ich hoffe, dass ich mich ändern kann."

Chia macht keine Gefangenen

Wims letzter Satz ist Chias Startsignal. Chia ist eine der professionellen Aufseherinnen. Sie ist Amerikanerin, Indianerin, klein, fett, resolut und der Typ 'Gefängniswärter in Süd-Texas'. Chia macht keine Gefangenen. "You know what?" brüllt sie in Wims Richtung und André übersetzt: "Soll ich dir mal was sagen?" Chia fährt fort: "Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede. Du sagst, du hoffst, dass du dich besserst. Und weißt du was: Ich hoffe jeden Abend, dass ich im Schlaf 20 Kilo abnehme. Morgens werde ich dann wach und bin genau so schneckenfett wie am Tag davor. Ich hoffe jedes Mal, wenn ich zur Bank gehe, dass jemand mir 20.000 Dollar überwiesen hat. And you know what? Nichts davon passiert. Du hältst dich an keine Regeln und du glaubst, du seist der Größte. Hör' auf mit dem Scheiß.“

Es ist totenstill im Gerichtssaal. Wim ist das Lächeln längst irgendwo in den Hals gerutscht, und da ist es stecken geblieben. Er ist ratlos. Jetzt ist es soweit: Er bekommt die Klo-Rolle. Scheißhausputzen. Zwei Tage. Morgens. Mittags. Abends. Verlängerung nicht ausgeschlossen. "Don't hope for a change. Change!" Wim wird abgeführt.

Nein — das hier ist kein Ferienlager. Das hier ist die Strafkolinie. André nimmt sich die nächsten Wortbrüchigen vor. Kaum einer, der es schafft, sich anfangs an alle Regeln zu halten. Nachmittags werden die Jugendlichen in kleinen Gruppen zusammensitzen und bei gedämpften Licht über ihr Leben reden. Manche werden nicht weit kommen mit dem Erzählen. Sie werden mit tränenerstickter Stimme ins Stocken geraten. Ihr Leben ist nichts wert: Geprügelt, missbraucht. Sie sind Opfertäter und Täteropfer. Und: Sie sind am Ende. Mit sechzehn. Aber: Sie wollen raus. Raus aus einem beschissenen Leben. 

Auf dem Flur haben die Betreuer zusammen mit den Jugendlichen Schilder bemalt. Auf einem der Schilder steht: "Wenn du wirklich etwas Neues entdecken möchtest, reicht es nicht, ein neues Land zu suchen. Du musst mit anderen Augen sehen." (Marcel Proust)

Freiheit ist eine Frage der Grenzen

Denise ist eine der Betreuerinnen. "Natürlich ist das hier hart", erklärt die Afro-Amerikanerin mit der Rasta Frisur, "aber die Erfolge des Programms können sich sehen lassen. Wir versuchen hier ein Trainer-Spieler-Verhältnis aufzubauen.Wir erklären den Jugendlichen, dass sie — im Leben und im Spiel — nur dann Erfolg haben werden, wenn sie sich an die Regeln halten. Wir arbeiten hier nicht mit dem Prinzip 'Machst du Fehler, kriegst du Prügel'. Wir geben Erklärungen. Wir stellen Fragen. Wir machen den Kids klar, dass Konsequenzen immer das Ergebnis von etwas sind, das vorher passiert ist. Wir versuchen den Kids zu erklären, dass Freiheit eine Frage von klaren Grenzen ist. Erst dann, wenn Regeln und Grenzen existieren, wird Freiheit möglich. Und es ist erstaunlich, was im Lauf einer Woche passiert. Das glaubst du nicht, wenn du es nicht selbst erlebt hast.“

Morgen werden sie im Wald auf ein sieben Meter hohes Drahtseil klettern, das zwischen zwei Bäumen gespannt ist. In Zweierteams werden sie hochsteigen und auf zwei parallel laufenden Seilen versuchen, von einem Baum zum anderen zu gelangen. Als Stütze werden sie nur ihren Partner haben. Natürlich werden sie angeseilt sein. Natürlich kann nichts passieren. Aber die Angst wird stärker sein als die Rettungsleine. "Trotzdem", sagt Henk, einer der Trainer, "werden sie alle nach oben klettern. Sie werden alle über sich hinauswachsen. Und sie werden alle am Ende den frenetischen Beifall der anderen hören und ein Stück wachsen."

Proust




Heiner Frost
Erstellt: 18.03.2007, letzte Änderung: 18.03.2007